Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Am Ende bleibt das schöp­fe­ri­sche Nichts

Ein Gespräch mit Lothar Quinkenstein
über Moyshe Kul­baks Montog. Eyn kleyner roman

Lothar Quin­ken­stein – 1967 in Freiburg/Breisgau geboren, ist Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler, Schrift­steller und Über­setzer. Nach seinem Stu­dium der Ger­ma­nistik und Eth­no­logie lebte er zwi­schen 1994 und 2011 in Polen, bis es ihn 2011 weiter nach Berlin zog. Lothar Quin­ken­stein ist Mit­ar­beiter des Insti­tuts für Ger­ma­ni­sche Phi­lo­logie der Adam-Mickie­wicz-Uni­ver­sität in Poznań, er unter­richtet im Rahmen des Stu­di­en­ganges „Inter­kul­tu­relle Ger­ma­nistik“ am Col­le­gium Polo­nicum in Słu­bice, außerdem nahm er meh­rere Lehr­auf­träge an der Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin wahr. Quin­ken­stein ver­fasst Prosa, Lyrik, Essays sowie lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Artikel und über­setzt pol­ni­sche Lite­ratur. Er war Sti­pen­diat der Villa Decius, des Künst­ler­hauses Schloss Wie­pers­dorf und der Denk­mal­schmiede Höfgen. 2017 wurde er mit dem Jabło­nowski-Preis sowie mit dem Spie­ge­lungen-Preis für Lyrik aus­ge­zeichnet. Letzte Ver­öf­fent­li­chungen in Buch­form: mit­tel­eu­ro­päi­sche zeit (Gedichte, Mün­chen 2016), Die Deckel­ma­cher. Ein Bil­der­bogen (St. Ing­bert 2017).

Moyshe Kulbak – ein fein­sin­niger Beob­achter seiner Zeit, kommt am 20. März 1896 in Smorgon, einem Ort im heu­tigen Litauen, zur Welt. Neben der tra­di­tio­nellen jüdi­schen Schul­bil­dung, erhält Kulbak Unter­richt an einer säku­laren Volks­schule. Der Poly­glott spricht Jid­disch, Hebrä­isch und Rus­sisch, lebt in Vil­nius, eine Zeit lang in Berlin, später in Minsk. Viel­schich­tige kul­tu­relle Sphären formen seine Person und prägen sein schrift­stel­le­ri­sches Schaffen. Der Auto­di­dakt rezi­piert intensiv die Phi­lo­so­phie des deut­schen Idea­lismus und ver­knüpft diese mit den Inspi­ra­tionen, die er aus der jüdi­schen Geis­tes­ge­schichte bezieht. Zeit­le­bens ver­sucht Kulbak meh­rere Welten syn­the­tisch mit­ein­ander zu ver­binden. Erste Schreib­ver­suche unter­nimmt er in hebräi­scher und jid­di­scher Sprache, später wählt er das Jid­di­sche als seine Lite­ra­tur­sprache für Lyrik, Prosa und Drama. Sein expres­sio­nis­ti­scher Stil wird unter anderem von Else Lasker-Schüler beein­flusst, die er wäh­rend seines drei­jäh­rigen Stu­di­en­auf­ent­haltes in Berlin kennenlernt.

1926 ver­fasst Kulbak seinen zweiten Roman Montog. Eyn kleyner roman – ein hoch­ver­dich­teter Text, in dem im Grunde alles offen bleibt: Hier wird ein Stück­chen Fichte ein­ge­schoben, da ein Stück­chen Scho­pen­hauer ein­ge­baut, die 36 Gerechten werden ein­ge­woben, mes­sia­ni­sche Kon­zepte des Juden­tums ein­ge­ar­beitet, das ganze wird mit der Okto­ber­re­vo­lu­tion von 1917 ver­knüpft. Im Jahre 1937 wird Kulbak ver­haftet und nach einem sta­li­nis­ti­schen Schau­pro­zess erschossen. Form und Inhalt seines Schaf­fens ent­spra­chen nicht dem Ideal der gewünschten sozia­lis­ti­schen Literatur.

novinki: Die Haupt­figur des Romans, Mordkhe Markus, ist ein eher skep­ti­scher Mensch. Um ihn herum wir­belt das Revo­lu­ti­ons­ge­schehen von 1917, in seinem Inneren aber scheint Stille zu herr­schen. Wie würden Sie die Haupt­figur des Romans beschreiben?

 

Lothar Quin­ken­stein: Es ist eine viel­schich­tige Figur. Schon sein Name legt das nahe. Sein Vor­name ist Mordkhe – Mord­e­chai – der Nach­name ist Markus. Im Zuge der Assi­mi­la­tion legten sich viele Juden, die Mord­e­chai hießen, den Vor­namen Markus zu, um ihrem Namen sozu­sagen einen „neu­tra­leren“ Klang zu ver­leihen – ein Zuge­ständnis an die Mehr­heits­ge­sell­schaft. Der Vater von Ludwik Zamenhof wäre hier zu nennen, Mord­e­chai (Markus) Zamenhof, oder der in Lem­berg gebo­rene Rab­biner und Schrift­steller Mord­e­chai (Markus) Ehrenpreis.
In der Figur Mordkhe Markus bün­deln sich also Tra­di­ti­ons­ver­bun­den­heit – was wir nicht primär mit reli­giöser Praxis gleich­setzen, son­dern in brei­terer Per­spek­tive ver­stehen sollten, als Aus­druck einer Geis­tes­ge­schichte – und Aspekte der Assi­mi­la­tion. Die Figur trägt diese beiden Gedan­ken­welten in sich, und das Inter­es­sante dabei ist, dass die beiden Welten nicht nach dem Muster eines Ent­weder-oder dar­ge­stellt werden, son­dern im Sinne eines Sowohl-als-auch. Das schlägt sich auch ins­ge­samt im Kon­zept des Romans nieder. Wesent­lich scheint mir hier vor allem zu sein, dass durch dieses Kon­zept Erwei­te­rungen geschaffen und damit auch Inhalte mit­ein­ander ver­bunden werden können, die viel­leicht auf den ersten Blick weit aus­ein­ander zu liegen scheinen. Die Hori­zonte werden weit. Damit steht der Roman im Kon­text eines ganzen Kosmos an Erfah­rungen und Debatten.

 

n.: Was ist das für eine Welt, in der die Haupt­figur Mordkhe Markus lebt?

 

L.Q.: Der Ort bleibt namenlos, er heißt „die revo­lu­tio­näre Stadt“ und wird damit uni­versal. Wir haben es mit einer Stadt in Ost­mit­tel­eu­ropa zu tun, die selbst­ver­ständ­lich stark von jüdi­scher Kultur geprägt ist, und die dann in das Revo­lu­ti­ons­ge­schehen hin­ein­ge­zogen wird.
Hier sollten wir uns vor Augen führen, wie die jüdi­sche Kultur in diesen Land­schaften beschaffen war: trans­na­tional und mehr­spra­chig. Claudio Magris sprach vom „mit­tel­eu­ro­päi­schen Huma­nismus“, und alle Asso­zia­tionen, die diese Wen­dung auf­ruft, lese ich als gedank­liche Grun­die­rung auf jeder Seite des Romans Montag mit. Und gerade das Jid­di­sche ist Aus­druck dieses „mit­tel­eu­ro­päi­schen Huma­nismus“. Wenn man es aus der heu­tigen Per­spek­tive fassen möchte – eine Kultur, die par excel­lence euro­pä­isch ist.

 

n.: Mordhke Markus lebt zurück­ge­zogen in seinem Dach­käm­mer­lein. Ein ruhiger Mensch, der aus­giebig grü­belt – über die Welt da draußen, über die Men­schen in ihr und über sich selbst. Zwar sym­pa­thi­siert er mit der kom­mu­nis­ti­schen Idee, seine Welt­an­schauung erlaubt es ihm aber nicht, das gesamte Par­tei­pro­gramm anzu­nehmen. Wie posi­tio­niert er sich zu dem, was sich vor seinen Augen auf der Straße abspielt?

 

L.Q.: Mordkhe Markus ist mit kom­plexen und kom­pli­zierten Fragen beschäf­tigt, die er mit dem Geschehen auf der Straße in Ver­bin­dung bringt. Und der Leser steht mit ihm am Fenster der Dach­stube, sieht die Welt durch die Augen des bescheiden lebenden Hebrä­isch­leh­rers, der sich in Schwindel erre­gende Höhen der Refle­xion begibt. Die Revo­lu­tion wird dabei zum Brenn­glas, das die ganze Pro­ble­matik in Ver­grö­ße­rung zeigt. Die Hoff­nungen auf Ver­än­de­rung – ins­be­son­dere auf Gleich­be­rech­ti­gung und Akzep­tanz der jüdi­schen Bevöl­ke­rung inner­halb der jewei­ligen Mehr­heits­be­völ­ke­rung – waren sehr, sehr groß.
Ende des 19. Jahr­hun­derts kam in den jüdi­schen Lebens­welten Ost­mit­tel­eu­ropas einiges in Bewe­gung, und die Suche nach Iden­ti­täts­mus­tern, vor allem nach Aus­wegen aus einer bedrü­ckenden Lage, äußerte sich in viel­fäl­tiger Form. Die einen sahen in der Assi­mi­la­tion die größte Gefahr und wollten sich mit der Ortho­doxie gegen die „Ver­lo­ckungen“ der Moderne wappnen. Andere hielten den Anti­se­mi­tismus für die grö­ßere Bedro­hung und sahen in der Assi­mi­la­tion die einzig mög­liche Reak­tion darauf. Die Zio­nisten hielten den jüdi­schen Natio­nal­staat für die ein­zige akzep­table Lösung. Ein wie­derum anderes Kon­zept ver­trat der Bund – der All­ge­meine Jüdi­sche Arbei­ter­bund in Litauen, Polen und Russ­land –, der 1897 in Vil­nius (jid­disch: Vilne) gegründet wurde, ein Jahr nach Kul­baks Geburt. Die Bun­disten waren Gegner des Zio­nismus, sie plä­dierten dafür, dort zu bleiben, wo man lebte. Sie wollten eine im säku­laren Sinne ver­stan­dene jüdi­sche Kultur pflegen, für die wie­derum das Jid­di­sche das vor­ran­gige Iden­ti­täts­merkmal sein sollte, außerdem waren Bil­dung und soziale Gerech­tig­keit ein großes Anliegen.Und nun, als die Revo­lu­tion aus­bricht, stellt sich die Frage: „Wo steht der Bund?“ – diese Frage wird im Roman übri­gens nicht beant­wortet. Der Bun­dist, der offenbar ori­en­tie­rungslos durch die „revo­lu­tio­näre Stadt“ läuft, scheint mir ein Sinn­bild für das Aus­ein­an­der­klaffen von Idee und Wirk­lich­keit zu sein. Denn was Mordkhe Markus von seinem skep­tisch-distan­zierten Beob­ach­ter­posten aus sieht, ist eine nicht enden wol­lende Abfolge von Erup­tionen der Gewalt.

 

n.: Mit dem Blick auf die Straße eröffnet sich immer nur ein Aus­schnitt, mit dem Blick in die Bücher das große Ganze? Mordkhe Markus widmet seine Frei­zeit fast aus­schließ­lich – und das mit Lei­den­schaft – der Lek­türe von Büchern. Immer prä­sent: das Buch Hiob.

 

L.Q.: Die Beschäf­ti­gung mit Lek­türen, über den Büchern sitzen, näch­te­lang – das hat in der jüdi­schen Tra­di­tion eine starke ethi­sche Kom­po­nente, denn das ist die eigent­liche Auf­gabe: sich mit der Schrift, der Thora, und den Kom­men­taren dazu, dem Talmud, aus­ein­an­der­zu­setzen und dadurch die eigene ethi­sche Hal­tung zu ver­voll­kommnen. Diese Form einer lebens­langen Lek­türe, eines lebens­langen Ler­nens ist harte Arbeit, vor allem auch Arbeit an der eigenen Person. Und jemand, der ständig das Buch Hiob auf­ge­schlagen auf dem Tisch liegen hat, beschäf­tigt sich mit den drän­gendsten aller Fragen – näm­lich den Deu­tungs­mög­lich­keiten, die ver­su­chen, im Leiden einen Sinn zu entziffern.

 

n.: Bereits als Jugend­li­cher ist Mordkhe Markus den „Armen­leuten“ durch die Stadt gefolgt. Immer mon­tags, an dem Tag, an dem sie all­wö­chent­lich von Haus zu Haus ziehen und bet­teln. Jetzt folgt er den „Armen­leuten“ immer noch, mit seinen Bli­cken, von seinem Fens­ter­chen aus. Er blickt hin­unter auf die Straße und findet die „pure Armut“ erhaben. Wie ist das zu verstehen?

 

L.Q.: Das Bild von den „Armen­leuten“ in ihrer erha­benen Tätig­keit führt uns zur Mystik. Es ist die Über­zeu­gung, dass Pro­fanes und Sakrales nicht von­ein­ander getrennt werden können, weil alles ein Teil der Schöp­fung ist. Auch in den ein­fachsten Hand­lungen und Tätig­keiten spie­gelt sich das Wunder der Erschaf­fung der Welt. „Einer ging zu einem Zaddik“, so heißt es in den chas­si­di­schen Über­lie­fe­rungen, „um zu sehen, wie er sich das Schuh­band knüpft.“

 

n.: Arbeiter, Schneider, Hirten … Auto­mo­bile und Reiter, alle­samt ver­eint zu einer Masse, die mit bro­delnder Stim­mung geladen die Straßen der Stadt säumt. Die einen, leer und erschöpft, gehor­chen still. Die anderen erklären schnell ihre revo­lu­tio­nären Hal­tungen. Mordkhe Markus sucht zunächst die Stille und ver­steht plötz­lich, dass er den „Armen­leuten“ eine Bot­schaft über­bringen muss. Dar­aufhin wird er der Agi­ta­tion beschul­digt und inhaf­tiert. Was genau wird ihm eigent­lich vorgeworfen?

 

L.Q.: Er wird ver­haftet, weil er plötz­lich als Feind gilt in einer Atmo­sphäre, in der jeder zum Feind werden kann. Das sagt sehr viel über den Cha­rakter dieses „revo­lu­tio­nären“ Gesche­hens aus. „Lieber hun­dert Unschul­dige töten, als einen Feind der Revo­lu­tion davon­kommen lassen“ – das ist ein Satz von Lenin. Der Terror war von Anfang an Pro­gramm, und hin­zu­fügen sollten wir an dieser Stelle, dass es der Oktober 1917 gewesen ist, der die poli­ti­schen Errun­gen­schaften des Februar 1917 zunich­te­ge­macht hat. Kulbak selbst ist 1937 Opfer des sta­li­nis­ti­schen Ter­rors geworden, damals wurde die gesamte Redak­tion der jid­di­schen Lite­ra­tur­zeit­schrift Shtern in Minsk ver­haftet, alle wurden nach einem Schau­pro­zess hingerichtet.

 

n.: Wäh­rend seiner Haft erlebt Mordkke Markus unter­schied­liche Gemüts­zu­stände. Trauer wech­selt mit eigen­tüm­li­chen Momenten der Freude, letzt­lich ver­fällt er in eine Art Tran­ce­zu­stand und erkennt etwas Wesent­li­ches: „Es exis­tiert gar nichts. Ihr Bat­lonim, o ihr, die ihr so lang gewartet habt!!!“ Was ist es, was er hier erkennt – und welche Rolle spielen die Bat­lonim dabei?

 

L.Q.: Hier setzt sich Kulbak mit dem Herz­stück jüdi­schen Den­kens aus­ein­ander, der mes­sia­ni­schen Idee. Mordkhe Markus distan­ziert sich nicht nur vom Revo­lu­ti­ons­ge­schehen, er distan­ziert sich auch von der mes­sia­ni­schen Idee des Juden­tums. Am Ende bleibt das Nichts, aber nicht im Sinne einer Resi­gna­tion, son­dern im Sinne einer – ich glaube, so dürfen wir es nennen – mys­ti­schen Ein­sicht in das Rätsel der Exis­tenz, die vor allem von jeg­li­cher dog­ma­ti­schen Lehr­mei­nung Abstand nehmen möchte. Dass der Schöpfer die Welt „über dem Nichts auf­ge­hängt“ hat – diese Erkenntnis findet sich gerade im Buch Hiob (26,7).
Mit seiner Kritik richtet sich Mordkhe Markus an die Bat­lonim, also an Männer, die keinem Brot­er­werb nach­gehen, weil sie ihr ganzes Leben dem Stu­dium widmen. Aus ortho­doxer Sicht gebührt ihnen großer Respekt, denn mit ihrem Lernen und Stu­dieren wollen sie die Welt für die Ankunft des Mes­sias vor­be­reiten. Diese ganze Anstren­gung wird jetzt radikal in Frage gestellt – das ist ein unge­heuer sub­ver­siver Akt.
Zugleich ver­weist Kulbak auf die 36 Gerechten, eine wei­tere essen­ti­elle Idee. Sie durch­zieht übri­gens Kul­baks gesamtes Werk. In seinem Roman Der Mes­sias vom Stamme Efraim ist sie von Anfang an prä­sent, außerdem hat er ein Poem dar­über geschrieben: „Lamed-Wow“. Die Buch­staben lamed und waw, jid­disch wow, bilden das Wort, das in einer Jesaja-Stelle vom Warten auf den Mes­sias spricht, und der Zah­len­wert dieses Wortes ist 36. Aus dieser Stelle bei Jesaja wurde abge­leitet, dass es in jeder Gene­ra­tion 36 Gerechte gebe, die mit ihrem auf­rechten und tadel­losen Ver­halten dafür sorgen, dass die an sich unvoll­kom­mene Welt weiter exis­tieren könne. Sie leben uner­kannt und sind sich vor allem auch selbst ihrer Rolle nicht bewusst. Ver­bunden mit der Ver­bor­gen­heit ist wie­derum ein ethi­scher Anspruch: Nie­mand, gleich wie er dem ersten Anschein nach wirken mag, darf her­ab­las­send behan­delt werden, denn ich kann nie wissen, ob ich nicht einem Lamed­wownik, einem der 36 Gerechten, begegnet bin. Ein Jahr vor dem Erscheinen von Montag – 1925 – ent­stand in Polen der Stumm­film Der Lamed­wownik, und der Gerechte in dieser Geschichte trägt – das ist inter­es­sant – deut­liche Züge einer Chris­tus­figur. Etwas Ähn­li­ches sehen wir in Kul­baks Roman! Auch Kulbak syn­the­ti­siert die Ideen und formt aus ihnen etwas Neues. Und die Frage, ob Mordkhe Markus nicht ein Lamed­wownik sein könnte, drängt sich gera­dezu auf.

 

n.: Bleiben wir noch einen Moment bei den Mög­lich­keiten der Erkenntnis. An einer Stelle wird die Nega­tion als ein Akt beschrieben, der im Nichtstun zur Erkenntnis führt. „[E]rkennen heißt, sich des über­kom­menen Begriffs MENSCH zu ent­le­digen und Sein zu werden […]. Sein heißt: Sich selbst in der Welt zu erkennen, und Erkennen heißt: Sich der Rea­lität stellen, aber Kampf ist gerade das Selbst­ver­schließen […]. Und weil der Ver­stand ein Mittel des Men­schen im Kampf ist, ist er kein Mittel für die Erkenntnis.“

 

L.Q.: Erkenntnis auf anderen Wegen als auf dem Weg des Ver­standes – ich lese das als Plä­doyer für eine Denk­weise, die nicht den klas­si­schen Gegen­sätzen folgt. Als Ver­such, das Ratio­nale mit dem rational nicht Fass­baren zu ver­knüpfen. Ver­stand wie­derum als Mittel des Kampfes – eine traurig zutref­fende Dia­gnose geschicht­li­cher Abläufe. Hier äußert sich scharfe Kritik an einer Deu­tung der Welt, die sich allein der Auf­klä­rung ver­schreiben möchte. Der Ver­stand nicht als Lösung des Pro­blems, son­dern – oft genug – gerade als Teil des Problems.

 

n.: Bis zu seiner Ver­haf­tung lebt Mordhke Markus sehr zurück­ge­zogen. So zurück­ge­zogen, dass sein soziales Netz relativ grob gewebt ist. Selbst sein Vater, so heißt es, hatte ihn bereits ver­gessen. Ledig­lich das Fräu­lein Gnesye gehört zu seinen Ver­trauten, seinen Freunden. Ihr offen­bart er seine tiefsten Gedanken. Welche sind das?

 

L.Q.: Eine meiner Lieb­lings­szenen im Roman ist die Szene im Park: Mordkhe Markus spricht mit dem Fräu­lein Gnesye über Grund­züge des deut­schen Idea­lismus, woraus eine kleine phi­lo­so­phi­sche Vor­le­sung wird, und im Eifer der intel­lek­tu­ellen Begeis­te­rung nimmt er nicht mehr wahr, dass Fräu­lein Gnesye eher Inter­esse an einer Her­zens­an­ge­le­gen­heit hätte als an Fichte oder Hegel. In dieser Szene sehen wir, aus wie vielen Quellen Kulbak seine Inspi­ra­tionen bezog, und diese Viel­falt der Themen schlägt sich auch im Stil nieder. Im Übrigen ist auch der Blick auf die idea­lis­ti­sche Phi­lo­so­phie distan­ziert, für Mordkhe Markus ist sie – salopp gesagt – ein „netter Ver­such“, aber nicht hin­rei­chend, die Exis­tenz des Men­schen wirk­lich zu erfassen.

 

n.: Sie haben auf den Stil des Romans ver­wiesen. Wie würden Sie ihn beschreiben?

 

L.Q.: Es gibt Pas­sagen, die einen aus­ge­spro­chen lyri­schen Ton haben, sehr schön rhyth­mi­siert, mit einer buch­stäb­lich traum­haften Bild­lich­keit. Doch folgt dann auch sofort die Bre­chung: „Die Berge staunten kalt im Mond­licht, ohne den lei­sesten Wind­hauch. In der Stille hörte man, wie das müde Licht rann, rann, über die kalten Lei­chen. Die Felder, die wie heilig in der reinen Stille lagen, träumten.“ Hier gibt es keine „natür­liche“ Unschuld mehr. Die Land­schaft – die Natur – ist gezeichnet von der Gewalt der Geschichte. In anderen Pas­sagen hat die Sprache expres­sio­nis­ti­sche Züge: „Rat­tern setzte ein, nah, nah von einem Maschi­nen­ge­wehr: Tak, tak, tak, tak – es klang, als würde man Sand auf ein Blech schütten. […] Revolver bellten, wie kleine Hunde. Und Maschi­nen­ge­wehre pickten, pickten, klap­perten und steppten vor­sichtig – es klang ver­traut. Wie auf einer Näh­ma­schine.“ Das sind sehr scharf geschnit­tene Bilder und Ver­gleiche. An wie­derum anderen Stellen haben wir Anthro­po­mor­phi­sie­rungen, mar­kante Farb­ge­bungen – die ganze Palette expres­sio­nis­ti­scher Stilmittel.

 

n.: Ins­ge­samt wird Mordkhe Markus als eine Per­sön­lich­keit gezeichnet, die zwar in Anbe­tracht der Ereig­nisse schwer­mütig auf die Welt blickt, dabei aber kei­nes­wegs unglück­lich scheint. Ange­spro­chen auf Selbst­mord­ge­danken, ant­wortet er: „Nein, tau­sendmal nein […]. Ich liebe dieses Leben so sehr und liebe es von ganzem Herzen“. Das erin­nert mich vom Ansatz her an Albert Camus …

 

L.Q.: Ja, da sind wir mitten in den uni­ver­salen Gedanken. Mir fällt jetzt auch noch das Motto ein, das die Brüder Coen ihrem Film A Serious Man vor­an­ge­stellt haben – es ist ein Satz von Raschi, einem der bedeu­tendsten jüdi­schen Gelehrten des Mit­tel­al­ters: „Nimm in Ein­fach­heit alles hin, was dir wider­fährt.“ Ein Aufruf zu einer Hal­tung, die nicht zu ver­wech­seln ist mit Gleich­gül­tig­keit. Wir finden das­selbe etwa auch bei Marc Aurel: Egal, ob man dich bespuckt oder lobt, lass dich nicht davon berühren. Mordkhe Markus kommt dieser Hal­tung sehr nahe, und das ent­spricht durchaus der Liebe zum Leben.

 

n.: “Montag.” Ein Buch, das vor fast 100 Jahren geschrieben worden ist. Welche Aktua­lität besitzt es heute? Oder hat es mit unserer Rea­lität heut­zu­tage nichts mehr zu tun?

 

L.Q.: Alles hat es mit unserer Rea­lität heute zu tun. Alles. Es han­delt sich um eine Lite­ratur, die immer noch viel zu wenig bekannt ist. Im Grunde stehen wir noch immer am Beginn der Ent­de­ckung – Wie­der­ent­de­ckung – der jid­di­schen Lite­ratur und Kultur. In seiner Rede anläss­lich der Ver­lei­hung des Nobel­preises für Lite­ratur bezeich­nete Isaac Bas­hevis Singer das Jid­di­sche als „Sprache der furcht­samen und hof­fenden Mensch­heit“. Melech Rawitsch sprach – mit Blick auf die Lyrik Abraham Sutz­ke­vers – von der „jüdi­schen Ethik“ als „all­ge­mein mensch­li­cher Ethik“. Beide Äuße­rungen bestä­tigen sich an Kul­baks Roman.
Die Autoren dieses Kul­tur­raumes haben groß­ar­tige syn­the­ti­sche Leis­tungen voll­bracht, und die Selbst­ver­ständ­lich­keit, mit der sie das „west­liche Denken“ – wenn wir den Begriff mit aller gebo­tenen Vor­sicht benutzen wollen – in ihr Schaffen ein­be­zogen haben, fand kaum Ent­spre­chungen in umge­kehrter Rich­tung. Der Westen hat sich für den Osten in der Regel weit weniger inter­es­siert. Damit kommen wir aber­mals zur Frage der Wahr­neh­mung: Was sehen wir als Zen­trum an? Wo sehen wir die Peri­pherie? Wenn wir etwas lernen wollen über Per­spek­tiven, Hier­ar­chien, Asym­me­trien und blinde Fle­cken der euro­päi­schen Kul­tur­ge­schichte – die jid­di­sche Lite­ratur ist her­vor­ra­gend geeignet, einen neuen Blick auf scheinbar bekannte Phä­no­mene zu gewinnen.
Der Verlag edi­tion.foto­TA­PETA und die Über­set­zerin Sophie Lich­ten­stein haben sich in dieser Hin­sicht große Ver­dienste erworben. In dem­selben Verlag ist auch der Zyklus der Berlin-Gedichte erschienen – eben­falls in der Über­set­zung von Sophie Lich­ten­stein: Childe Harold aus Disna. Wie Kulbak seine per­sön­li­chen Erfah­rungen in Poesie ver­wan­delt – die Fahrt aus dem weiß­rus­si­schen Disna in den Westen, die Ein­drücke in Berlin der 1920er Jahre – das ver­ur­sacht Gän­se­haut. Was für eine Bril­lanz, mes­ser­scharf – und was für eine Ironie! Vor kurzem ist außerdem Kul­baks Roman Die Sel­me­nianer erschienen, im Verlag Die Andere Biblio­thek, und im März 2018 eine Neu­auf­lage von Andrej Jen­druschs Über­set­zung des Romans Der Mes­sias vom Stamme Efraim. Es gibt also Anlass genug, sich mit diesem her­aus­ra­genden Autor zu beschäf­tigen, dessen Werke zu den ori­gi­nellsten und inno­va­tivsten der jid­di­schen Moderne gehören.

 

Kulbak, Moyshe: Montag. Ein kleiner Roman. Aus dem Jid­di­schen von Sophie Lich­ten­stein. Berlin: edi­tion.foto­TA­PETA, 2017.
Ori­gi­nal­titel: Montog. Eyn kleyner roman. War­schau: „Kultur-Lige“, gedruckt von „Di Velt“, 1926.
Die Über­set­zung basiert auf dem Nach­druck von 1929.

 

Wei­tere ins Deut­sche über­tra­gene Lite­ratur von Moyshe Kulbak:

Childe Harold aus Disna. Gedichte über Berlin. Aus dem Jid­di­schen von Sophie Lich­ten­stein. Berlin: edi­tion.foto­TA­PETA, 2017.

Die Sel­me­nianer. Aus dem Jid­di­schen von Niki Graça und Esther Alex­ander-Ihme. Berlin: Die Andere Biblio­thek, 2017. (Neu­über­set­zung)

Der Mes­sias vom Stamme Efraim. Aus dem Jid­di­schen von Andrej Jen­drusch. Berlin: Wagen­bach, 2018. (Neu­auf­lage)