Kateryna Miščenko: Das ist eine interessante Frage, denn vom Majdan ist eigentlich fast gar nichts mehr zu spüren. Natürlich gibt es weiterhin Diskussionen über den Majdan, Jahrestage und Veranstaltungen, und das in unterschiedlichen Formen. Aber jetzt hält der Krieg die öffentliche Aufmerksamkeit in der Ukraine, aber auch international ganz besetzt. Worüber sprechen wir heute? Wir sprechen über den Krieg, über das Kriegsrecht in zehn Regionen der Ukraine. Zum fünften Jahrestag des Beginns der Proteste gab es eine Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung hier in Berlin. Heute – fünf Jahre nach dem Majdan – saß mit Mustafa Nayem eine der zentralen Figuren des Majdan auf dem Podium. Ich fand sehr symbolisch, dass er dort sagte: „We have a martial law.“ – Wir haben Kriegsrecht und das ist die Situation heute. Der Majdan existiert jetzt größtenteils – oder sogar nur noch – in unserer Imagination. Wenn wir in der Realität nicht mehr viele Spuren davon sehen, wenn sich auch im städtischen und im medialen Raum alles verändert hat, dann bleibt nur die Erinnerung… und sehr viele Fragen: Was machen wir jetzt mit dieser Erfahrung von damals? Das ist meiner Meinung nach auch eine Fragestellung, die bei der heutigen Konferenz im Raum steht. In diesem Sinne kann man über den Majdan wirklich nur performativ sprechen: immer wieder eine Version der damaligen Geschehnisse anbieten, die für die heutige gegenrevolutionäre Situation applikabel sein kann. Das ist für mich etwas, das vom Majdan bleiben kann – ich meine kein Reenactment, nicht wieder auf die Straßen zu gehen. Sondern wirklich zu überlegen, was die Stärken waren, was die Substanz dieses Protestes war und ob das heute überhaupt in Anspruch genommen werden kann für eine neue Initiative, für eine neue Gemeinschaft, oder auch für die Reflexion aktueller Ereignisse. Mit diesen Instrumenten kann man unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Allerdings ist das auch eine harte Arbeit, denn wir befinden uns jetzt in einer ganz anderen Konstellation als damals, sowohl global, allgemein europäisch, als auch lokal. Und der Majdan war auch eine Art Grenzlinie. Jemand hat es Ground Zero genannt. Das war wirklich der Ausgangspunkt für eine ganz neue Realität. Eine, in der auch Gewalt nicht mehr so tabuisiert ist wie früher, in der auch der Prozess der Machtübernahme noch schwieriger geworden ist als zuvor. Der Krieg, die Annexion… es ist so viel passiert, dass kein Weg zurück mehr möglich ist. Deswegen haben wir keine andere Wahl, als in die Zukunft zu schauen.
Gleichzeitig gibt es eine gewisse Sakralisierung der Ereignisse des Majdan, auch wenn der Begriff vielleicht zu stark ist – eine versteinerte Auffassung. Für die Zukunft stünden bestenfalls reformistische Narrative bereit, aber nichts, was wirklich emanzipativ klingt oder wirkt. Das ist mein Eindruck. Aber wie gesagt: Wir kommen mit der jüngsten Vergangenheit überhaupt nicht klar. Deshalb glaube ich, die Aufgabe, den Majdan in einem emanzipativen Sinne neu zu interpretieren, wäre etwas sehr Ambitioniertes. Und das ist heute meiner Meinung nach in der Ukraine nicht möglich.