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Ameisen im Bauch

Posted on 3. November 2006 by Anna Burck, Barbara Janisch
Wie in Russland ein neuer literarischer Trend die Mittelschicht das Gruseln lehrt und die Situation junger SchriftstellerInnen heute aussieht. Ein Interview mit Anna Starobinec.

Ein Interview mit Anna Starobinec

 

Anna Starobinec gilt als die einzige Autorin Russlands, die eine belletristische Schreibweise mit dem Genre der Mystery- und Fantasy-Literatur verbindet. Mit ihrem ersten Erzählband, der unter dem Titel Perechodnyj vozrast (Pubertät) 2005 beim Sankt Petersburger Verlag Limbus Press erschienen ist, machte sie sich einen Namen. In diesem Jahr debütierte sie im selben Verlag als Romanautorin mit Ubežišče 3/9 (Asyl 3/9). In ihrer Prosa erzählt sie sowohl vom russischen Alltag als auch von Mythen und mysteriösen Geschichten, die Moskau zu einem Ort unheimlicher Verwandlungen, Revolutionen, Besessenheiten machen. Gleichzeitig richtet sich in ihren Texten der Blick in die intimen Bereiche des Lebens, die Familie, die Beziehungen zu anderen Menschen. In die Wirklichkeitsebene der russischen Alltagswelt mit Vater, Mutter, Kind bricht eine Welt von Cyborgs, Ameisen, Hexen und anderen fantastischen Figuren ein...

 

starobinec_buchIn Ubežišče 3/9 wird die Geschichte einer jungen Frau namens Maša erzählt. Jaša, ihr Kind, hat einen schweren Unfall erlitten. Er befand sich lange Zeit im Koma und erwachte dann als schweigender Autist. Maša, die ihren Sohn in ein Heim für behinderte Kinder gegeben hatte, als er sich noch im Koma befunden hatte, arbeitet seitdem als Fotojournalistin und reist in Europa herum. Nach einigen Jahren verliert sie plötzlich das Gedächtnis und verwandelt sich in einen "unreinen" Mann, einen Obdachlosen, der ständig von jenen Träumen und Ereignissen aus Mašas Leben träumt, die diese lange Zeit verdrängt hatte. Im Traum erscheint ihr eine Märchenwelt, in der sie ihren Sohn trifft. Es stellt sich heraus, dass Mašas Sohn, der einstige Jaša, als Held Vanja zusammen mit dem Zauberer "Gerippe Unsterblich", der Hexe Baba-Jaga, dem Lešij, dem gefährlichen Waldgeist, und anderen "unreinen" Figuren der russischen (und zum Teil deutschen) Volksmythologie in einer Märchenwelt wohnt. Der unreine Mann/Maša stirbt und gerät selbst in diese Welt, kehrt zu dem verlassenen Kind zurück. So auch der verlorene Vater, der ebenfalls einige Zeit eine Verwandlung durchlebt hat. Die "Heimkehr" ins Asyl ist zugleich die letzte Rettung, denn der realen Welt steht ein "sdvig" bevor, eine apokalyptische Verschiebung. Am Ende des Romans, als eben jene Welt endet, vereinigt sich in der Welt der Fantastik, im Asyl, das der Junge eingerichtet hat, im Kreis der Märchenfiguren die Familie.

 

anna-starobinec4 anna-starobinec5Anna Starobinec, geboren 1979, lebt und arbeitet in Moskau. Ihre Texte sind bisher nicht auf Deutsch erschienen. In einem E-Mail-Interview fragten wir Anna Starobinec zur aktuellen Situation junger AutorInnen in Russland und ihrem bisherigen literarischen Schaffen.

 

novinki: Vorab würden wir gern wissen, ob es Fragen an Sie als Schriftstellerin gibt, die Sie überhaupt nicht mögen?

 

Anna Starobinec: Ja, die gibt es. Ich mag es zum Beispiel überhaupt nicht, wenn man mich fragt: "Finden Sie das Leben unheimlich?" (Die Frage kommt ziemlich oft auf...) Oder: "Warum ist Ihre Prosa so düster, wo Sie doch so nett aussehen?" In diesen Fällen komme ich gewöhnlich aus dem Konzept und fühle mich ziemlich dumm.

 

n: In Deutschland sind Sie eine noch unbekannte Schriftstellerin, nicht nur den Lesern, sondern bisher auch noch Verlegern und Literaturwissenschaftlern. Laut Lev Danilkin, einem bekannten russischen Literaturkritiker, gelten Sie in Russland als Vertreterin einer neuen Generation junger, professioneller SchrifstellerInnen. Können Sie Danilkin zustimmen, dass es schwer ist, Ihre russischen literarischen Vorbilder zu bestimmen?

 

S: Ich bin eigentlich nicht ganz einverstanden mit der Behauptung, dass ich überhaupt keinerlei literarische „Wurzeln“ hätte. Der russischen Tradition, wie Sie sie nennen, stehe ich sehr respektvoll gegenüber – gerade Gogol′ hat mich sehr stark beeinflusst. Dazu Bulgakov und, entschuldigen Sie schon die Plattheit, Dostoevskij. Sogar auf sprachlichem Niveau versuche ich nicht gänzlich aus dieser Tradition herausfallen – und auch irgendein Jugendslang erscheint mir nicht ganz das passende Register für Literatur zu sein, und sei sie auch noch so modern. Was meine westlichen „Orientierungspunkte“ betrifft: ich fühle mich dem Schaffen Hoffmanns, Kafkas, Bradburys sehr nah und von den gegenwärtigen Autoren dem Stephen Kings und Neil Gaimans, des Gotikmärchen-Meisters. Übrigens ist Gaimans Roman American Gods einer meiner liebsten, weshalb ich mir in Ubežišče 3/9 einige literarische Anspielungen auf ihn erlaubt habe.

 

n: Erzählen Sie doch bitte einmal, wie Sie Schriftstellerin geworden sind.

 

S: Den Erzählband Perechodnyj vozrast habe ich während einiger Monate geschrieben. Ich habe vorwiegend nachts geschrieben, da ich ein Baby hatte und tagsüber bei einer Zeitschrift arbeitete. Auf die Frage, warum ich zu schreiben begonnen habe, kann ich nicht antworten. Ich habe damit begonnen, und das war's... Ich brauchte das wohl. Möglicherweise war einer der nebensächlichen Gründe dafür der unterschwellige Wunsch, etwas zu schreiben, was ich (als Literaturkritikerin und einfach Leserin) gerne lesen würde – und was ich zwischen den russischen Neuerscheinungen nicht gesehen habe. Horror und Mystery à la Stephen King oder Neil Gaiman ist nicht gerade das meistverbreiteste Genre in unserem Land.

 

n: Wie kam es, dass Ihr Debüt in Form eines Bandes mit einer Novelle und kurzen Erzählungen unter dem Titel Perechodnyj vozrast im Verlag Limbus Press erschien?

 

S: Das ist ganz einfach. Als ich das Manuskript fertig geschrieben hatte, habe ich es an verschiedene Verlage geschickt. Insgesamt sechs wollten es drucken. Die Bedingungen bei Limbus Press haben mich am meisten angesprochen.

 

n: Sie arbeiten (oder arbeiteten) als Journalistin und haben ein Kind. In einem Interview haben Sie erzählt, dass Sie Belletristik nur nachts während zwei oder drei Stunden schreiben konnten, der einzigen Zeit, die frei von beruflichen und mütterlichen Pflichten ist. Hat sich die Situation, in der Sie als Schriftstellerin schreiben, seitdem verändert?

 

S: Die Situation hat sich nicht verändert: Mein Kind ist ein bisschen größer geworden, aber – zum Glück – immer noch da. Ich habe geheiratet – habe aber dadurch noch weniger Freizeit... Die Arbeit habe ich gewechselt (von der Zeitschrift zu einer Zeitung) – aber die neue Arbeit nimmt nicht weniger Zeit in Anspruch als die alte. Leider kann ich die Arbeit als Journalistin nicht aufgeben: die Schriftstellerei bringt in unserem Land nur etwas ein, wenn du Boris Akunin oder Aleksandra Marinina bist. Unser Kind hat natürlich eine Tagesmutter – aber trotzdem schaffe ich katastrophal wenig. Und Ubežišče wurde mit derselben „nächtlichen“ Methode geschrieben wie das erste Buch. Vermutlich habe ich einfach solch eine „nächtliche“ Methode, da kann man nichts mehr machen...

 

n: Sie und Ihre jungen Schriftsteller-Kolleginnen, beispielsweise Anna Kozlova, sind der weibliche Teil der neuen Generation junger russischer SchriftstellerInnen. Interessant ist, dass beim Versuch der Kritik, Ihre Literatur zu charakterisieren, die Bezeichnung „Frauenprosa“ nicht auftaucht, im Unterschied zur Bestimmung der Prosa Petruševskajas, Tolstajas oder Ulickajas durch die zeitgenössische Kritik. Können Sie sich erklären warum das so ist?

 

S: Also diese Frage müsste wohl nicht mir, sondern jenen gestellt werden, die diese „Etiketten“ verteilen. Ich persönlich fühle mich einer „Damenprosa“ nicht nah (und ich mag sie zudem nicht), aber ein tapferer Hemingway wird aus mir wohl auch kaum werden. Ich mag es überhaupt nicht, wenn ein literarischer Text irgendeine Gender-Färbung bekommt. Ich hoffe, dass man das, was ich schreibe, wirklich nicht nach Geschlechtermerkmalen bestimmen kann.

 

n: Ihre Prosa gilt als etwas gänzlich Neues in der russischen Literatur. Was meinen Sie, worin besteht die Eigenart Ihrer Texte?

 

S: Die Eigenart... Diese Frage sollte wohl nicht mir gestellt werden, aber wenn ich sie nun schon beantworte - denke ich, dass die Eigenart darin besteht, dass es ganz zeitgenössische Texte sind, in denen die Verfahren der westlichen Fantastik auf die russische Literatur und Russlands Realien angewendet werden. Dass es also Texte sind, die auf russischem Boden gewachsen, aber mit Kafka und King "geimpft" worden sind. Im Endergebnis kommt wahrscheinlich ein ziemlich ungewöhnlicher Hybride heraus. Außerdem sind es wohl so genannte "kluge" Texte, die für ein bestimmtes intellektuelles Niveau des Lesers ausgelegt sind - was für die russische Fantastik nicht charakteristisch ist.

 

n: Ihre Prosa wird mit Philip Dick, Stephen King, mit David Cronenbergs Filmen verglichen. Ist Ihnen dieser Vergleich sympathisch?

 

S: Ich finde das gut. Was kann denn angenehmer sein, als mit Dick verglichen zu werden (obwohl ich persönlich keine große Verehrerin seines Schaffens bin) oder mit King, anstatt mit Marinina oder Doncova. Aber dass man überhaupt mit niemandem verglichen wird, das gibt es wahrscheinlich gar nicht. Um dem Leser zu erklären, wen er mit diesem oder jenem "Newcomer" vor sich hat, braucht man einen Vergleich - das sage ich als Journalistin.

 

n: Sowohl in allen Ihren Erzählungen, als auch in Ihrer Novelle und Ihrem neuesten Roman gibt es immer zwei Schichten, zwei Realitäten. Einerseits die alltägliche Realität mit den völlig durchschnittlichen Personen, deren Leben ohne nennenswerte Zwischenfälle verläuft, andererseits gibt es dort eine in ihrer Unausweichlichkeit grausame, surrealistische Welt oder, wie in Ubežišče 3/9, eine märchenhafte, fantastische. Alle Personen sind in diese „zweite“ Welt eingebunden, und sie macht ihr Leben zur Hölle, umso mehr, als dass die Figuren durch höhere Mächte und Hindernisse außerstande sind, zwischen den beiden Welten zu kommunizieren. Nehmen wir als Beispiel die Erzählung Perechodnyj vozrast. Hier wird indirekt der Zerfall einer Familie nach der Scheidung der Eltern thematisiert, aber im Vordergrund steht die allmähliche Metamorphose eines 12-jährigen Jungen in einen „Ameisenbau-Menschen“ und die vollkommene Hilflosigkeit, mit der die verzweifelte Mutter den Veränderungen ihres Sohnes zusehen muss. In der Erzählung Sem'ja (Die Familie) wird ein Mann vorgestellt, der in eine Situation gerät, in der er sich plötzlich in „seiner“ Familie wiederfindet. Er kann diese aber nicht als seine eigene akzeptieren, weil sein vorheriges Leben und seine Erinnerungen überhaupt nicht mit der Existenz dieser Menschen übereinstimmen. Sie haben sich für solch eine Struktur entschieden – diese Verflechtung einer alltäglichen Realität und einer surrealen, märchenhaften Welt. Was für eine Rolle spielt hier diese „zweite“ Welt – ist sie die Entfremdung, eine Metapher für die beschriebene Alltagsrealität oder ein rein fantastisches Element, das um des Lesers Schrecken willen und zu seinem Vergnügen verwendet wird und das man nicht entschlüsseln kann?

 

S: Na ja, wahrscheinlich kenne ich persönlich diese Art von Angst: Plötzlich zu merken – ganz in der Tradition David Lynchs – dass "die Eulen überhaupt nicht das sind, was sie zu sein scheinen". Allen Menschen ist Solipsismus eigen, aber dabei fühlen manche doch ein Unbehagen, dass vielleicht hinter deinem Rücken noch irgendjemand / irgendetwas steht. Ich zumindest fühle das. Überhaupt (ich will ja keine Banalitäten aussprechen, aber die Frage zielt darauf) sind diese zwei Welten in meinen Büchern eine entfaltete Metapher unserer Lebenseinstellung und -wahrnehmung. Wir haben einen „vernebelten“ Blick auf die Dinge und auf uns selbst. Wir sind daran gewöhnt, alles als eindeutig, schwarz-weiß wahrzunehmen. In Wirklichkeit aber hat alles einen doppelten Boden, eine Kehrseite, Schatten und Schattierungen, und unsere gewohnte Welt kann in einem beliebigen Augenblick – ja, auf einmal Kopf stehen und diejenigen, die uns nahe stehen können – ja, ganz entfernt sein und auch wir selbst riskieren es ebenso, in uns etwas „Fremdem“ zu begegnen, etwas Unbekanntem, Unangenehmen… Zu jedem Ego gibt es ja immer ein Alter Ego, und in der Regel ist es sehr schwer, einen Kontakt zwischen beiden herzustellen.

 

n: Kann man sagen, dass Sie in der Prosa, im Märchen eine Möglichkeit sehen, von den Traumata der russischen Realität zu erzählen (Krise des Familienlebens, Technikhavarien mit tödlichem Ausgang, erschreckende Zustände in „sozialen“ Einrichtungen, Obdachlosigkeit…)? Wie Mascha, die Hauptfigur aus Ubežišče 3/9, die die wegen ihres Aussehens und ihres Verhaltens erschreckend wirkenden Behinderten in einem Kinderheim fotografiert, weil sie sonst von totaler Verzweiflung erfasst werden würde, so gestalten Sie die Schrecken des Alltags in Bilder, in ein Märchen um, um dem Alltagsleben einen fantastischen Sinn zu geben?

 

S: Im Leben gibt es viel Schlimmes. Doch ich fühle mich deshalb nicht besonders verzweifelt – aber doch, ich sehe das so. Eine Optimistin wird man aus mir wohl nicht machen können.

 

n: In der Literatur der UdSSR gab es das Genre „Thriller“ oder den "Horrorroman" nicht, in den 90er Jahren kam auch keine Literatur dieser Art auf den Markt. Wie kommt es, dass erst mit Ihnen dieses Genre in der russischen Literatur entdeckt wird?

 

S: Die russische Literatur hat, wie man weiß, erst vor wenigen Jahren aus einer Krise herausgefunden. Über einen Zeitraum von mehr als 10 Jahren hatten wir überhaupt keinen richtigen Buchmarkt in dem Sinne, dass es ein breites Spektrum verschiedener Genres und einer Leserschaft dafür gibt. Jetzt gerade erleben die Literatur und das Verlagswesen einen aktiven Aufschwung, und fast alle bisherigen Lücken füllen sich. Auch jene für Fantasy und Horror bleiben nicht leer. Außerdem ist jetzt eine Generation von Schriftstellern da (und ich zähle mich selbst dazu), die die sowjetische Vergangenheit und die vergangene Epoche nicht mehr „uminterpretieren“ wollen, keinen Drang dazu verspüren, ja, das wohl eigentlich gar nicht können. Bis vor kurzem war das noch die kulturelle Idée fixe (nicht nur in der Literatur, sondern auch im Kino) – was ist daran schon geheimnisvoll? Wir haben auch eine neue Generation von Lesern. Es klingt wieder banal, aber es muss in der Gesellschaft eine bestimmte Art von Mittelschicht geben, damit „Horrorromane“ – im Stil von Stephen King – überhaupt gelesen werden. Eine Gruppe von Menschen mit einem geregelten Leben, die satt sind und es gemütlich haben, die Ängste hegen und etwas zu verlieren haben, denen ein wenig langweilig ist und die deshalb das Bedürfnis nach Nervenkitzel haben. Nur wenn dein eigenes Leben nicht gruselig genug ist, hast du Spaß daran, über ein anderes, schreckliches zu lesen. Wenn du aber bettelarm und unzufrieden bist, dann hast du auch ein Bedürfnis nach Fernsehserien und nach schlecht geschriebenen Romanen über schöne Schlösser, Inseln und glückliche, gut aussehende Menschen. Letztlich hatten wir nicht ohne Grund gerade zu Anfang der 90er Jahre einen unglaublichen Schundroman-Boom.

 

n: In der Erzählung Živye (Die Lebendigen) werden apokalyptische Szenen beschrieben, wie man Sie aus US-Thrillern kennt: Menschen im Stau, der Angriff „jener“, der unreinen, bösen Mächte, Panik, Mord… Wobei Menschen Roboter umbringen, was an Spielbergs Film Artificial Intelligence erinnert. Die Heldin ihrer Erzählung sieht sich ständig Jim Jarmuschs Film Dead man an. Ihre im Text eingeschlossenen kinematografischen Erfahrungen haben sich auf Ihren Stil ausgewirkt. Ihr Text besteht oft aus kurzen und ungeschmückten Beschreibungen von Handlungen und szenischen Dialogen. Kann man die schnelle Mitteilung über eine Verfilmung von Ubežišče 3/9 vielleicht damit erklären, dass Ihr Stil oft rein drehbuchartig erscheint?

 

S: Mein Stil ist nicht rein drehbuchartig – meiner Ansicht nach. Vielleicht schätzt man das von der Seite etwas anders ein… Man kann bekanntlich, alles was man will verfilmen – von Lev Tolstoj bis Aleksandr Buškov. Haben diese Autoren etwa auch einen drehbuchartigen Stil?

 

n: In Ubežišče 3/9 gibt es politische Anspielungen. Sie haben dem „russischen Präsidenten“ in Ihrem Roman das aus den Medien allen bekannte entstellte Gesicht des ukrainischen Präsidenten Juščenko gegeben. Was verbirgt sich dahinter? Der Präsident scheint wie auch in Pelevins Roman Generation P nur eine leblose Marionette zu sein. Die Politik Russlands wird nicht von ihm, sondern von „unreinen Mächten“ gelenkt. Wie soll man diese Beziehung zwischen der Politik in Russland und der apokalyptischen Wende, dem Ende der Welt, in Ihrem Roman verstehen?

 

S: Mir scheint, dass sich unser Land im Moment in einer sehr ungemütlichen Phase der Stagnation befindet, in einem Schlaf, wie in einem verzauberten Königreich. Das Land wird von Menschen ohne Antlitz regiert, von einer grauen Macht. Man kann ihr alles unterstellen, man kann sie „dämonisieren“ und „demokratisieren“. Man kann ihr alle möglichen Eigenschaften zuschreiben, jeder sieht in ihr das, was er sehen will. Man kann sie sich ausdenken – und in Wirklichkeit gibt es sie nicht. Leere ist immer gefährlich. Es gibt da einen Kindervers: „Wenn in der Tabakdose lange kein Tabak mehr lag, zieht der Teufel weiß was ein an einem schönen Tag.“ Aber besonders diese Leere – „die leere Macht“ – ist gefährlich für solch ein Land wie Russland. Die Menschen hier sind nicht an Gesetze und Freiheiten gewöhnt, sie sind nicht daran gewöhnt, selbständig zu wählen und Verantwortung für sich und ihr Land zu tragen, deshalb schreiben sie den gesichtslosen Machtinhabern, ohne von ihnen dazu gezwungen zu werden, automatisch die Eigenschaften zu, an die sie sich während der mehr als 70 Jahren gewöhnt haben. Unsere heutigen Machtinhaber haben kein Gesicht, aber wir zeichnen ihnen selbst eins. Zunächst nur die groben Züge, dann fügen wir einen konkreten Ausdruck hinzu. Einen sehr bösen Ausdruck. Etwas anderes kennen wir nicht.

 

n: Welche weiteren Pläne und Projekte haben Sie? Wird Ubežišče 3/9 wirklich verfilmt werden, wie bereits angekündigt?

 

S: Erstens schreibe ich jetzt an einem neuen Buch. Das wird ein Sammelband mit einem kurzen Roman und Erzählungen. Das Genre bleibt dasselbe - lyrischer Thriller, Mystery, Phantasmagorie... Es heißt Rezkoe pocholodanie (Kälteeinbruch). Zweitens planen mein Mann (der lustigerweise auch Schriftsteller ist) und ich, ein gemeinsames Buch zu schreiben, eine fantastische Antiutopie. Das wird ganz anders aussehen als das, was wir vorher jeweils allein geschrieben haben. Von einer Verfilmung weiß ich nichts - alle Rechte liegen beim Verlag, mich hat niemand darüber informiert.

 

n: Vielen Dank für das Interview!

 

Starobinec, Anna: Perechodnyj vozrast. Sankt-Peterburg 2005.

Starobinec, Anna: Ubežišče 3/9. Sankt-Peterburg 2006.

Ameisen im Bauch - novinki
Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Ameisen im Bauch

Ein Inter­view mit Anna Starobinec

 

Anna Sta­ro­binec gilt als die ein­zige Autorin Russ­lands, die eine bel­le­tris­ti­sche Schreib­weise mit dem Genre der Mys­tery- und Fan­tasy-Lite­ratur ver­bindet. Mit ihrem ersten Erzähl­band, der unter dem Titel Perechodnyj voz­rast (Pubertät) 2005 beim Sankt Peters­burger Verlag Limbus Press erschienen ist, machte sie sich einen Namen. In diesem Jahr debü­tierte sie im selben Verlag als Roman­au­torin mit Ubežišče 3/9 (Asyl 3/9). In ihrer Prosa erzählt sie sowohl vom rus­si­schen Alltag als auch von Mythen und mys­te­riösen Geschichten, die Moskau zu einem Ort unheim­li­cher Ver­wand­lungen, Revo­lu­tionen, Beses­sen­heiten machen. Gleich­zeitig richtet sich in ihren Texten der Blick in die intimen Bereiche des Lebens, die Familie, die Bezie­hungen zu anderen Men­schen. In die Wirk­lich­keits­ebene der rus­si­schen All­tags­welt mit Vater, Mutter, Kind bricht eine Welt von Cyborgs, Ameisen, Hexen und anderen fan­tas­ti­schen Figuren ein…

 

starobinec_buchIn Ubežišče 3/9 wird die Geschichte einer jungen Frau namens Maša erzählt. Jaša, ihr Kind, hat einen schweren Unfall erlitten. Er befand sich lange Zeit im Koma und erwachte dann als schwei­gender Autist. Maša, die ihren Sohn in ein Heim für behin­derte Kinder gegeben hatte, als er sich noch im Koma befunden hatte, arbeitet seitdem als Foto­jour­na­listin und reist in Europa herum. Nach einigen Jahren ver­liert sie plötz­lich das Gedächtnis und ver­wan­delt sich in einen “unreinen” Mann, einen Obdach­losen, der ständig von jenen Träumen und Ereig­nissen aus Mašas Leben träumt, die diese lange Zeit ver­drängt hatte. Im Traum erscheint ihr eine Mär­chen­welt, in der sie ihren Sohn trifft. Es stellt sich heraus, dass Mašas Sohn, der eins­tige Jaša, als Held Vanja zusammen mit dem Zau­berer “Gerippe Unsterb­lich”, der Hexe Baba-Jaga, dem Lešij, dem gefähr­li­chen Wald­geist, und anderen “unreinen” Figuren der rus­si­schen (und zum Teil deut­schen) Volks­my­tho­logie in einer Mär­chen­welt wohnt. Der unreine Mann/Maša stirbt und gerät selbst in diese Welt, kehrt zu dem ver­las­senen Kind zurück. So auch der ver­lo­rene Vater, der eben­falls einige Zeit eine Ver­wand­lung durch­lebt hat. Die “Heim­kehr” ins Asyl ist zugleich die letzte Ret­tung, denn der realen Welt steht ein “sdvig” bevor, eine apo­ka­lyp­ti­sche Ver­schie­bung. Am Ende des Romans, als eben jene Welt endet, ver­ei­nigt sich in der Welt der Fan­tastik, im Asyl, das der Junge ein­ge­richtet hat, im Kreis der Mär­chen­fi­guren die Familie.

 

anna-starobinec4 anna-starobinec5Anna Sta­ro­binec, geboren 1979, lebt und arbeitet in Moskau. Ihre Texte sind bisher nicht auf Deutsch erschienen. In einem E‑Mail-Inter­view fragten wir Anna Sta­ro­binec zur aktu­ellen Situa­tion junger AutorInnen in Russ­land und ihrem bis­he­rigen lite­ra­ri­schen Schaffen.

 

novinki: Vorab würden wir gern wissen, ob es Fragen an Sie als Schrift­stel­lerin gibt, die Sie über­haupt nicht mögen?

 

Anna Sta­ro­binec: Ja, die gibt es. Ich mag es zum Bei­spiel über­haupt nicht, wenn man mich fragt: “Finden Sie das Leben unheim­lich?” (Die Frage kommt ziem­lich oft auf…) Oder: “Warum ist Ihre Prosa so düster, wo Sie doch so nett aus­sehen?” In diesen Fällen komme ich gewöhn­lich aus dem Kon­zept und fühle mich ziem­lich dumm.

 

n: In Deutsch­land sind Sie eine noch unbe­kannte Schrift­stel­lerin, nicht nur den Lesern, son­dern bisher auch noch Ver­le­gern und Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lern. Laut Lev Danilkin, einem bekannten rus­si­schen Lite­ra­tur­kri­tiker, gelten Sie in Russ­land als Ver­tre­terin einer neuen Gene­ra­tion junger, pro­fes­sio­neller Schrif­stel­le­rInnen. Können Sie Danilkin zustimmen, dass es schwer ist, Ihre rus­si­schen lite­ra­ri­schen Vor­bilder zu bestimmen?

 

S: Ich bin eigent­lich nicht ganz ein­ver­standen mit der Behaup­tung, dass ich über­haupt kei­nerlei lite­ra­ri­sche „Wur­zeln“ hätte. Der rus­si­schen Tra­di­tion, wie Sie sie nennen, stehe ich sehr respekt­voll gegen­über – gerade Gogol′ hat mich sehr stark beein­flusst. Dazu Bul­gakov und, ent­schul­digen Sie schon die Platt­heit, Dostoevskij. Sogar auf sprach­li­chem Niveau ver­suche ich nicht gänz­lich aus dieser Tra­di­tion her­aus­fallen – und auch irgendein Jugend­slang erscheint mir nicht ganz das pas­sende Register für Lite­ratur zu sein, und sei sie auch noch so modern. Was meine west­li­chen „Ori­en­tie­rungs­punkte“ betrifft: ich fühle mich dem Schaffen Hoff­manns, Kafkas, Brad­burys sehr nah und von den gegen­wär­tigen Autoren dem Ste­phen Kings und Neil Gai­mans, des Gotik­mär­chen-Meis­ters. Übri­gens ist Gai­mans Roman Ame­rican Gods einer meiner liebsten, wes­halb ich mir in Ubežišče 3/9 einige lite­ra­ri­sche Anspie­lungen auf ihn erlaubt habe.

 

n: Erzählen Sie doch bitte einmal, wie Sie Schrift­stel­lerin geworden sind.

 

S: Den Erzähl­band Perechodnyj voz­rast habe ich wäh­rend einiger Monate geschrieben. Ich habe vor­wie­gend nachts geschrieben, da ich ein Baby hatte und tags­über bei einer Zeit­schrift arbei­tete. Auf die Frage, warum ich zu schreiben begonnen habe, kann ich nicht ant­worten. Ich habe damit begonnen, und das war’s… Ich brauchte das wohl. Mög­li­cher­weise war einer der neben­säch­li­chen Gründe dafür der unter­schwel­lige Wunsch, etwas zu schreiben, was ich (als Lite­ra­tur­kri­ti­kerin und ein­fach Leserin) gerne lesen würde – und was ich zwi­schen den rus­si­schen Neu­erschei­nungen nicht gesehen habe. Horror und Mys­tery à la Ste­phen King oder Neil Gaiman ist nicht gerade das meist­ver­brei­teste Genre in unserem Land.

 

n: Wie kam es, dass Ihr Debüt in Form eines Bandes mit einer Novelle und kurzen Erzäh­lungen unter dem Titel Perechodnyj voz­rast im Verlag Limbus Press erschien?

 

S: Das ist ganz ein­fach. Als ich das Manu­skript fertig geschrieben hatte, habe ich es an ver­schie­dene Ver­lage geschickt. Ins­ge­samt sechs wollten es dru­cken. Die Bedin­gungen bei Limbus Press haben mich am meisten angesprochen.

 

n: Sie arbeiten (oder arbei­teten) als Jour­na­listin und haben ein Kind. In einem Inter­view haben Sie erzählt, dass Sie Bel­le­tristik nur nachts wäh­rend zwei oder drei Stunden schreiben konnten, der ein­zigen Zeit, die frei von beruf­li­chen und müt­ter­li­chen Pflichten ist. Hat sich die Situa­tion, in der Sie als Schrift­stel­lerin schreiben, seitdem verändert?

 

S: Die Situa­tion hat sich nicht ver­än­dert: Mein Kind ist ein biss­chen größer geworden, aber – zum Glück – immer noch da. Ich habe gehei­ratet – habe aber dadurch noch weniger Frei­zeit… Die Arbeit habe ich gewech­selt (von der Zeit­schrift zu einer Zei­tung) – aber die neue Arbeit nimmt nicht weniger Zeit in Anspruch als die alte. Leider kann ich die Arbeit als Jour­na­listin nicht auf­geben: die Schrift­stel­lerei bringt in unserem Land nur etwas ein, wenn du Boris Akunin oder Alek­sandra Mari­nina bist. Unser Kind hat natür­lich eine Tages­mutter – aber trotzdem schaffe ich kata­stro­phal wenig. Und Ubežišče wurde mit der­selben „nächt­li­chen“ Methode geschrieben wie das erste Buch. Ver­mut­lich habe ich ein­fach solch eine „nächt­liche“ Methode, da kann man nichts mehr machen…

 

n: Sie und Ihre jungen Schrift­steller-Kol­le­ginnen, bei­spiels­weise Anna Koz­lova, sind der weib­liche Teil der neuen Gene­ra­tion junger rus­si­scher Schrift­stel­le­rInnen. Inter­es­sant ist, dass beim Ver­such der Kritik, Ihre Lite­ratur zu cha­rak­te­ri­sieren, die Bezeich­nung „Frau­en­prosa“ nicht auf­taucht, im Unter­schied zur Bestim­mung der Prosa Petruševs­kajas, Tol­stajas oder Ulick­ajas durch die zeit­ge­nös­si­sche Kritik. Können Sie sich erklären warum das so ist?

 

S: Also diese Frage müsste wohl nicht mir, son­dern jenen gestellt werden, die diese „Eti­ketten“ ver­teilen. Ich per­sön­lich fühle mich einer „Damen­prosa“ nicht nah (und ich mag sie zudem nicht), aber ein tap­ferer Hemingway wird aus mir wohl auch kaum werden. Ich mag es über­haupt nicht, wenn ein lite­ra­ri­scher Text irgend­eine Gender-Fär­bung bekommt. Ich hoffe, dass man das, was ich schreibe, wirk­lich nicht nach Geschlech­ter­merk­malen bestimmen kann.

 

n: Ihre Prosa gilt als etwas gänz­lich Neues in der rus­si­schen Lite­ratur. Was meinen Sie, worin besteht die Eigenart Ihrer Texte?

 

S: Die Eigenart… Diese Frage sollte wohl nicht mir gestellt werden, aber wenn ich sie nun schon beant­worte – denke ich, dass die Eigenart darin besteht, dass es ganz zeit­ge­nös­si­sche Texte sind, in denen die Ver­fahren der west­li­chen Fan­tastik auf die rus­si­sche Lite­ratur und Russ­lands Rea­lien ange­wendet werden. Dass es also Texte sind, die auf rus­si­schem Boden gewachsen, aber mit Kafka und King “geimpft” worden sind. Im End­ergebnis kommt wahr­schein­lich ein ziem­lich unge­wöhn­li­cher Hybride heraus. Außerdem sind es wohl so genannte “kluge” Texte, die für ein bestimmtes intel­lek­tu­elles Niveau des Lesers aus­ge­legt sind – was für die rus­si­sche Fan­tastik nicht cha­rak­te­ris­tisch ist.

 

n: Ihre Prosa wird mit Philip Dick, Ste­phen King, mit David Cro­nen­bergs Filmen ver­gli­chen. Ist Ihnen dieser Ver­gleich sympathisch?

 

S: Ich finde das gut. Was kann denn ange­nehmer sein, als mit Dick ver­gli­chen zu werden (obwohl ich per­sön­lich keine große Ver­eh­rerin seines Schaf­fens bin) oder mit King, anstatt mit Mari­nina oder Don­cova. Aber dass man über­haupt mit nie­mandem ver­gli­chen wird, das gibt es wahr­schein­lich gar nicht. Um dem Leser zu erklären, wen er mit diesem oder jenem “New­comer” vor sich hat, braucht man einen Ver­gleich – das sage ich als Journalistin.

 

n: Sowohl in allen Ihren Erzäh­lungen, als auch in Ihrer Novelle und Ihrem neu­esten Roman gibt es immer zwei Schichten, zwei Rea­li­täten. Einer­seits die all­täg­liche Rea­lität mit den völlig durch­schnitt­li­chen Per­sonen, deren Leben ohne nen­nens­werte Zwi­schen­fälle ver­läuft, ande­rer­seits gibt es dort eine in ihrer Unaus­weich­lich­keit grau­same, sur­rea­lis­ti­sche Welt oder, wie in Ubežišče 3/9, eine mär­chen­hafte, fan­tas­ti­sche. Alle Per­sonen sind in diese „zweite“ Welt ein­ge­bunden, und sie macht ihr Leben zur Hölle, umso mehr, als dass die Figuren durch höhere Mächte und Hin­der­nisse außer­stande sind, zwi­schen den beiden Welten zu kom­mu­ni­zieren. Nehmen wir als Bei­spiel die Erzäh­lung Perechodnyj voz­rast. Hier wird indi­rekt der Zer­fall einer Familie nach der Schei­dung der Eltern the­ma­ti­siert, aber im Vor­der­grund steht die all­mäh­liche Meta­mor­phose eines 12-jäh­rigen Jungen in einen „Amei­senbau-Men­schen“ und die voll­kom­mene Hilf­lo­sig­keit, mit der die ver­zwei­felte Mutter den Ver­än­de­rungen ihres Sohnes zusehen muss. In der Erzäh­lung Sem’ja (Die Familie) wird ein Mann vorgestellt, der in eine Situa­tion gerät, in der er sich plötz­lich in „seiner“ Familie wie­der­findet. Er kann diese aber nicht als seine eigene akzep­tieren, weil sein vor­he­riges Leben und seine Erin­ne­rungen über­haupt nicht mit der Exis­tenz dieser Men­schen über­ein­stimmen. Sie haben sich für solch eine Struktur ent­schieden – diese Ver­flech­tung einer all­täg­li­chen Rea­lität und einer sur­realen, mär­chen­haften Welt. Was für eine Rolle spielt hier diese „zweite“ Welt – ist sie die Ent­frem­dung, eine Meta­pher für die beschrie­bene All­tags­rea­lität oder ein rein fan­tas­ti­sches Ele­ment, das um des Lesers Schre­cken willen und zu seinem Ver­gnügen ver­wendet wird und das man nicht ent­schlüs­seln kann?

 

S: Na ja, wahr­schein­lich kenne ich per­sön­lich diese Art von Angst: Plötz­lich zu merken – ganz in der Tra­di­tion David Lynchs – dass “die Eulen über­haupt nicht das sind, was sie zu sein scheinen”. Allen Men­schen ist Solip­sismus eigen, aber dabei fühlen manche doch ein Unbe­hagen, dass viel­leicht hinter deinem Rücken noch irgend­je­mand / irgend­etwas steht. Ich zumin­dest fühle das. Über­haupt (ich will ja keine Bana­li­täten aus­spre­chen, aber die Frage zielt darauf) sind diese zwei Welten in meinen Büchern eine ent­fal­tete Meta­pher unserer Lebens­ein­stel­lung und ‑wahr­neh­mung. Wir haben einen „ver­ne­belten“ Blick auf die Dinge und auf uns selbst. Wir sind daran gewöhnt, alles als ein­deutig, schwarz-weiß wahr­zu­nehmen. In Wirk­lich­keit aber hat alles einen dop­pelten Boden, eine Kehr­seite, Schatten und Schat­tie­rungen, und unsere gewohnte Welt kann in einem belie­bigen Augen­blick – ja, auf einmal Kopf stehen und die­je­nigen, die uns nahe stehen können – ja, ganz ent­fernt sein und auch wir selbst ris­kieren es ebenso, in uns etwas „Fremdem“ zu begegnen, etwas Unbe­kanntem, Unan­ge­nehmen… Zu jedem Ego gibt es ja immer ein Alter Ego, und in der Regel ist es sehr schwer, einen Kon­takt zwi­schen beiden herzustellen.

 

n: Kann man sagen, dass Sie in der Prosa, im Mär­chen eine Mög­lich­keit sehen, von den Trau­mata der rus­si­schen Rea­lität zu erzählen (Krise des Fami­li­en­le­bens, Tech­nik­ha­va­rien mit töd­li­chem Aus­gang, erschre­ckende Zustände in „sozialen“ Ein­rich­tungen, Obdach­lo­sig­keit…)? Wie Mascha, die Haupt­figur aus Ubežišče 3/9, die die wegen ihres Aus­se­hens und ihres Ver­hal­tens erschre­ckend wir­kenden Behin­derten in einem Kin­der­heim foto­gra­fiert, weil sie sonst von totaler Ver­zweif­lung erfasst werden würde, so gestalten Sie die Schre­cken des All­tags in Bilder, in ein Mär­chen um, um dem All­tags­leben einen fan­tas­ti­schen Sinn zu geben?

 

S: Im Leben gibt es viel Schlimmes. Doch ich fühle mich des­halb nicht beson­ders ver­zwei­felt – aber doch, ich sehe das so. Eine Opti­mistin wird man aus mir wohl nicht machen können.

 

n: In der Lite­ratur der UdSSR gab es das Genre „Thriller“ oder den “Hor­ror­roman” nicht, in den 90er Jahren kam auch keine Lite­ratur dieser Art auf den Markt. Wie kommt es, dass erst mit Ihnen dieses Genre in der rus­si­schen Lite­ratur ent­deckt wird?

 

S: Die rus­si­sche Lite­ratur hat, wie man weiß, erst vor wenigen Jahren aus einer Krise her­aus­ge­funden. Über einen Zeit­raum von mehr als 10 Jahren hatten wir über­haupt keinen rich­tigen Buch­markt in dem Sinne, dass es ein breites Spek­trum ver­schie­dener Genres und einer Leser­schaft dafür gibt. Jetzt gerade erleben die Lite­ratur und das Ver­lags­wesen einen aktiven Auf­schwung, und fast alle bis­he­rigen Lücken füllen sich. Auch jene für Fan­tasy und Horror bleiben nicht leer. Außerdem ist jetzt eine Gene­ra­tion von Schrift­stel­lern da (und ich zähle mich selbst dazu), die die sowje­ti­sche Ver­gan­gen­heit und die ver­gan­gene Epoche nicht mehr „umin­ter­pre­tieren“ wollen, keinen Drang dazu ver­spüren, ja, das wohl eigent­lich gar nicht können. Bis vor kurzem war das noch die kul­tu­relle Idée fixe (nicht nur in der Lite­ratur, son­dern auch im Kino) – was ist daran schon geheim­nis­voll? Wir haben auch eine neue Gene­ra­tion von Lesern. Es klingt wieder banal, aber es muss in der Gesell­schaft eine bestimmte Art von Mit­tel­schicht geben, damit „Hor­ror­ro­mane“ – im Stil von Ste­phen King – über­haupt gelesen werden. Eine Gruppe von Men­schen mit einem gere­gelten Leben, die satt sind und es gemüt­lich haben, die Ängste hegen und etwas zu ver­lieren haben, denen ein wenig lang­weilig ist und die des­halb das Bedürfnis nach Ner­ven­kitzel haben. Nur wenn dein eigenes Leben nicht gru­selig genug ist, hast du Spaß daran, über ein anderes, schreck­li­ches zu lesen. Wenn du aber bet­telarm und unzu­frieden bist, dann hast du auch ein Bedürfnis nach Fern­seh­se­rien und nach schlecht geschrie­benen Romanen über schöne Schlösser, Inseln und glück­liche, gut aus­se­hende Men­schen. Letzt­lich hatten wir nicht ohne Grund gerade zu Anfang der 90er Jahre einen unglaub­li­chen Schundroman-Boom.

 

n: In der Erzäh­lung Živye (Die Leben­digen) werden apo­ka­lyp­ti­sche Szenen beschrieben, wie man Sie aus US-Thril­lern kennt: Men­schen im Stau, der Angriff „jener“, der unreinen, bösen Mächte, Panik, Mord… Wobei Men­schen Roboter umbringen, was an Spiel­bergs Film Arti­fi­cial Intel­li­gence erin­nert. Die Heldin ihrer Erzäh­lung sieht sich ständig Jim Jar­muschs Film Dead man an. Ihre im Text ein­ge­schlos­senen kine­ma­to­gra­fi­schen Erfah­rungen haben sich auf Ihren Stil aus­ge­wirkt. Ihr Text besteht oft aus kurzen und unge­schmückten Beschrei­bungen von Hand­lungen und sze­ni­schen Dia­logen. Kann man die schnelle Mit­tei­lung über eine Ver­fil­mung von Ubežišče 3/9 viel­leicht damit erklären, dass Ihr Stil oft rein dreh­buch­artig erscheint?

 

S: Mein Stil ist nicht rein dreh­buch­artig – meiner Ansicht nach. Viel­leicht schätzt man das von der Seite etwas anders ein… Man kann bekannt­lich, alles was man will ver­filmen – von Lev Tol­stoj bis Alek­sandr Buškov. Haben diese Autoren etwa auch einen dreh­buch­ar­tigen Stil?

 

n: In Ubežišče 3/9 gibt es poli­ti­sche Anspie­lungen. Sie haben dem „rus­si­schen Prä­si­denten“ in Ihrem Roman das aus den Medien allen bekannte ent­stellte Gesicht des ukrai­ni­schen Prä­si­denten Juščenko gegeben. Was ver­birgt sich dahinter? Der Prä­si­dent scheint wie auch in Pele­vins Roman Gene­ra­tion P nur eine leb­lose Mario­nette zu sein. Die Politik Russ­lands wird nicht von ihm, son­dern von „unreinen Mächten“ gelenkt. Wie soll man diese Bezie­hung zwi­schen der Politik in Russ­land und der apo­ka­lyp­ti­schen Wende, dem Ende der Welt, in Ihrem Roman verstehen?

 

S: Mir scheint, dass sich unser Land im Moment in einer sehr unge­müt­li­chen Phase der Sta­gna­tion befindet, in einem Schlaf, wie in einem ver­zau­berten König­reich. Das Land wird von Men­schen ohne Ant­litz regiert, von einer grauen Macht. Man kann ihr alles unter­stellen, man kann sie „dämo­ni­sieren“ und „demo­kra­ti­sieren“. Man kann ihr alle mög­li­chen Eigen­schaften zuschreiben, jeder sieht in ihr das, was er sehen will. Man kann sie sich aus­denken – und in Wirk­lich­keit gibt es sie nicht. Leere ist immer gefähr­lich. Es gibt da einen Kin­der­vers: „Wenn in der Tabak­dose lange kein Tabak mehr lag, zieht der Teufel weiß was ein an einem schönen Tag.“ Aber beson­ders diese Leere – „die leere Macht“ – ist gefähr­lich für solch ein Land wie Russ­land. Die Men­schen hier sind nicht an Gesetze und Frei­heiten gewöhnt, sie sind nicht daran gewöhnt, selb­ständig zu wählen und Ver­ant­wor­tung für sich und ihr Land zu tragen, des­halb schreiben sie den gesichts­losen Macht­in­ha­bern, ohne von ihnen dazu gezwungen zu werden, auto­ma­tisch die Eigen­schaften zu, an die sie sich wäh­rend der mehr als 70 Jahren gewöhnt haben. Unsere heu­tigen Macht­in­haber haben kein Gesicht, aber wir zeichnen ihnen selbst eins. Zunächst nur die groben Züge, dann fügen wir einen kon­kreten Aus­druck hinzu. Einen sehr bösen Aus­druck. Etwas anderes kennen wir nicht.

 

n: Welche wei­teren Pläne und Pro­jekte haben Sie? Wird Ubežišče 3/9 wirk­lich ver­filmt werden, wie bereits angekündigt?

 

S: Ers­tens schreibe ich jetzt an einem neuen Buch. Das wird ein Sam­mel­band mit einem kurzen Roman und Erzäh­lungen. Das Genre bleibt das­selbe – lyri­scher Thriller, Mys­tery, Phan­tas­ma­gorie… Es heißt Rezkoe pocho­lo­danie (Käl­te­ein­bruch). Zwei­tens planen mein Mann (der lus­ti­ger­weise auch Schrift­steller ist) und ich, ein gemein­sames Buch zu schreiben, eine fan­tas­ti­sche Anti­utopie. Das wird ganz anders aus­sehen als das, was wir vorher jeweils allein geschrieben haben. Von einer Ver­fil­mung weiß ich nichts – alle Rechte liegen beim Verlag, mich hat nie­mand dar­über informiert.

 

n: Vielen Dank für das Interview!

 

Sta­ro­binec, Anna: Perechodnyj voz­rast. Sankt-Peter­burg 2005.

Sta­ro­binec, Anna: Ubežišče 3/9. Sankt-Peter­burg 2006.