Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Den ver­kannten Attentätern

1914 – 2014. Es ist wieder Denkmal-Zeit. In ganz Europa gedenken wir des ersten Welt­kriegs und des Ereig­nisses, wel­ches ihn aus­löste. Dem Schützen, der in Sara­jevo den öster­rei­chisch-unga­ri­schen Thron­folger mit zwei Schüssen tötete, werden noch heute in Bos­nien und Ser­bien Denk­mäler gebaut. Die ser­bi­sche Autorin Bil­jana Srblja­nović will sie stürzen – und stellt doch in ihrem Drama „Mali mi je ovaj grob“ (dt. Dieses Grab ist mir zu klein) nur wei­tere auf.

 

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Gavrilo Princip. Am 28. Juni 1914 feuert er in Sara­jevo zwei Schüsse auf Franz Fer­di­nand ab, den Thron­folger der Dop­pel­mon­ar­chie Öster­reich-Ungarn. Danach macht er Kar­riere: Als Aus­löser des 1. Welt­kriegs, als Frei­heits­kämpfer für alle Süd­slawen in Jugo­sla­wien, als Held und Ter­ro­rist. Auch heute kann man sich aus­su­chen, ob man ihn ver­ehrt oder ver­achtet, je nachdem, ob man mit oder ohne natio­na­lis­ti­sche Brille aus Ser­bien, Bos­nien-Her­ze­go­wina oder aus der Ser­bi­schen Entität Bos­nien-Her­ze­go­winas auf ihn blickt.
All diesen Dar­stel­lungen sagt die ser­bi­sche Dra­ma­ti­kerin Bil­jana Srblja­nović zunächst den Kampf an. In Mali mi je ovaj grob (dt. Dieses Grab ist mir zu klein) ent­wirft sie Atten­täter, dievor allem Teen­ager sind. Denn bevor es im Text über­haupt zu den fol­gen­rei­chen Schüssen kommt, begleitet der Leser „Gavri­lein“ und seine Freunde Nedeljko und Lju­bica vor einer revo­lu­tionär gehal­tenen Kulisse erst einmal dabei, jung, ein biss­chen ver­liebt und sehr naiv zu sein.

 

Atten­täter als Teen­ager: Welpen, jung und unschuldig

So beginnt das Stück mit Gavrilo und Nedeljko. Gerade vor den Gen­darmen geflüchtet, stol­pern sie in der ersten Szene zu einer Woh­nungs­be­sich­ti­gung bei Lju­bica hinein. Lju­bica, fünf­zehn­jährig, möchte von den beiden alles über die Pro­teste in der Innen­stadt von Sara­jevo wissen. Denn die poli­ti­schen Unruhen, die sich in Folge der Anne­xion Bos­niens durch Öster­reich-Ungarn noch ver­stärkten, sind für sie vor allem nur ein großes Aben­teuer: „[…] Mensch, und meine Mutter hat mich nicht aus dem Haus gelassen“.

Später schaut man dabei zu, wie „Gavro“ und „Nedjo“ Bil­lard spielen, wie sie mit Lju­bica an geheimen Ver­samm­lungen teil­nehmen und mit ihr ins Kino gehen. Nedjo ver­liebt sich in Lju­bica, die sich in Gavrilo ver­liebt. Der wie­derum mag Lju­bica, kann es aber nicht zugeben. So, zwi­schen Lan­ge­weile und Politik, revo­lu­tio­nären Ambi­tionen, Eifer­süch­te­leien und Selbst­dar­stel­lung ent­wi­ckelt Bil­jana Srblja­nović im ersten Teil des Dramas ihre Cha­rak­tere. Wie in einer Soap-Opera stehen die Bezie­hungen der Prot­ago­nisten im Vordergrund.

 

Wer kann ver­ant­wort­lich gemacht werden?

Man kann dann auf den ersten 65 Seiten auch fast ver­gessen, dass Gavrilo Princip und Nedeljko Čab­ri­nović ein Attentat begehen werden, dass sie Mörder sind – trotz aller poli­ti­schen Gespräche und geheimen Ver­samm­lungen. Das liegt nicht zuletzt an Apis, auf den in Srblja­no­vićs Stück die gesamte Ver­ant­wor­tung für den 28. Juni 1914 abge­schoben wird.
Dessen his­to­ri­sches Vor­bild Dra­gutin Dimit­ri­jević trat als Grün­dungs­mit­glied der geheimen Orga­ni­sa­tion „Ein­heit oder Tod“ für einen von Öster­reich-Ungarn unab­hän­gigen groß­ser­bi­schen Staat ein und damit für eine Form des ser­bi­schen Natio­na­lismus, wie ihn die ser­bi­en­kri­ti­sche Serbin Bil­jana Srblja­nović immer wieder kri­ti­siert hat.
Ein dem­entspre­chend unan­ge­nehmer Zeit­ge­nosse ist Apis dann auch im Stück. Hoch­gradig mani­pu­lativ und intri­gant bringt er Lju­bicas älteren Bruder Danilo dazu, sich „Ein­heit oder Tod“ unter Eid zu ver­pflichten. Dann macht er Danilo zum Spion und lässt ihn aus seiner Umge­bung alles berichten, von geheimen Ver­samm­lungen und Pro­testen bis zur Idee Nedjos und Gavrilos „etwas Großes [zu] machen. Etwas Hel­den­haftes.“ Diesen Wunsch nutzt er für seine Ziele und ver­sorgt die spä­teren Atten­täter mit Waffen.
Nun ist Apis, im Gegen­satz zu allen anderen Figuren im Stück, mehr als 20 Jahre älter, erwachsen und reif. Wen kann man also für das Attentat von Sara­jevo ver­ant­wort­lich machen? Eher den erwach­senen Anstifter oder die jugend­li­chen Träumer? Der Kon­trast zu den sich ihrer selbst nur halb bewussten Schü­lern Nedeljko und Gavrilo jeden­falls könnte größer nicht sein.

Damit wäre das ser­bisch-natio­na­lis­ti­sche Denkmal „Gavrilo Princip“ zum Ende des ersten Teils dann auch schon gestürzt. Kaum hält man es für mög­lich, dass dieser Teen­ager über­haupt jemals zu einer Ikone werden konnte. Denn Srblja­nović tritt der noch heute ver­brei­teten Glo­ri­fi­zie­rung Gavrilo Prin­cips als Frei­heits­kämpfer für die ser­bi­sche Nation über­zeu­gend, mit­rei­ßend und mit­unter komisch in den Weg.

 

Atten­täter als Sym­pa­thie­träger oder: Dieses Grab ist mir zu klein

Bedau­erns­wert jedoch ist, dass sie das nicht schafft, ohne ihn auf andere Art zu ver­klären. Beson­ders deut­lich wird das im zweiten Teil, in dem der Unter­schied zwi­schen den Figuren weiter her­aus­ge­ar­beitet wird. Hier geht es bereits nicht mehr um einen ein­fa­chen Denk­mal­sturz, es geht um Sym­pa­thien. Und die Glei­chung ist ein­fach: Gut sind die „Jungs“, böse ist Apis.
Danilo, der kurz nach dem Attentat hin­ge­richtet wurde, erscheint als Todes­engel, der nach­ein­ander Nedeljko, Apis und Gavrilo beim Sterben begleitet. Gavrilo und Nedjo, die ver­meint­lich Unreifen, treten dem Boten gefasst und mit Würde ent­gegen. Sie sterben reinen Gewis­sens, weil sie an ihre Tat glauben. In Gedanken sind sie bei ihrer Familie, ihren Freunden und ihren Träumen. Bei Apis ver­hält es sich anders. Der erst so Erwach­sene folgt Danilo wie ein kleines Kind, quen­gelnd und ängst­lich: „Wohin gehen wir jetzt? Gehen wir weit weg? Wann kommen wir an? Wo ist das denn?“ „Nur ein, zwei Minuten“, ver­sucht er Zeit zu schinden, plä­diert auf unschuldig und ver­flucht alle, die er an sich für schuldig hält. Als er schließ­lich vor dem Erschie­ßungs­kom­mando steht, ist es des­halb kein Zufall, dass Srblja­nović ihm den titel­ge­benden Satz in den Mund legt: „Dieses Grab ist mir zu klein.“
„Dieses Grab ist mir zu klein.“ – Wie anders könnte dieser Satz ver­standen werden als ein Rol­len­tausch? An dieser Stelle des Stücks werden Jugend­liche zu Erwach­senen und der Erwach­sene wird zum Kind. Das Gute wird groß, das Böse lächer­lich gemacht. Denn hätten, wenn es ans Sterben geht, nicht eigent­lich Gavro und Nedjo das grö­ßere Recht zu klagen? Gegen ihr Grab, ihren Miss­brauch durch Apis und viel­leicht auch gegen ihre Redu­zie­rung auf die Rolle der Atten­täter von Sarajevo?
So erscheint der Titel im ersten Moment pro­vo­kant und hin­ter­gründig. Er hebt noch einmal hervor, dass Gavrilo Princip inter­es­sen­ab­hängig Eigen­schaften ange­dichtet werden, ins­be­son­dere in Serbien.

 

Gut und Böse

Aller­dings ist der Gavrilo Princip Srblja­no­vićs selbst bei­leibe nicht eigen­schaftslos. Im Gegen­teil: Außer seinem Teen­ager-Dasein führt er im Drama noch eines als über­zeugter Jugo­slawe. Nicht umsonst para­phra­siert die Autorin im zweiten Teil des Stücks Gavrilo Prin­cips Selbst­aus­sagen vor Gericht: „Er stellt sich als Ser­bo­kroate vor, der Kroa­tisch-Ser­bisch spricht. Er ist der Mei­nung, dass die Jugo­slawen ein Volk sind und eine Sprache spre­chen.“ Durch die Über­zeich­nung der Rollen und die klare Bestim­mung von Gut und Böse treffen so letzten Endes nicht nur Apis und Gavrilo, son­dern auch böser ser­bi­scher Natio­na­lismus einer­seits und gutes Jugo­sla­wentum ande­rer­seits aufeinander.

Diese Gegen­über­stel­lung zweier Ideo­lo­gien wäre nun bei weitem nicht so bri­sant, wenn es nur um eine ver­ges­sene Figur in einer his­to­ri­schen Rand­epi­sode vor hun­dert Jahren ginge. Aber wie in fast jeder Ver­öf­fent­li­chung zu Gavrilo Princip geht es auch in diesem Drama um mehr, näm­lich darum, die unmit­tel­bare ser­bi­sche Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart zu thematisieren.

 

Lehr­stück über Atten­tate als legi­time poli­ti­sche Mittel

Nicht umsonst bietet die Dra­ma­ti­kerin eine Ver­bin­dung zwi­schen dem Attentat von Sara­jevo 1914 und dem Attentat auf Zoran Đinđić 2003 an. In beiden Fällen ver­mu­tete man ser­bi­sche Natio­na­listen als Täter bzw. Anstifter. In beiden Fällen wurden Ver­bin­dungen in höchste Regie­rungs­kreise und zum ser­bi­schen Geheim­dienst igno­riert. Der his­to­ri­sche Apis oppo­nierte 1903 nicht nur als Put­schist gegen den ser­bi­schen König Alek­sandar Obre­nović, er war auch 1913, ein Jahr vor dem Attentat von Sara­jevo, ser­bi­scher Mili­tär­ge­heim­dienst­chef. Es ist des­halb sicher­lich kein Zufall, dass er in Srblja­no­vićs Drama als Anstifter und Kopf der Teen­ager in Erschei­nung tritt.
Wenn nun Srblja­nović diese Ver­bin­dung zwi­schen den beiden Atten­taten her­stellt, dann wirft sie Apis und damit letzten Endes auch der Idee des ser­bi­schen Natio­na­lismus vor, Atten­tate als Mittel zur poli­ti­schen Ziel­er­rei­chung einzusetzen.
Diese Kritik ist durchaus legitim. Angreifbar macht sich die Autorin jedoch, indem sie Gavrilos Jugo­sla­wi­en­liebe positiv her­vor­hebt und mit der Auf­for­de­rung an ihr junges Publikum ver­knüpft, eben­falls etwas „Posi­tives“ aus dem eigenen Leben (und Jugo­sla­wien) zu machen. Zum einen kann das leicht als Ver­klä­rung des titois­ti­schen Jugo­sla­wien miss­ver­standen werden. Zum anderen bleibt beim Lesen ein unan­ge­nehmer Bei­geschmack zurück: Dass Srblja­nović Mord als poli­ti­sches Mittel des ser­bi­schen Natio­na­lismus einer­seits ver­ur­teilt, eine Abso­lu­tion für ihre durchaus poli­ti­schen Tee­nies Gavrilo, Nedeljko und Danilo ande­rer­seits zumin­dest andeutet, steht in einem uner­träg­li­chen Span­nungs­ver­hältnis. Leicht­fertig wirkt davor auch ihre Aus­sage anläss­lich der Urauf­füh­rung des Stücks: „Hätte ich damals gelebt, wäre ich eine von ihnen geworden.“ Gavrilo Princip wird durch Bil­jana Srblja­nović am Ende nur erneut zu einem Denkmal – wenn auch zu einem jugoslawischen.

 

Srblja­nović, Bil­jana: Mali mi je ovaj grob. Beograd 2013.
Deut­sche Über­set­zung (unver­öf­fent­licht): Srblja­nović, Bil­jana: Dieses Grab ist mir zu klein. Aus dem Ser­bi­schen von Alek­sandra Pejović und Vukan Mihai­lović de Deo. o. A. Beziehbar über theatertexte.de


Wei­ter­füh­rende Links zum Buch und zur Aufführung:

Artikel zum Erscheinen des Buches auf b92.net (auf Serbisch)
Insze­nie­rung in der Schau­bühne Berlin
Trailer aus dem Schau­spiel­haus Wien
Rezen­sion zur Urauf­füh­rung im Schau­spiel­haus Wien und Rezensionsrundschau
Trailer der Schau­bühne Graz

 

Zur Autorin: Bil­jana Srblja­nović, 1970 in Stock­holm geboren. Ihre Stücke für Theater wurden mehr­fach über­setzt und unter anderem im deut­schen Sprach­raum aus­ge­zeichnet. Beson­ders bekannt ist ihr Kriegs­ta­ge­buch „Bel­grader Tri­logie“ aus dem Jahr 1999, das auch in deut­scher Über­set­zung erschienen ist. In Ser­bien steht die Dra­ma­ti­kerin wegen ihrer ver­meint­lich ser­bi­en­feind­li­chen Hal­tung häufig in der öffent­li­chen Kritik.

 

Wei­tere Infor­ma­tionen zur Autorin:
Inter­view mit Bil­jana Srblja­nović in der Wiener Zei­tung vom 15.10.2013: „Gewalt ist und bleibt falsch“.