Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Eine Land­schaft voller Gewalt

Ein Mann läuft mit einer Schub­karre eine leere Straße ent­lang. Er trans­por­tiert einen reg­losen Frauenkörper. Sein Ziel: die Müll­de­ponie. In ihrem neusten Film Otver­gnutye (Abge­lehnt, 2018) zeigt Žanna Isa­baeva den Stel­len­wert einer allein­ste­henden Mutter im gegen­wär­tigen Kasach­stan auf – bis über die Schmerz­grenze hinweg.

 

Das post-sowje­ti­sche Kasach­stan ist beherrscht von Nepo­tismus und Kor­rup­tion. Patri­ar­chale Struk­turen dik­tieren das all­täg­liche Leben. Inmitten dieses unmensch­li­chen Sys­tems kämpft die von ihrer Familie ver­sto­ßene Mutter Aiganym (Žan­argul Žan­ya­ma­nova) mit eisernem Willen dafür, ihrem unehe­li­chen Sohn Timur eine solche zu bieten. Als Jugend­liche ist sie alleine in die Metro­pole Almaty gezogen und nun, einige Jahre später, kehrt sie in ihr Dorf zurück und bittet bei der Familie um Ver­ge­bung. Obwohl sie von der Mutter bespuckt und vom Bruder brutal geschlagen und getreten wird, kehrt Aiganym mit Timur immer wieder zum Fami­li­en­grund­stück zurück … so lange, bis alle zugrunde gehen. Žanna Isa­baevas jüngstes Drama Otver­gnutye (Abge­lehnt, 2018) fokus­siert die zer­stö­re­ri­sche Gewalt der sozialen Ver­hält­nisse in Kasachstan.

 

Unbe­queme Wahrheit

„In Kasach­stan sterben jähr­lich 700 Frauen an häus­li­cher Gewalt“, erzählte die Regis­seurin im Rahmen des Publi­kums­ge­sprächs auf dem 28. Film­Fes­tival Cottbus, eine Zahl, die ihr als Initi­al­zün­dung für den Film diente. Sie wollte, so die kämp­fe­risch gesinnte Isa­baeva, für das Thema Auf­merk­sam­keit erregen und insze­nierte daher die Miss­hand­lungen beson­ders explizit: Das zarte Gesicht der Haupt­dar­stel­lerin wird bis zur Ent­stel­lung blutig geschlagen, schnell und aggressiv bewegt sich die Kamera, was eine fühl­bare Ohn­macht kre­iert. Zusätz­lich poin­tiert schnelle orches­trale Musik die Dra­matik der Gewalt­szenen. Der Film balan­ciert zwi­schen Ein­dring­lich­keit und Zurück­hal­tung, stets bemüht um die rich­tige Dosis an Affekt, über­treibt aber an man­chen Stellen. Outriert wirkt ins­be­son­dere die Dar­stel­lung der beiden Hauptdarsteller_innen: Wenn Aiganym (Žan­argul Žanya­ma­nova) mit demons­trativ gesenktem Kopf an den Gar­ten­zaun ihrer feind­lich gesinnten Familie schreitet oder ihr Bruder Kairat (Nyš­anbek Žuba­naev) immer wieder mit sto­isch aggres­sivem Gesichts­aus­druck Auto fährt, nimmt die Insze­nie­rung einen zu geküns­telten Cha­rakter an und ver­mit­telt das Gefühl, die Rea­lität sei nur behauptet. Dies über­rascht inso­fern, da sich Isa­baeva in ihren bis­he­rigen Arbeiten durch die starke Füh­rung ihres Lai­en­dar­stel­ler_innen-Ensem­bles aus­ge­zeichnet hat.

 

Leid als Teil der Natur

In ihren bis­he­rigen acht Spiel­filmen blieb die Regis­seurin grund­sätz­lich ihrer Hand­schrift ästhe­tisch treu: Auch die Insze­nie­rung ihres neu­esten Films erin­nert unwei­ger­lich an die vor­her­ge­henden Filme, alle­samt durchaus ver­gleichbar, was Pes­si­mismus und Mini­ma­lismus betrifft. Isa­baeva wirft einen scharfen und nüch­ternen Blick auf eine Gesell­schaft, in der Farbe und Hoff­nung ver­bli­chen sind. Auch Michail Blin­covs Bild­ge­stal­tung trägt zum unver­kenn­baren Stil bei. Dabei zeichnet sich die Kamera als unauf­fäl­lige Beob­ach­terin aus, manchmal in Bewe­gung, an anderen Stellen sta­tisch, wie die still­ste­hende Gesell­schaft. Die Bild­äs­thetik steht damit in der Tra­di­tion des Kazakh New Wave Kino, das geprägt ist von zahl­rei­chen Außen­auf­nahmen kasa­chi­scher Land­schaften und der aus­schließ­li­chen Ver­wen­dung von natür­li­chem Licht. Dabei spielt die Natur in Isa­baevas Film eine genauso wich­tige Rolle wie bei ihren Regie-Kol­le­g_innen, etwa in Rašid Nug­ma­novs Igla (The Needle, 1988) oder Serik Apry­movs Kon­ečnaja ost­anovka (Last Stop, 1989). Die Umge­bung wird zur Grund­lage des mensch­li­chen Elends. Leid scheint in Kasach­stan Teil des Öko­sys­tems zu sein – in Otver­gnutye bei­spiels­weise dar­ge­stellt durch hand­lungs­un­ter­bre­chende Land­schafts­auf­nahmen, die in einer Sym­biose mit dem mensch­li­chen Körper kul­mi­nieren, wenn in der Schluss­ein­stel­lung der leb­lose Körper von Aiga­nyms Bruder in einem tür­kis­far­benen Fluss in die Weiten der kasa­chi­schen Hügel davon treibt.

 

Spiel mit der Ambivalenz

Für über­grif­figes Ver­halten gibt es keine Ent­schul­di­gung. Doch par­allel zur Lei­dens­ge­schichte der Frau (Aiganym) wird in Otver­gnutye auch die Lebens­ge­schichte des Täters gezeigt; immer wieder werden Szenen aus dem Alltag ihres Bru­ders Kairat erzählt. Er muss ständig Geld für die gesamte Familie auf­treiben; damit ver­bun­dene Kre­dit­schulden und die stän­dige Bedro­hung durch die mafiösen Gläubiger_innen stehen für ihn an der Tages­ord­nung. Ein Mann in Kasach­stan zu sein, bedeutet die Last des Ver­sor­gers zu tragen. Die Insze­nie­rung Kai­rats als ver­ant­wor­tungs­be­wusster und hin­ge­bungs­voller Fami­li­en­mensch und gleich­zeitig grau­samer Pei­niger seiner Schwester kre­iert im Kon­text von Isa­baevas femi­nis­ti­schem Kino eine Ambi­va­lenz inner­halb des Filmes, die irri­tiert. Viel­leicht liegt der Schlüssel zum Ver­ständnis in einer sym­bo­li­schen Ent­spre­chung: Als Reprä­sen­tant für die patri­ar­chale Domi­nanz bekommt Kairat auf­fällig viel Spiel­zeit. So spie­gelt das Erzählte die realen Verhältnisse.

In ihren fil­mi­schen Arbeiten kon­zen­triert sich die Regis­seurin immer wieder auf die gesell­schaft­li­chen Verlierer_innen – vor allem Frauen. Die Kraft ihrer Filme liegt dabei in der Kom­ple­xität der Figuren und der Rigo­ro­sität ihrer Hand­lungen. Isa­baeva ist eine Vir­tuosin, wenn es darum geht, schreck­liche Cha­rak­tere zu erschaffen, die man wider­willig ins Herz schließt: So ist es schwer mit anzu­sehen, wie eine behin­derte Heldin gleich einem amo­ra­li­schen Monster agiert, doch genau das zeichnet die Prot­ago­nistin in Sveta (2017) aus. Auch die vielen Morde des jungen Rajan in Bopem (2015) wirken nicht weniger brutal, sie werden jedoch schmerz­haft nach­voll­ziehbar, wenn man sein Schicksal und seine Moti­va­tion kennt. In Otver­gnutye ver­sucht Isa­baeva nun – anders als bisher – durch einen Fokus auf gleich meh­rere Figuren ein dif­fe­ren­ziertes Bild der Geschlech­ter­ver­hält­nisse wie damit ver­bun­dene gesell­schaft­liche Pro­bleme auf­zu­zeigen. Viel­leicht erlangt der Film gerade des­halb nicht die Tiefe und Unbe­re­chen­bar­keit ihrer anderen Werke.

 

Kein Platz in der kasa­chi­schen Filmlandschaft?

Wie Žanna Isa­baeva im Rahmen des 28. Film­fes­tival Cottbus berich­tete, war die Finan­zie­rung und Her­stel­lung ihres neu­esten Filmes schwierig und für ihre Ver­hält­nisse beson­ders lang­wierig. Was damit gemeint sein könnte, belegte die rhe­to­ri­sche Inter­ven­tion eines anderen – eines Mannes: In das selbe Publi­kums­ge­spräch nach dem Scree­ning schal­tete sich näm­lich auch Haupt­dar­steller Žuba­naev (Kairat) ein und ver­wies explizit darauf, dass die Figuren und Hand­lungen in Otver­gnutye kei­nes­wegs reprä­sen­tativ für die Ver­hält­nisse in Kasach­stan seien. Diese durchweg als anti-femi­nis­ti­sches State­ment zu wer­tende Replik belegt ver­mut­lich genauso wie die von der Regis­seurin geschil­derten Pro­duk­ti­ons­schwie­rig­keiten, die geringe gesell­schaft­liche Bereit­schaft, sich dem Thema der patri­ar­chalen Gewalt in Kasach­stan zu stellen. Folg­lich liegt die Bedeu­tung des Filmes –  trotz einiger Schwä­chen in der Dar­stel­lung – darin, ein wich­tiges Thema ein­drück­lich in den Fokus gerückt zu haben, bei gleich­zei­tigem Wissen, damit keinen Platz in der kasa­chi­schen Film­land­schaft zu erhalten (wes­halb Isa­baeva den Film nach den offi­zi­ellen Fes­ti­val­vor­füh­rungen auch auf You­Tube ver­öf­fent­lichte). Otver­gnutye steht für einen poli­ti­schen Akti­vismus, der Auf­merk­sam­keit auf ein unbe­quemes Thema lenkt, es spürbar macht und des­halb Auf­merk­sam­keit verdient.

 

Isa­baeva, Žanna: Otver­gnutye (Abge­lehnt). Kasach­stan, 2018, 88 Min.