Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

„Wir arbeiten immer in Co-Autor­schaft, und zwar mit der gesamten Kunstgeschichte“

Yuri Albert im Gespräch mit Sabine Hänsgen

Yuri Albert (*1959) ist einer der wich­tigsten Ver­treter des Mos­kauer Kon­zep­tua­lismus. In den 1970er Jahren begann er sein künst­le­ri­sches Schaffen in der inof­fi­zi­ellen sowje­ti­schen Kul­tur­szene. Geprägt von den Erfah­rungen der Selbst­or­ga­ni­sa­tion in diesem Milieu fand er zu seinen kri­ti­schen und (selbst-)ironischen Refle­xionen des Sys­tems Kunst.

Das Kunst­mu­seum Liech­ten­stein widmet dem aus Russ­land stam­menden Künstler, der heute in Köln und Moskau lebt, die erste umfas­sende Ein­zel­aus­stel­lung aus­ser­halb Russ­lands: Elitär-demo­kra­ti­sche Kunst, 21.9.2018 – 20.1.2019, kura­tiert von Sandra Frimmel und Sabine Hänsgen.
Im November 2017 war Yuri Albert Künst­ler­sti­pen­diat im ERC-Pro­jekt Per­for­mance Art in Ost­eu­ropa (1950–1990): Geschichte und Theorie an der Uni­ver­sität Zürich. Wäh­rend seines Auf­ent­halts in Zürich rea­li­sierte er im Kul­tu­r­Ate­lier der Stif­tung Arina Kowner die Aus­stel­lung Werke und Tage. Aus diesem Anlass sprach novinki mit dem Künstler über seine Erfah­rungen im Mos­kauer Under­ground, Kon­zept­kunst zwi­schen West und Ost, Kunst als Zeit­ver­treib sowie über das Ver­hältnis von Tra­di­tion und Avant­garde, ‚wahrer‘ und zeit­ge­nös­si­scher Kunst.

Sabine Hänsgen: Wir haben uns, wenn ich mich recht erin­nere, im Jahr 1982 bei der Eröff­nung der ersten Apt-Art-Aus­stel­lung in der Woh­nung Nikita Alek­seevs ken­nen­ge­lernt. In den 1980er Jahren fanden solche Aus­stel­lungen auf Initia­tive der zweiten Gene­ra­tion des Mos­kauer Kon­zep­tua­lismus statt, zu der Du eben­falls gehörst. Uns haben damals die Formen der künst­le­ri­schen Selbst­or­ga­ni­sa­tion jen­seits von staat­li­cher Kultur und Kunst­markt, diese beson­dere Atmo­sphäre der Gemein­schaft­lich­keit sehr beeindruckt.
Prägt die Erfah­rung der Sozia­li­sa­tion im Milieu der Mos­kauer inof­fi­zi­ellen Kultur wei­terhin Deine Hal­tung als Künstler, auch nachdem Du nach Köln über­ge­sie­delt bist und mitt­ler­weile zwi­schen Köln und Moskau pendelst?

 

Yuri Albert: Ja, in der End­phase der Sowjet­union bil­dete sich eine ein­zig­ar­tige Form der Selbst­or­ga­ni­sa­tion von Künst­lern jen­seits der vom Staat kon­trol­lierten Kultur heraus.
Die inof­fi­zi­elle Kultur jener Zeit lässt sich viel­leicht noch genauer als ille­gale Kultur bezeichnen, denn die öffent­liche Prä­sen­ta­tion aller ihrer Aus­drucks­formen war ver­boten und wurde häufig unter Strafe gestellt. Infol­ge­dessen ent­wi­ckelte sich diese Kunst und Lite­ratur in einem engen Kreis, der an die ersten Christen erin­nert. Die Bezie­hungen von Autor und Zuschauer nahmen in diesem Kreis einen ganz eigenen Cha­rakter an. Prak­tisch kannten sich alle Zuschauer und Leser per­sön­lich und fast alle waren auch selbst Autoren. Der Aus­druck ‚Ideen­aus­tausch‘ ist hier wört­lich zu ver­stehen: Ich höre mir heute Deine Gedichte an, und Du sagst mir morgen Deine Mei­nung über meine Bilder. Eine enga­gierte Dis­kus­sion und ver­ständ­nis­volle Auf­nahme waren so gut wie garan­tiert. In dieser Situa­tion reichte es häufig aus, einen Bekannten anzu­rufen und zu sagen: „Weisst Du, ich habe fol­gende Idee für eine Arbeit“ – und dann diese Arbeit ein­fach zu beschreiben. Danach machte es über­haupt keinen Sinn mehr, die Arbeit zu rea­li­sieren. Eine Inter­ak­tion zwi­schen Künstler und Zuschauer hatte ja bereits statt­ge­funden. Dies för­derte sicher­lich die Erkenntnis, dass die Idee schon das Werk sei, das als sol­ches nicht unbe­dingt einer Rea­li­sie­rung bedürfe.
Und darum geht es ganz all­ge­mein im Kon­zep­tua­lismus. Ande­rer­seits haben die Künstler meiner Gene­ra­tion gerade des­wegen so wenige ‚frühe‘ Arbeiten. Es gab irgendwie keine Not­wen­dig­keit, diese Arbeiten her­zu­stellen, da man sie nicht ver­kaufen und auch nir­gends auf­be­wahren konnte.
Was den Markt betrifft, so war dieser nicht nur im Unter­grund, son­dern auch in der offi­zi­ellen Kultur kaum vor­handen. Wenn wir in selten uns errei­chenden west­li­chen Publi­ka­tionen über den Kampf mit der Kom­mer­zia­li­sie­rung der Kunst lasen, ver­standen wir nicht recht, was das sein sollte. In der UdSSR gab es andere Gründe für eine ‚Dema­te­ria­li­sie­rung der Kunst‘.
Der Zuschauer war für uns eine mythi­sche Figur. Wir sehnten uns nach ihm, träumten von ihm, fürch­teten ihn aber auch. Nicht umsonst waren Zuschauer oder ihre Abwe­sen­heit Thema vieler Arbeiten – von den Pro­jekten Ilya Kaba­kovs bis zu meinen eigenen.
All das änderte sich nach der Pere­strojka. Als die ersten erlaubten Aus­stel­lungen statt­fanden, tauchten Zuschauer auf, die wir nicht mehr per­sön­lich kannten, d.h. Zuschauer als soziale Gruppe. Und das ver­än­derte auch spürbar meine eigene Kunst, weil ich sie nicht mehr für mir bekannte, son­dern für unbe­kannte Zuschauer machte. Dies waren aber immer noch Men­schen, deren kul­tu­relles Gepäck und deren Reak­tion ich mir vor­stellen konnte, d.h. Men­schen mit einem tota­li­tären Back­ground, die von ähn­li­chen kul­tu­rellen Kli­schees wie ich selbst geprägt waren. Als ich nach Deutsch­land über­sie­delte, wurde es für mich immer schwie­riger, mir meine Zuschauer vor­zu­stellen und sie zu ver­stehen, denn sie haben in der Kind­heit andere Bücher gelesen, andere Trick­filme geschaut und andere Schlager gehört.
In dieser Aus­stel­lung ist eine meiner frühen Arbeiten zu sehen: Yu. F. Albert gibt alle von ihm aus­ge­strahlte Wärme anderen Men­schen ab. Im Jahr 1979 haben diese Arbeit bei einer ille­galen Woh­nungs­aus­stel­lung 15 Men­schen gesehen. Die Wärme aber biete ich allen an.

 

Yuri Albert gibt alle von ihm ausgestrahlte Wärme anderen Menschen ab. 1979. SW-Fotografie. Foto: Jurij Želtov

Yuri Albert gibt alle von ihm aus­ge­strahlte Wärme anderen Men­schen ab. 1979. SW-Foto­grafie. Foto: Jurij Želtov

 

S.H.: Für Deine Aus­stel­lung im Kul­tu­r­Ate­lier Arina Kowner hast Du einen pro­gram­ma­ti­schen Titel gewählt: “Werke und Tage”. Wir sehen im Aus­stel­lungs­raum Gemälde, Zeich­nungen, Skulp­turen, Assem­blagen, Spie­gel­ob­jekte, Foto­gra­fien… Du hast jedoch nicht nur ‚fer­tige‘ Werke nach Zürich mit­ge­bracht, son­dern hier auch Deine Tage ver­bracht. Wichtig ist für Dich also das Ver­bringen der Zeit mit einer bestimmten Art von künst­le­ri­scher Beschäf­ti­gung. Welche Rolle spielen die Tra­di­tionen der pro­zes­sualen Kunst, ja das Per­for­ma­tive in Deinem Schaffen?

 

Y.A.: Die ein­fachste Ant­wort auf diese Frage besteht in dem Hin­weis, dass eine der Arbeiten tat­säch­lich 20 Mai­tage im Jahr 2017 zeigt. In Bezug auf mein gesamtes Schaffen waren für mich stets nicht nur die Ideen sehr wichtig, die meinen Arbeiten zugrun­de­liegen, son­dern auch der Pro­zess ihrer Ver­wirk­li­chung. Nicht von unge­fähr geben wir auf die Frage nach dem Beruf auf Rus­sisch häufig die Ant­wort: „Ich beschäf­tige mich mit Kunst.“
Beson­ders wichtig ist das für einen Typ von Kunst, der his­to­risch nicht mehr mit vorher fest­ge­legten pro­fes­sio­nellen Fer­tig­keiten ver­bunden ist. Was bedeutet es, sich mit Kunst zu beschäf­tigen, wenn diese Beschäf­ti­gung aus allem Mög­li­chen bestehen kann– vom Zeichnen mit Blei­stift bis zur Zer­stö­rung fremder Zeich­nungen, vom Graben einer Grube bis zum Ver­kauf von Schnee­bällen auf den Strassen New Yorks?
Ende der 1970er Jahren haben mich einige Texte von Robert Morris sehr beein­druckt, die Nadežda Stol­povs­kaja über­setzt hatte, und eben­falls Arbeiten von Bruce Nauman, Lynda Benglis und Les Levine aus dem Bereich der post­mi­ni­ma­lis­ti­schen, pro­zes­sualen Kunst. In der rus­si­schen Kunst kann man etwas Ähn­li­ches im Umblät­tern von poe­ti­schen Kar­tei­karten bei Lev Rubin­stein oder in der Grafik Nadežda Stol­povs­kajas finden. Unter meinen Arbeiten gibt es viele, bei denen der Pro­zess der Her­stel­lung wich­tiger ist als das Resultat und bei denen gerade der Pro­zess dem Resultat einen Sinn ver­leiht. Dar­unter sind solche Arbeiten wie das Zusam­men­setzen und Signieren von Gemäl­de­puz­zles, das Abschreiben von Briefen ver­schie­dener Künstler oder das hand­schrift­liche Kopieren des Pres­se­e­chos zu meinen Ausstellungen.

 

Aus­stel­lungs­an­sicht Werke und Tage im Kul­tu­r­Ate­lier der Stif­tung Arina Kowner, Zürich 2017.

 

S.H.: Wenden wir uns nun Deinen Lang­zeit­pro­jekten zu. Seit 1992 schreibst Du immer wieder Texte über Dich und Dein Werk ab. In Zürich hast Du die Kata­log­bro­schüre zu dem Bremer Aus­stel­lungs­pro­jekt “Fragen der Kunst: Mos­kauer Abstim­mung” abge­schrieben. Was bedeutet diese Abschreib-Per­for­mance für Dich? Medi­ta­tion, The­rapie? Du sprichst auch von einem Buss-Ritual?

 

Y.A.: Das Pro­jekt geht von der Annahme aus, dass sich die Kunst in wahre und in zeit­ge­nös­si­sche Kunst ein­teilen lässt. Auf dieser Gegen­über­stel­lung war letzt­lich auch die mar­xis­ti­sche Kritik des Moder­nismus begründet. Und man muss sagen, es ist eine ziem­lich pro­duk­tive Gegen­über­stel­lung. Für die Ver­treter der euro­päi­schen Kultur, zu der unter Vor­be­halt auch Russ­land gerechnet wird, ist diese Gegen­über­stel­lung ganz offen­sicht­lich. Wenn wir ‚Kunst­werk‘ sagen, dann stellen wir uns meis­tens ein Gemälde in einem Rahmen oder eine Mar­mor­skulptur vor. Viel­leicht ist das bei der jün­geren Gene­ra­tion schon anders, aber für meine Gene­ra­tion ist das so. Wenn ich in ein Museum komme und ein Gemälde von Tizian sehe, stellt sich mir nicht die Frage, ob das Kunst ist oder nicht. Wenn ich aber eine Kom­po­si­tion aus drei Gleisen und einem Ton­band­gerät sehe, dann ist das mög­li­cher­weise auch keine Kunst. Das können ein­fach drei zufällig neben­ein­an­der­lie­gende Gleise und ein Ton­band­gerät sein, das ein Eisen­bahn­ar­beiter ver­gessen hat.
Als ich in die Kunst­schule und später in die Hoch­schule kam, träumte ich selbst auch davon, mich mit wahrer Kunst zu beschäf­tigen. In meiner jugend­li­chen Vor­stel­lung war das etwas zwi­schen van Gogh und Modi­gliani – etwas Hoch­spi­ri­tu­elles, Unwie­der­hol­bares und Unbe­schreib­li­ches. Als ich jedoch her­an­wuchs und Künstler wurde, zeigte sich, dass es keine andere Kunst als die zeit­ge­nös­si­sche mehr gab und auch nicht mehr geben wird. Du träumst davon, etwas Wahres zu schaffen, und es kommt doch nur etwas Zeit­ge­nös­si­sches dabei heraus.
Wie alle Künstler sammle ich das Pres­se­echo zu meinem Werk: Kata­loge, Alben, Rezen­sionen, Zei­tungs­ar­tikel, und ich bin stolz auf die posi­tive Reaktion.
Im Unter­schied zu anderen Künst­lern ver­gesse ich aber nicht, dass meine Kunst nur zeit­ge­nös­sisch ist – und da gibt es nichts, worauf man stolz sein kann. Für die Sünde der Beschäf­ti­gung mit zeit­ge­nös­si­scher Kunst muss man Busse tun. Darum nehme ich Trans­pa­rent­pa­pier, lege es auf die gedruckten Texte über mich und schreibe diese Texte von Hand mit Tusche ab. Buch­stabe für Buch­stabe und Zeile für Zeile. Anstelle der Repro­duk­tionen setze ich schwarze Recht­ecke ein.
Auf diese Weise sind Hun­derte von gra­fi­schen Blät­tern ent­standen, die sich auf meine vor­her­ge­henden Arbeiten und Aus­stel­lungen beziehen. Wenn man seine Kata­loge vor­zeigt, blät­tern die Leute für gewöhn­lich ein­fach nur gleich­gültig darin, aber nie­mand liest wirk­lich. Und auch bei Aus­stel­lungs­er­öff­nungen schaut nie­mand die Bilder an, alle trinken etwas und unter­halten sich. Wenn aber die­selben Texte anstelle von Bil­dern an der Wand hängen, fängt das Publikum aus irgend­einem Grund an, sie auf­merksam zu lesen, um sich anhand der wenig infor­ma­tiven Rezen­si­ons­texte und Artikel das Schaffen eines gewissen Künst­lers Albert vorzustellen.
Das ist ein wei­teres wich­tiges Thema für mich: Kunst, die in der Nach­er­zäh­lung, in Wie­der­ho­lungen, in Erin­ne­rungen oder in der Vor­stel­lung existiert.

 

Aus­stel­lungs­an­sicht Werke und Tage im Kul­tu­r­Ate­lier der Stif­tung Arina Kowner, Zürich 2017.
Zu sehen sind die Arbeiten: Abbil­dung aller Dop­pel­seiten aus dem Katalog Fragen der Kunst: Mos­kauer Abstim­mung. 2017. Trans­pa­rent­pa­pier, Tusche; Selbst­por­träts mit ver­bun­denen Augen. 2017. Papier, Karton.

 

S.H.: Ein anderes Lang­zeit­pro­jekt sind die Selbst­por­träts, die Du seit 1996 mit ver­bun­denen Augen zeich­nest. Du ver­wan­delst Dich dabei in einen blinden Zeichner, indem Du ganz tra­di­tio­nell – aller­dings mit einer schwarzen Augen­binde – vor einer Staf­felei und einem Spiegel Platz nimmst. Das Selbst­por­trät wird so zum Selbst­ex­pe­ri­ment. Könn­test Du den Ver­suchs­aufbau genauer erläutern?

 

Y.A.: Selbst­por­träts sind eines der wich­tigsten Genres für einen Künstler. In den alten Zeiten, als Bilder auf Bestel­lung oder für den Ver­kauf gemacht wurden, konnte der Auf­trag­geber bei den Selbst­por­träts erkennen, wie gut ein bestimmter Künstler arbeitet. Später wurde das Selbst­por­trät in gewissem Sinne zu einem Mani­fest des Künst­lers, in dem er seine Sicht von Rolle und Ort des Künst­lers in der Welt vor­führte. Auf para­doxale Weise wurde die Bedeu­tung des Selbst­por­träts in der Moderne weiter gestei­gert. Das Paradox besteht darin, dass die Geschichte der modernen Kunst, obwohl sie sich unter der Losung „Ich sehe das so“ vollzog, tat­säch­lich auf eine all­mäh­li­chen Absage an das Sehen, an das Schauen auf die Welt hinauslief.
Auf den ersten Blick erin­nern meine Selbst­por­träts mit ver­bun­denen Augen an Expe­ri­mente der Sur­rea­listen mit dem auto­ma­ti­schen Schreiben, aber mich inter­es­siert das Spiel mit dem Unbe­wussten eigent­lich nicht. Im Gegen­teil inter­es­siert mich, wie­viel Über­be­wusstes, All­ge­meines, Banales und Wie­der­erkenn­bares bei dieser Arbeits­me­thode übrigbleibt.
Im Prinzip ist leicht zu erkennen, dass dies Selbst­por­träts sind – von der Kom­po­si­tion und der Pose der mensch­li­chen Figur her. Aber es ist über­haupt nicht zu erkennen, wessen Selbst­por­träts dies sind. Das sind gewis­ser­massen ‚Selbst­por­träts als solche‘, das Modell des Selbst­por­träts. Einen Autor gibt es hier nicht.

 

Yuri Albert zeichnet das Selbstporträt mit verbundenen Augen Nr. 1. 1996. Foto: Renate Harmens

Yuri Albert zeichnet das Selbst­por­trät mit ver­bun­denen Augen Nr. 1. 1996. Foto: Renate Harmens

 

Yuri Albert: Selbst­por­träts mit ver­bun­denen Augen, Nr. 36. 2017. Papier, Bleistift

S.H.: Und noch ein Frag­ment aus einem Lang­zeit­pro­jekt ist in der Aus­stel­lung zu sehen: “I Am Still Alive”. Für mich ist diese Serie von Spie­gel­ob­jekten auch eine Art Selbst­por­trät, bei der die Dimen­sion des Visu­ellen (das Spie­gel­bild) mit der Dimen­sion des Per­for­ma­tiven (das täg­liche Behau­chen des Spie­gels) in ein Span­nungs­ver­hältnis tritt. Die Bezeich­nung der Technik ist bei dieser Arbeit sehr unge­wöhn­lich: Spiegel, Atem, Sieb­druck. Wie hast Du diese spe­zi­fi­sche Technik verwendet?

 

Y.A.: Am besten erzähle ich zunächst, wie ich dieses Pro­jekt genau rea­li­siere. Jeden Tag hauche ich auf einen Spiegel, als ob ich mich ver­ge­wis­sern wolle, dass ich noch lebe. Dann scanne ich den auf dem Spiegel ent­stan­denden Fleck. Mit Hilfe eines durch­sich­tigen Lacks drucke ich anschlies­send die Flecke auf Spie­geln aus. Ins­ge­samt sollen es 365 Spiegel sein – ent­spre­chend der Anzahl von Tagen im Jahr.
Es ist offen­sicht­lich, dass dieses Pro­jekt eben­falls zu der Gruppe meiner Arbeiten gehört, bei denen es um mono­tone, all­täg­liche Hand­lungen geht.
Ande­rer­seits ist man hier an eine andere Gruppe meiner Arbeiten erin­nert, die mit abs­trakter Malerei zu tun hat (Gemälde, mit der Asche ver­brannter Bücher gemalt und so weiter). Mich hat immer inter­es­siert, was der Inhalt abs­trakter Bilder ist, was all diese Pin­sel­striche, Fle­cken und Recht­ecke bedeuten können. Wie wird in ihnen das über­tragen, was manche Kunst­wis­sen­schaftler als ‚Atem des Lebens‘ bezeichnen? Warum soll ich glauben, dass dieses Bild bespiels­weise das ‚Gefühl kos­mi­scher Ein­sam­keit‘ zum Aus­druck bringt und jenes dort ‚Lebens­freude‘ oder ‚meta­phy­si­sche Leere‘? Worauf gründet sich dаs Ver­trauen in den Künstler? Jeder dieser Spiegel ist ein kleines abs­traktes Bild, das uns mit­teilt, dass der Künstler noch lebt, dass er noch atmet. Wenn Sie frei­lich meiner Erzäh­lung dar­über Glauben schenken, wie ich sie her­ge­stellt habe.

 

Yuri Albert: 20 Tage im Mai. Frag­ment des Jah­res­pro­jekts I Am Still Alive. 2017. Spiegel, Atem, Siebdruck.

 

Yuri Albert: 20 Tage im Mai. Frag­ment des Jah­res­pro­jekts “I Am Still Alive”. 2017. Spiegel, Atem, Siebdruck.

S.H.: In Deinem Werk setzt Du Dich immer wieder zum Schaffen anderer Künstler in Bezie­hung – bei der Serie “I Am Still Alive” etwa zu On Kawara. Bei dem “Unvoll­endeten Ent­wurf zum grossen Gemälde ‹Les Grands-Papas d’Avignon›” ist der Bezug zu einem Schlüs­sel­werk Pablo Picassos, das den Kubismus in der modernen Malerei ein­lei­tete, auch durch den Titel signa­li­siert. Die jungen Mäd­chen bei Picasso sind jedoch zu Gross­vä­tern geworden. Wie ist diese Umkeh­rung zu verstehen?

 

Y.A.: Ja, bei mir gibt es viele Arbeiten, die auf Arbeiten anderer Künstler ver­weisen – von welt­be­kannten Künst­lern bis zu nahen Freunden. Bei der Serie I Am Still Alive beziehe ich mich übri­gens nicht nur auf On Kawara, son­dern auch auf Alek­sandr Brener, der wäh­rend einer Aktion eben­falls auf Spiegel hauchte. In einem meiner ersten Texte habe ich geschrieben, dass für mich die Bezie­hungen zwi­schen Künst­lern und Werken, etwa Ein­flüsse, Aneig­nungen, Ent­geg­nungen oder ein Pla­giat wich­tiger sind als die Werke selbst. Ein Werk wird erst im Pro­zess des Ver­gleichs mit anderen Werken zu einem Kunst­werk. Selbst alte Gemälde, zum Bei­spiel die Por­träts von Frans Hals, können wir nicht mit dem lebenden Men­schen ver­glei­chen, son­dern nur mit anderen Por­träts. Des­halb kommt es mir seltsam vor, wenn Künstler abstreiten, dass sie von jemandem beein­flusst wurden oder dass sie Ent­de­ckungen anderer in ihren Arbeiten ver­wendet haben. Im Gegen­teil, je mehr Gemein­sam­keiten man zwi­schen ver­schie­denen Künst­lern finden kann – umso inter­es­santer ist es. Wir arbeiten immer in Co-Autor­schaft, und zwar mit der gesamten Kunst­ge­schichte. Künstler setzen immer das Werk ihrer Vor­gänger fort.
Doch dabei irren sie sich häufig, und diese Fehler bringen neue Ent­de­ckungen hervor. Ein nicht richtig ver­stan­dener Impres­sio­nismus plus eine nicht richtig ver­stan­dene Theorie Che­v­reuils waren die Grund­lage für den Poin­til­lismus. Der rus­si­sche Futu­rismus und der Mos­kauer Kon­zep­tua­lismus sind auch in vielem das Resultat eines sol­chen Nichtverstehens.
Im Rus­si­schen unter­scheiden sich die Gross­väter (deduški) ledig­lich durch einen Buch­staben von den Mäd­chen (devuški). Es ist, als ob ich den Titel nicht richtig gehört hätte – und die Arbeit ver­än­dert voll­kommen ihren Sinn. Ich habe vor, noch wei­tere Arbeiten auf diese Weise zu machen. Vor einigen Jahren hat übri­gens mein Freund Viktor Skersis ähn­liche Dinge gemacht. Ich wie­der­hole also nicht nur Picasso, son­dern auch Skersis, aber auch ihn mit Fehlern.

 

Yuri Albert: Unvoll­endeter Ent­wurf zum grossen Gemälde Les Grands-Papas d’Avignon. 2015. Acryl / Leinwand.

 

S.H.: In der Aus­stel­lung gibt es dar­über hinaus eine Reihe von skulp­tu­ralen Werken, die das System Kunst the­ma­ti­sieren – bei­spiels­weise ein Objekt, das Du sei­ner­zeit in einem sowje­ti­schen Schreib­wa­ren­ge­schäft erworben hast: einen Kugel­schrei­ber­ständer in Form einer Palette. Es han­delt sich um ein Ready-Made, darauf weist uns wie­derum der Titel hin. Worin genau besteht aber Deine Polemik mit dem Ver­ständnis des Ready-Mades bei Marcel Duchamp?

 

Y.A.: Ja, ich habe eine ganze Serie von ‚Anti-Duchamp‘–Objekten. Hier geht es darum, dass sich in den letzten hun­dert Jahren die Künstler mit allen Kräften bemühen, die Grenze zwi­schen Kunst und Leben zu zer­stören, indem sie ent­weder Abste­cher ‹in das Leben› machen oder die Kunst in einen Bereich hin­ein­bringen, der früher keine Kunst war. Seit Marcel Duchamp seine ersten Ready-mades aus­stellte, schleppen immer neue Heer­scharen von Künst­lern ver­schie­denen Müll auf das Ter­ri­to­rium der Kunst und behaupten, dass alles, was sie als Kunst bezeichnen, auch Kunst sei. Infol­ge­dessen ist das Ter­ri­to­rium der Kunst – Museen, Gale­rien, Samm­lungen und Ate­liers – mit Objekten über­füllt, die man nicht für Kunst halten würde, wenn man sie zufällig auf der Strasse findet.
Es hat sich jedoch gezeigt, dass dieses Ter­ri­to­rium begrenzt ist: Je mehr Müll dorthin gerät, desto weniger Platz bleibt für die tra­di­tio­nellen Attri­bute der Kunst: Bilder, Rahmen, Gips­ab­güsse, Dra­pie­rungen, Pinsel und Palette. Die Öko­logie der Kunst ist unwie­der­bring­lich zer­stört. Ich habe diese Plas­tik­pa­lette in einem Geschäft gefunden, wo ihr die bedau­erns­werte Rolle eines Sou­ve­nirs in Form eines Kugel­schrei­ber­stän­ders zukam. Ich habe ver­sucht, die Palette in ihr tra­di­tio­nelles Exis­tenz­mi­lieu zurück­zu­holen. Heut­zu­tage kann man das nur auf eine Weise tun, und zwar als Ready-made. Des­halb habe ich dieses Objekt mit R. Mutt signiert, genauso wie Duchamp seine Foun­tain signiert hat.

 

Yuri Albert: Foun­tain-89. 1989. Ready-made. 10/10.

 

S.H.: Und nun zu dem für mich rät­sel­haf­testen Objekt in der Aus­stel­lung, zu der Bronze-Skulptur “Junge mit Hund” aus dem Jahr 1965. Man könnte sich hier an eine moderne Skulptur erin­nert fühlen, es steckt jedoch eine unglaub­liche auto­bio­gra­fi­sche Geschichte dahinter, die Du erzählen solltest.

 

Y.A.: In der Kind­heit formte ich wie die meisten Jungen kleine Sol­da­ten­fi­guren aus Knete, und meine Eltern dachten sich, dass ich ein fami­liär begrün­detes Talent zur Bild­hauerei habe. So schickten sie mich in einen Pio­nier­pa­last, auch wenn ich ehr­lich zugeben muss, dass ich kein beson­deres Talent zur Bild­hauerei hatte.
Diese kleine Skulptur habe ich als Zehn­jäh­riger im Jahr 1969 aus Knet­masse gemacht. Meine Eltern beschlossen, dass ich ein Talent bin, und schickten die Figur, als sich eine Gele­gen­heit bot, unserem Ver­wandten, dem bekannten fran­zö­si­schen kubis­ti­schen Bild­hauer Jac­ques Lip­chitz nach Paris. Wahr­schein­lich hofften sie, dass er in mir einen wür­digen Nach­folger in der Fami­li­en­tra­di­tion erkennen würde. Aber er goss meine Figur ein­fach in Bronze und schickte sie zurück nach Moskau. Viel­leicht hat er sie auch ein biss­chen nach­ge­bes­sert… Unge­fähr zu jener Zeit habe ich das Examen für die Bild­hau­er­klasse des Mos­kauer Kunst­gym­na­siums nicht geschafft, und mit Plas­tiken habe ich mich danach nicht mehr beschäf­tigt. Die Sta­tu­ette ver­staubte viele Jahre auf einem Regal. Wenn man will, kann man aus dieser Geschichte ver­schie­dene weit­rei­chende Schlüsse ziehen oder eine bio­gra­fi­sche Legende schaffen. Ich bin jedoch nicht davon über­zeugt, dass man das unbe­dingt tun muss.
Wichtig ist hier ledig­lich die Tat­sache, dass dies in meiner Arbeit das erste Bei­spiel einer zumin­dest ein­sei­tigen Co-Autor­schaft mit einem anderen Künstler ist.

 

Yuri Albert: Junge mit Hund. 1969. Bronze.

 

S.H.: Bevor wir die Gas­brenner wieder ein­schalten und ihr Getöse den Raum erfüllt, noch eine letzte Frage: Wie kommt Deine Assem­blage aus Gas­brenner, Staf­felei, Farbe und Feuer zu dem Titel “Mucius Scaevola”?

 

Y.A.: Dieses Objekt stammt aus dem Jahr 1995. Zum ersten Mal habe ich es in der Instal­la­tion Mama, schau – ein Künstler! ver­wendet. Hier han­delt es sich natür­lich um eine Anspie­lung auf das Ewige Feuer – es ist so etwas wie ein Denkmal für den unbe­kannten Künstler. Das Objekt erin­nert an die Unmög­lich­keit, sich ‚ein­fach‘ mit Kunst zu beschäf­tigen, inbe­son­dere mit Malerei. Zugleich bezieht es sich auf die Arbeiten mit Feuer von Jannis Kounellis und auf die antike Mythologie.
Zu der Zeit, als es die his­to­ri­sche und mytho­lo­gi­sche Malerei gab, dachte man, dass Bilder über die grossen Taten antiker Helden die Betrachter erziehen und als Vor­bild für roman­ti­schen Hel­denmut dienen sollten: Der Schwur der Hora­tier, die Grossmut des Scipio Afri­canus und die Hel­dentat des Mucius Scaevola.
Mucius legte seine rechte Hand vor den Augen des Königs Por­senna in das Feuer des Opfer­al­tars und die von seiner Tap­fer­keit tief beein­druckten Etrusker zogen sich aus Rom zurück. Rom war gerettet, aber in der ver­kohlten Hand konnte Mucius keinen Pinsel mehr halten, und allein mit der linken Hand lässt sich kein rich­tiges Bild malen.

 

 

Aus­stel­lungs­an­sicht Werke und Tage . Zu sehen ist auch die Arbeit: Mucius Scae­vola. 1995. Staf­fe­leien, Farben, Gas­brenner, Feuer.

 

Erschienen als: „Gespräch zur Aus­stel­lung Werke und Tage“. In: Yuri Albert: Werke und Tage, Zürich: Stif­tung Arina Kowner 2018, S. 8–26.