Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

58. Inter­na­tio­nale Kunst­aus­stel­lung in Venedig: Gol­dener Löwe an Litauen

“May You Live in Inte­res­ting Times” lautet der Titel der 58. Kunst-Bien­nale in Venedig, die am 11. Mai 2019 eröffnet wurde und noch bis 24. November läuft. Sie ist eine der wich­tigsten und gleich­zeitig ältesten Kunst­aus­stel­lungen welt­weit (Grün­dungs­jahr: 1895). Der dies­jäh­rige US-ame­ri­ka­ni­sche Kurator Ralph Rugoff, Leiter der Hay­ward Galerie in London, lud 79 zeit­ge­nös­si­sche inter­na­tio­nale Künstler_innen ein, ihre mul­ti­me­dialen Kunst­werke in den Haupt­aus­stel­lungs­orten der Bien­nale – dem Arse­nale und den Giar­dini – zu prä­sen­tieren. “novinki” war vor Ort.

 

Die Aus­stel­lung wird zum ersten Mal „ver­dop­pelt“. Ralph Rugoff nennt die Haupt­aus­stel­lungs­orte „Pro­po­si­tion A“ (im Arse­nale) und „Pro­po­si­tion B“ (im Haupt­pa­villon der Giar­dini) und prä­sen­tiert an beiden Orten jeweils Arbeiten der­selben Künstler_innen. Die daraus resul­tie­renden Kor­re­spon­denzen lassen die Spe­zifik der Themen, die Zusam­men­hänge, aber auch die Mul­ti­di­men­sio­na­lität der zeit­ge­nös­si­schen Kunst stärker her­vor­treten. In Bezug auf den heu­tigen, zuneh­mend pola­ri­sie­renden öffent­li­chen Dis­kurs ist es eine span­nende Auswahl.

 

Die 58. Bien­nale schlägt diesmal kein bestimmtes Thema vor, son­dern hat den Anspruch, frei von Kon­zep­tionen jeder Art, die Künstler_innen und das Publikum zum gemein­samen Nach­denken sowie zum Dialog und Han­deln her­aus­zu­for­dern. Der Titel May You Live in Inte­res­ting Times kann, so Bien­nale-Prä­si­dent Paolo Bar­atta, im Sinne der Umbruchs­zeit unserer Gegen­wart ver­standen werden – jener post-truth-Ära, die von Angst, Kon­for­mismus und Abhän­gig­keiten geprägt ist. Die ein­ge­la­denen Künstler_innen (zum ersten Mal etwa die Hälfte davon Frauen und Künstler_innen aus dem nicht-west­li­chen Raum) schaffen mit ihren Arbeiten viel­stim­mige, manchmal wider­sprüch­liche und oft alter­na­tive Per­spek­tiven auf das Welt­ge­schehen und seine Wahr­neh­mung. Unter­hal­tung steht dabei spie­le­risch neben kri­ti­schem Denken; das Dekon­stru­ieren und Deco­dieren sind der Kunst­aus­stel­lung zugrun­de­lie­gende Fak­toren, die laut Rugoff dazu bei­tragen sollen, die Auf­gabe der Kunst als sol­cher, ihre soziale Funk­tion sowie schließ­lich auch die Posi­tion des Künst­lers zu über­denken, viel­leicht sogar neu zu konzeptualisieren.

 

Die künst­le­ri­schen Arbeiten auf der Bien­nale wirken dieses Jahr apo­ka­lyp­tisch. Kli­ma­er­wär­mung, Migra­tion, Fake News, poli­ti­sche Umbrüche, Glo­ba­li­sie­rung und Daten-Mani­pu­la­tion sind jene Themen, die sich her­aus­kris­tal­li­sieren. Für großes Auf­sehen sorgt der Schweizer Künstler Chris­toph Büchel mit seinem Kunst­werk Barca Nostra: Auf dem Gelände des ehe­ma­ligen Mili­tär­ha­fens des Arse­nale ließ er jenes Boot auf­stellen, das im Jahr 2015 mit hun­derten von Flücht­lingen im Mit­tel­meer gesunken war. Im Haupt­pa­villon der Giar­dini unter dem Titel Can’t Help Myself wie­derum ist der Rie­sen­ro­boter der Pekinger Künstler Sun Yuan und Peng Yu ein echter Hin­gu­cker: Hinter einer Glasbox, mit 32 ver­schie­denen Bewe­gungen prä­zise pro­gram­miert, ver­sucht der Roboter eine blut­rote Flüs­sig­keit, die ihm immer wieder ent­gleitet, mit seinem rie­sigen Bag­gerarm an sich heran zu ‚wischen‘.

 

Aber nicht nur das Groß­for­ma­tige sorgt für erhöhte Auf­merk­sam­keit: So findet frau etwa im Schweizer Pavillon, bespielt von den in Berlin lebenden Künstler_innen Pau­line Bobdry und Renate Lorenz, scharf­kan­tige Refle­xionen über Geschlechts­iden­tität und die regres­siven Ten­denzen der gegen­wär­tigen Politik. Moving Back­wards heißt die Video­in­stal­la­tion mit fünf Performer_innen, die durch post­mo­derne Cho­reo­gra­fien, ent­nom­mene Ele­mente von Under­ground- und Drag-Per­for­mance oder kur­di­sche Gue­ril­la­tech­niken den heu­tigen poli­ti­schen Back­lash und Kate­go­ri­sie­rungs­pro­zesse in einem dezenten Tanz wider­zu­spie­geln versuchen.

 

Zwi­schen über­di­men­sio­nalen Ready-mades, inter­tex­tu­eller (wie inter­me­dialer) Kom­ple­xität und dis­kurs­ana­ly­ti­schen Stra­te­gien bewegen sich auch die Arbeiten aus Mittel- und Ost­eu­ropa, wobei die viel­leicht span­nendste, weil strittig-kon­tro­verse Kunst in den Län­der­pa­vil­lons von Polen, Russ­land und der Repu­blik Kosovo zu finden ist – sowie zwei­fellos im litaui­schen „Gewinner“-Pavillon. Die Begeg­nung zwi­schen Mensch und Groß­ob­jekt pro­vo­ziert der pol­ni­sche Künstler Roman Stańczak. Er zer­legt mit seiner Skulptur Flight einen Luxusjet (den er frei­lich als All­tags­ob­jekt betrachtet) und setzt die Innen­teile inklu­sive Cockpit und Pas­sa­gier­sessel nach außen, wäh­rend die Flügel ins Innere wan­dern. Dabei ent­steht ein beein­dru­ckender Effekt — das Flug­zeug als Symbol des Fort­schritts steht quasi gelähmt und nutzlos im Raum und wird zum Index einer „ver­kehrten“ Welt. Für Stańczak frei­lich steht der Häu­tungsakt der Maschine auch als Sieg des Uni­ver­sellen über die Materie.+

 

Der pol­ni­sche Künstler Roman Stańczak zer­legt mit seiner Skulptur Flight einen Luxusjet. © Jeva Griskjane

 

Aus­rei­chend Spi­ri­tua­lität findet sich auch im rus­si­schen Pavillon, der diesmal vom berühmten Sankt Peters­burger Museum Ere­mi­tage kura­tiert wurde. Es ist das erste Mal über­haupt, dass ein Pavillon der Bien­nale von einer staat­li­chen Insti­tu­tion geleitet wird. Die von Film­re­gis­seur Alek­sandr Sokurov und Künstler Alek­sandr Šiškin-Cho­kusaj ent­wor­fene mul­ti­me­diale Instal­la­tion mit dem Titel Lc.15:11–32 basiert auf Rem­brandts Gemälde Die Rück­kehr des ver­lo­renen Sohnes. Auf zwei Ebenen lassen sich hier christ­liche Motive auf­neh­mende Skulp­turen, eine Video­in­stal­la­tion zum Kriegs­treiben sowie diverse flä­misch inspi­rierte Gen­re­ma­le­reien mit fins­teren Sujets finden. Der Pavillon erzeugt in seinen dunklen schwarz-roten Farben ein bedrü­ckendes und düs­teres Ambi­ente und evo­ziert die Vor­stel­lung einer Hölle. Für Russ­land-Exper­t_innen nicht ganz uner­wartet wirkt er etwas prä­ten­tiös und über­dra­ma­tisch. Man wünschte sich eine etwas weniger pathos­ge­tränkte Ästhetik, viel­leicht auch neue, nicht nur pro­mi­nente Künstler_innennamen. Das würde der Band­breite der künst­le­ri­schen Mög­lich­keiten, die Apo­ka­lypse zum Aus­druck zu bringen, besser gerecht.

 

Die von Film­re­gis­seur Alek­sandr Sokurov und Künstler Alek­sandr Šiškin-Cho­kusaj ent­wor­fene mul­ti­me­diale Instal­la­tion mit dem Titel Lc.15:11–32 basiert auf Rem­brandts Gemälde “Die Rück­kehr des ver­lo­renen Sohnes”. © Bar­bara Wurm

 

 

Von schlichter Sach­lich­keit ist die Instal­la­tion „Family Album“ von Alban Muja im Pavillon der Repu­blik Kosovo— eine sehr per­sön­liche Annä­he­rung an das kol­lektiv-mediale Erin­nern in Kri­sen­zeiten. Basie­rend auf den welt­weit ver­öf­fent­lichten Fotos von Flücht­lings­kin­dern, die wäh­rend des Kosovo-Kriegs (1998–1999) ent­standen, zeigt der Künstler zwanzig Jahre später in seinen Video­ar­beiten vier nun erwach­sene Men­schen, die über die Reprä­sen­ta­tion und das Wirken der Bilder in Bezug auf Geschichts­schrei­bung und Iden­ti­täts­bil­dung anhand eigener Erfah­rungen und Erleb­nisse nachdenken.

 

Der Haupt­preis der 58. Kunst-Bien­nale für den besten natio­nalen Bei­trag ging dieses Jahr an Litauen: Für die Opern-Per­for­mance Sun & Sea (Marina) ver­wan­delten die drei Künst­le­rinnen Rugilė Barz­dži­ukaitė, Vaiva Grai­nytė und Lina Lape­lytė das ehe­ma­lige Mari­n­ege­bäude in einen Strand. Das dor­tige Treiben nehmen die meisten Zuschauer_innen von oben wahr: Von der Empore aus blickt man mehr oder weniger voy­eu­ris­tisch hinab auf die vielen Arten des som­mer­li­chen Zeit­ver­treibs. Frei­wil­lige können aber auch unten auf dem künst­li­chen Sand im Bikini mit­ma­chen: Gemeinsam mit den Performer_innen, die nebenbei eine mehr­stün­dige sto­isch-schön anmu­tende Oper singen, sonnen sie sich, spielen mit Hund, Handy oder Feder­ball, lesen Zei­tung oder Bücher und essen Eis. Die Arien und Rezi­ta­tive – das Libretto ist hier nach­zu­lesen – han­deln nicht zuletzt von der Ver­gäng­lich­keit der Welt. Sun & Sea (Marina) ist eine krea­tive Refle­xion über unsere heu­tige Lebens­weise, in der Hedo­nismus, Frei­zeit­konsum und schein­bare Sinn­lo­sig­keit neben­ein­an­der­stehen und sich all­mäh­lich mensch­liche Igno­ranz und der Gedanke von Umwelt­zer­stö­rung in die Unbe­schwert­heit des Lebens auf dem Bade­tuch ein­schlei­chen. Die Opern­per­for­mance macht das Stöhnen der Erde dar­unter spürbar.

 

 

 

Für die Opern-Per­for­mance Sun & Sea (Marina) ver­wan­delten die drei Künst­le­rinnen Rugilė Barz­dži­ukaitė, Vaiva Grai­nytė und Lina Lape­lytė das ehe­ma­lige Mari­n­ege­bäude in einen Strand. © Jeva Griskjane


 

Expli­ziter fällt die Kritik an den bestehenden Ver­hält­nissen im Werk des US-ame­ri­ka­ni­schen Fil­me­ma­chers und Kame­ra­manns Arthur Jafa aus, an den die Jury der 58. Kunst-Bien­nale, geleitet von der Direk­torin des Ber­liner Martin-Gro­pius-Baus Ste­phanie Rosen­thal, den Gol­denen Löwen in der Kate­gorie „Bester Künstler“ vergab. Sein Video The White Album setzt sich in Form von Dis­kurs­col­lagen und Foo­tage-Mon­tagen mit dem Thema Ras­sismus aus­ein­ander. Der US-ame­ri­ka­ni­sche Kon­zept­künstler, Autor und Akti­vist Jimmie Durham bekam den Gol­denen Löwen für sein Lebenswerk.

 

Wie jedes Jahr lohnt die Reise nach Venedig zur Kunst-Bien­nale. Im Mai treffen sich hier Künstler_innen, Kurator_innen, Journalist_innen und Kunst­in­ter­es­sierte aus der ganzen Welt für die Pre­view Days und machen die Stadt zum Ort eines span­nenden Dia­logs über die Dinge der Welt. Ein paar Monate lang bewegt sich dann diese Welt – und die Men­schen bewegen sich mit ihr. Aus May You Live in Inte­res­ting Times wird dann mit­unter auch ein You May Live in Inte­res­ting Times …  – aus Wunsch und Hoff­nung ein Ort der Möglichkeit.