Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Von deflo­rierten Skulp­turen und dem Pro­blem des Zeittotschlagens

Er habe kein aka­de­mi­sches Buch ver­fassen wollen, kein Nach­schla­ge­werk, son­dern eine Chronik „seiner Epoche, seiner Zeit, seiner Kunst“, sagt Andrej Kovalev, einer der ein­fluss­reichsten zeit­ge­nös­si­schen rus­si­schen Kunst­kri­tiker. Er hat das Genre der kri­ti­schen Kunst­be­trach­tung für Russ­land nach der Pere­strojka gewis­ser­maßen neu erfunden und nun ein über 400 Seiten starkes Buch mit dem etwas irre­füh­renden Titel Ros­s­ijskij Akcio­nizm 1990–2000 (Rus­si­scher Aktio­nismus 1990–2000) her­aus­ge­geben. Anfang des ver­gan­genen Jahres wurde ihm hierfür von der Föde­ralen Agentur für Kultur und Kine­ma­to­grafie sowie dem National Centre for Con­tem­po­rary Arts der Preis Inno­va­cija (Inno­va­tion) in der Kate­gorie ‚Theorie, Kritik, Kunst­wis­sen­schaft‘ ver­liehen. Ein­ein­halb Jahre „höl­li­scher Arbeit“ habe ihn dieses Buch gekostet. Und um es vorweg zu nehmen: Diese Arbeit hat sich gelohnt.

Kovalev erfasst in seiner Chronik wesent­lich mehr Per­for­mances als bloß die des klas­si­schen Mos­kauer Aktio­nismus von Alek­sandr Brenner, Oleg Kulik, Avdej Ter-Ogan’jan, Ana­tolij Osmo­lovskij oder Oleg Mavro­mati. Nicht ana­ly­tisch, son­dern viel­mehr sam­melnd, einem Archäo­logen gleich, hat der Her­aus­geber alles zusam­men­ge­tragen, wobei rus­si­sche Künstler ‚in Aktion‘ getreten sind, gleich ob in Russ­land selbst – in Moskau, Sankt Peters­burg, Eka­te­rin­burg, in Novo­si­birsk, Kali­nin­grad und Voronež – oder im Aus­land –  in Deutsch­land, Frank­reich, Däne­mark, Kanada oder Japan. Die Aktionen sind  nach Jahren geordnet akri­bisch mit Angaben zu Datum, AutorInnen, Titel, Ort, Beschrei­bung der Gescheh­nisse, Teil­neh­me­rInnen und in man­chen Fällen auch Dauer und Mate­rial ver­sehen. Eine gewisse Ver­nach­läs­si­gung prä­ziser kunst­his­to­ri­scher Ter­mini ermög­licht ihm einen erstaun­lich sowie erfreu­lich umfas­senden Blick auf seinen Gegen­stand. Kovalev ver­zichtet bewusst auf eine strikte Tren­nung von Per­for­mance (eine geplante, thea­trale Hand­lung nach einem bestimmten Sze­nario), Aktion (eine geplante Hand­lung mit unbe­kanntem Aus­gang) oder Hap­pe­ning (eine spon­tane Hand­lung mit unbe­kanntem Aus­gang). Für ihn gilt viel­mehr: Eine Per­for­mance ist „eine Hand­lung, die vom Künstler aus­ge­führt wird, die aber nicht zur Her­stel­lung eines mate­ria­lis­ti­schen Objekts führt“. Sein Buch widmet sich folg­lich der Per­for­mance als „stil­bil­dendem Genre“ der 1990er Jahre mit all ihrer direkten Kör­per­lich­keit (teles­nost’), ohne sti­lis­ti­sche Unter­schiede als Ein­schrän­kung zu empfinden.

Die 1990er Jahre mar­kieren für Kovalev den Beginn der Per­for­mances im sozialen Raum. Als eines der frü­hesten Bei­spiele rus­si­scher Akti­ons­kunst nennt die Chronik die Aktion Rož­denie agenta (Die Geburt des Agenten) von 1990. In dieser ent­fernten Sergej Anuf­riev und Sergej Bugaev Afrika eine Metalltür aus der Skulptur Arbeiter und Bäuerin von Vera Muchina und ent­jung­ferten sie damit gewis­ser­maßen. Doch den Beginn der Epoche der per­for­ma­tiv­naja teles­nost’ (per­for­ma­tive Kör­per­lich­keit) datiert Kovalev erst auf den 18. April 1991, den Tag, an dem Mit­glieder der Gruppe E.T.I.Eks­pro­pria­cija ter­ri­torii iskusstva (Expro­pria­tion des Ter­ri­to­riums der Kunst) um Ana­tolij Osmo­lovskij auf dem Roten Platz in Moskau aus ihren Kör­pern das Wort ChUJ (Schwanz) legten. Diese Aktion ver­deut­licht laut Kovalev, welch bedeu­tende Rolle die bewusste Media­li­sie­rung, die gezielte Infor­ma­tion der Presse, über­haupt erst für die Wahr­neh­mung und den Erfolg der Per­for­mances spielte. Zahl­reiche Zei­tungs­ar­tikel zu dieser Aktion unter­strei­chen diesen Ansatz. Bereits hier werden die neuen ‚Spiel­re­geln‘ im rus­si­schen (zu der Zeit noch sowje­ti­schen) Kunst­system deut­lich: Anklage wegen Erre­gung öffent­li­chen Ärger­nisses gegen Osmo­lovskij wurde auf einen Zei­tungs­ar­tikel hin erhoben. Ohnehin ist es vor dem aktu­ellen Hin­ter­grund auf­schluss­reich zu erfahren, wie oft Künstler in den 1990er Jahren von der Miliz im Anschluss an ihre Per­for­mances ver­haftet und befragt, jedoch meist gegen eine geringe Geld­strafe wieder frei­ge­lassen wurden. Es ver­wun­dert beinah, dass es zu den ersten Anklagen nebst Gerichts­pro­zessen erst Ende der 1990er Jahre und zu Beginn des neuen Jahr­tau­sends kam.

In Andrej Kovalevs Buch treten all­ge­mein bekannte Aktionen wie Bešenyj Pes, ili Pos­lednee Tabu, Ochran­jaemoe Odi­nokim Cer­berom (Toll­wü­tiger Hund, oder Das letzte Tabu, von einem ein­samen Zer­berus bewacht) von Oleg Kulik und Alek­sandr Brenner oder Oleg Mavro­matis Ne ver’ glazam (Traue Deinen Augen nicht) beinah in den Hin­ter­grund vor einer enormen Mate­ri­al­fülle, die Namen auf­führt, die selbst ein­ge­weihten Ken­nern der Szene kaum bekannt sein dürften. So liegt die Stärke dieser Chronik gerade in einem gewissen Sinn für Gleich­be­rech­ti­gung. Sie räumt der Gruppe Bez naz­va­nija (Ohne Titel), bestehend aus Alek­sandr Brenner, Anton Litvin und Bogdan Mamonov (letz­tere sind eher als Mit­glieder der Gruppe ESCAPE bekannt), sowie den Solo­ak­tionen von Anton Litvin im Ver­gleich zu jenen von Brenner einen nicht weniger großen Platz ein. Eine Ent­de­ckung gerade im Kon­text der zahl­rei­chen aktu­ellen Klagen ortho­doxer Gläu­biger und Ver­ei­ni­gungen gegen zeit­ge­nös­si­sche Künstler und vor allem Aus­stel­lungs­ma­cher ist hier Lit­vins Per­for­mance Raspni Ego! (Kreu­zige ihn!) vom 21. April 1995. Am Kar­freitag ent­rollte der Künstler auf der Nikol’skaja Straße in Moskau ein Trans­pa­rent mit der Auf­schrift ‚Raspni Ego!’ (Kreu­zige ihn!), in das er sich zuvor ein­ge­hüllt hatte. Über die Straße war am Ort der Per­for­mance ein Banner mit den Worten „S Voskre­se­niem Chris­tovym!“ (Auf­er­standen ist der Herr!) gespannt. Ob und, falls ja, welche Kon­se­quenzen diese Aktion hatte, ist hier jedoch nicht zu erfahren.

Kovalev lässt auch die Per­for­mance­künst­lerin Liza Morozova (eben­falls spä­teres Mit­glied der Gruppe ESCAPE) gleich­be­rech­tigt neben der ungleich bekann­teren Elena Kovy­lina in Erschei­nung treten und gibt den über Sankt Peters­burg hinaus kaum bekannten Novye Tupye (Neue Stumpf­sin­nige) eben­so­viel Raum wie den im inter­na­tio­nalen Kunst­markt her­um­ge­reichten Blue Noses. Deren Label hat sich in den ver­gan­genen Jahren derart eta­bliert, dass ihre Ent­ste­hungs­ge­schichte weit­ge­hend in Ver­ges­sen­heit geraten ist. In Kovalevs Buch jedoch ist sie aus­führ­lich doku­men­tiert: Im Oktober 1999 ließen sich zehn Künstler, dar­unter Dmitrij Bul­nygin, Vjačeslav Mizin und Kon­stantin Skot­nikov, drei Tage lang in einem Bunker in Novo­si­birsk ein­schließen, um das Pro­blem des ‚Zeit­tot­schla­gens‘ zu erfor­schen. Hieraus ent­stand eine Serie fil­misch fixierter komö­di­an­ti­scher Mini-Per­for­mances, bei denen sich die Künstler die blauen Ver­schlüsse von Was­ser­fla­schen auf ihre Nasen gesetzt hatten. Das so ent­stan­dene Label wird heute nur noch von Slava Mizin und Alek­sandr Šaburov ver­wendet. Bei Kovalev ist auch noch einmal nach­zu­lesen, welche Per­for­mances Šaburov und Mizin zur Ent­ste­hungs­zeit der Blue Noses ver­an­staltet haben, mit denen sie eine als „Eka­te­rin­burger Aktio­nismus“ bezeich­nete Rich­tung prägten. Šabu­rovs sicher­lich auf­se­hen­er­re­gendste Per­for­mance stammt vom 27. August 1998, seinem 33. Geburtstag. An diesem Tag insze­nierte der Künstler unter dem Titel Kto kak umret (Wie man stirbt) sein eigenes Begräbnis. Neben einer Aus­stel­lung seiner rea­li­sierten und nicht rea­li­sierten Pro­jekte lag der Künstler in einem offenen Sarg. Seine Freunde und Bekannten nahmen an dieser Toten­feier teil und hielten Reden auf den ‚Ver­stor­benen‘. Eben­falls in der Chronik ver­treten ist seine Aktion von 1998 Lečenie i pro­te­zi­ro­vanie zubov (Hei­lung und Über­kro­nung der Zähne), in deren Rahmen es Šaburov gelungen war, eine aus­gie­bige Zahn­be­hand­lung in ein künst­le­ri­sches Pro­jekt umzu­widmen und hierfür Gelder von der Soros Foun­da­tion zu erhalten. Auch Mizins Solo-Per­for­mances, bei­spiels­weise sein aus Eigen­blut gespraytes Por­trät oder seine Urin­du­sche, sind in dem Buch aufgeführt.

Die unge­heure Mate­ri­al­fülle führt jedoch auch zu einer gewissen Belie­big­keit. So breit Kovalev den Begriff der ‚Aktion‘ gefasst hat – alles, wobei Künstler ‚in Aktion‘ treten –, so stark fasern die Grenzen dessen, was dieses Buch zu bün­deln sucht, in einigen Fällen auch aus. Neben allem, was sich nach mehr oder minder groß­zü­gigen Maß­stäben unter dem Ober­be­griff der Per­for­mance ein­ordnen lässt, ver­wun­dern solche Pro­jekte wie Vybor naroda (The People’s Choice) von Vitalij Komar und Alek­sandr Melamid, die aus­ge­hend von einer von einem Markt­for­schungs­in­stitut durch­ge­führten Umfrage das Lieb­lings­bild und das meist gehasste Bild einer Nation anfer­tigten. Auch Vadim Fiškins Arbeit in der Wiener Seces­sion 1997 Majak (Leucht­turm), bei wel­cher der Künstler die Kuppel des Seces­si­ons­ge­bäudes über seinen Herz­schlag gesteuert rhyth­misch zum Leuchten brachte, scheint hier ebenso unpas­send wie Aktionen der Nekro­rea­listen oder auch der Neuen Aka­demie an der Grenze zu Film­auf­nahmen. Eher ver­zeih­lich sind einige Flüch­tig­keits­fehler in den Titeln der Aktionen – Kuliki statt Dva Kulika (Two Kuliks) – oder der unter­schied­li­chen Benen­nung glei­cher Ver­an­stal­tungs­orte – ‚Dom chu­dož­nika‘ (Künst­ler­haus) und ‚Künst­ler­haus Bethanien‘.

Der Wunsch nach Voll­stän­dig­keit ehrt den Her­aus­geber, doch wird ins­ge­samt die Pro­ble­matik der schlüs­sigen the­ma­ti­schen Ein­gren­zung evi­dent. Den­noch ist Kovalev mit seiner Chronik ein ver­dienst­volles Buch gelungen, das wert­volle Mate­ria­lien für wei­tere For­schungen lie­fert und einen span­nenden Über­blick über zahl­reiche bei­nahe schon in Ver­ges­sen­heit gera­tene künst­le­ri­sche Aktionen bietet.

 

Andrej Kovalev: Ros­s­ijskij Akcio­nizm 1990–2000. WAM – World Art Muzej № 28–29. Moskau 2007.