Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Über das Bedürfnis nach einem Gespräch in Zeiten von Social Media und über die Kunst der Repor­tage in Polen

Inter­view mit Włod­zi­mierz Nowak

Włod­zi­mierz Nowak, 1958 in Poznań geboren, ist ein pol­ni­scher Autor und Jour­na­list. Er arbeitet seit 1993 als Reporter für die wich­tigste pol­ni­sche Tages­zei­tung Gazeta Wyborcza und ist dort Chef­re­dak­teur des Repor­ta­ge­ma­ga­zins Duży Format („Großes Format“). Bekannt wurde er in Polen und in Deutsch­land mit seinen lite­ra­ri­schen Repor­tagen Obwód głowy (2007, dt. Die Nacht von Wil­den­hagen: zwölf deutsch-pol­ni­sche Schick­sale, 2009). 2016 erschien sein zweites Buch Serce narodu koło przystanku (2009) auf Deutsch unter dem Titel Das Herz der Nation an der Bus­hal­te­stelle, in dem er das All­tags­leben in der pol­ni­schen Pro­vinz por­trä­tiert. Für seine Repor­tagen wurde Nowak mit dem Preis des Pol­ni­schen Jour­na­lis­ten­ver­bands, dem Deutsch-Pol­ni­schen Jour­na­lis­ten­preis und 2010 gemeinsam mit seiner Über­set­zerin Joanna Manc mit dem Georg-Dehio-Ehren­preis ausgezeichnet.

Wir spra­chen mit Włod­zi­mierz Nowak im Rahmen des „Pol­ni­schen Jahres“ an der Uni­ver­sität Potsdam über das Genre der lite­ra­ri­schen Repor­tage und seine beson­dere Popu­la­rität in Polen sowie über die Rolle des Repor­ters und die Kunst des Zuhörens.

 

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Foto: Fran­ziska Koch.

 

Die lite­ra­ri­sche Reportage

 

novinki: Herr Nowak, Sie leiten die Redak­tion des Repor­ta­ge­ma­ga­zins “Duży Format” der “Gazeta Wyborcza”, das jeden Don­nerstag bei­nahe in einem Buch­um­fang erscheint. Auf der Liste der dies­jäh­rigen Nomi­nie­rungen für den “NIKE-Preis”, dem wich­tigsten pol­ni­schen Lite­ra­tur­preis, sind gleich sieben Repor­tage-Bände zu finden. Wie erklären Sie sich den Erfolg der lite­ra­ri­schen Repor­tage in Polen?

 

Włod­zi­mierz Nowak: Die Schrift­steller pro­tes­tieren schon, denn der NIKE-Preis ist die höchste Aus­zeich­nung im Bereich der Lite­ratur in Polen. Jedes Jahr schaffen es ein paar Repor­tage-Bücher auf die Liste der Nomi­nierten, aber in diesem Jahr ist die Gat­tung über­re­prä­sen­tiert, so dass es wirk­lich einen Wett­streit zwi­schen Autoren und Repor­tern geben wird.

 

n.: Was macht diese stei­gende oder besser gesagt anhal­tende enorme Wert­schät­zung der Repor­tage aus Ihrer Sicht aus?

 

W.N.: In Polen kann man wirk­lich von einem anhal­tenden Boom der Repor­tage spre­chen. Es gibt neben dem NIKE-Preis auch noch den Rys­zard-Kapuściński-Preis, der für das beste Repor­tage-Buch des Jahres ver­liehen wird. Dass Repor­tage-Bücher ihre Leser finden, ist aus meiner Sicht noch durchaus ver­ständ­lich, aber dass die Zei­tungs­re­por­tage weiter Bestand und einen festen Platz in der Tages­zei­tung hat, ist wirk­lich erstaun­lich. Das Magazin Duży Format war zunächst als reines Reporter-Magazin gedacht. Außer Repor­tagen gibt es hier aber auch Inter­views, dar­unter eine spe­zi­elle Form des Inter­views, die eher eine Art Por­trät ist. Auch Feuil­le­tons, kür­zere repor­ta­gen­hafte Betrach­tungen eines Wojciech Tochman oder Mariusz Szc­zy­gieł, werden hier ver­öf­fent­licht. Wir stehen aller­dings in einem stän­digen Wett­be­werb mit den sozialen Medien, mit Face­book, Twitter und anderen Formen der schnellen Nachrichtenkommunikation.

 

n.: Wie ent­steht eine Zeitungsreportage?

 

W.N.: Zunächst muss der Reporter für ein paar Tage (manchmal auch Wochen) die Redak­tion ver­lassen und sich auf die Reise begeben, er muss seine Helden treffen, sich für sie Zeit nehmen, sich mit den Orten und Men­schen ver­traut machen. Dann ordnet er das Mate­rial, macht sich Gedanken über die ent­spre­chende Form, was wei­tere zwei-drei Tage dauert. Das heißt, man braucht min­des­tens eine Woche, bis eine Repor­tage fertig ist. Hinzu kommt, dass, wenn der Reporter von seiner Reise zurück­kehrt, das Ereignis, was Anlass seiner Reise war, schon längst ver­gessen ist, und er den Leser erst wieder daran erin­nern muss, was vor einer Woche, also gefühlt vor hun­dert Jahren pas­siert ist. Diese Art der Repor­tage ist auch sehr teuer, da es nicht bei einem Anruf oder ein paar Recher­chen im Internet bleibt, son­dern meis­tens eine mehr­tä­gige Reise erfor­der­lich ist.

 

n.: Bei der lite­ra­ri­schen Repor­tage han­delt es sich um ein beson­deres Genre zwi­schen Lite­ratur und Jour­na­listik. Bereits vor dem Krieg, in den 1920er und 1930er Jahren, hatten die Repor­tagen als Lite­ra­tur­gat­tung in Polen eine hohe Kon­junktur. Zu Zeiten der Volks­re­pu­blik Polen sprach man bereits von einer „pol­ni­schen Schule der Repor­tage“. Welche „Repor­tage-Schule“ ist Ihnen wichtig? In wel­cher Tra­di­tion sehen Sie ihr eigenes Schreiben?

 

W.N.: Es ist schwer, die Masse an Repor­tagen, die in den letzten Jahr­zehnten erschienen ist, ein­deutig bestimmten „Schulen“ zuzu­ordnen. Das mischt sich alles, inspi­riert und beein­flusst sich gegen­seitig. Ganz deut­lich kann man nur den Stamm unter­scheiden: die drei großen K: Krall, Kapuściński, Kąko­lewski. Ich würde dann noch ein Sz wie [Mał­gorzata] Sze­j­nert hin­zu­fügen, die eine Art Repor­tagen-Fresko prak­ti­ziert, oder mit ihren Worten aus­ge­drückt: eine sich aus meh­reren Hand­lungs­strängen, reich an Ver­zie­rungen, zusam­men­set­zende Sti­ckerei schafft. Das ist meine Meis­terin, von ihr habe ich das Hand­werk des Repor­ta­ge­schrei­bens gelernt. Einen ganz eigenen Stil, bei dem der Autor-Reporter im Vor­der­grund steht, prägte Jacek Hugo-Bader. Er ist selbst Teil der Ereig­nisse und kom­men­tiert sie zugleich. Er erin­nert dabei ein wenig an [Günter] Wallraff.
Vor kurzem war ich auf einem Repor­ter­treffen in der Nähe von Kazi­mierz, einer pri­vaten Ver­an­stal­tung, orga­ni­siert von Mał­gorzata Sze­j­nert, in ihrem Land­haus am Ufer der Weichsel. Einer der Reporter erin­nerte sich, wie Sze­j­nert als Redak­ti­ons­lei­terin bei der Gazeta Wyborcza den jungen Mariusz Szc­zy­gieł und Wojciech Tochman „ent-krallen“ musste. Wir alle waren sehr stark beein­flusst von Hanna Krall und ihrer Art des Erzäh­lens. Was wie­derum die jungen Reporter betrifft, ori­en­tieren sie sich stark an Mariusz Szc­zy­gieł. Er hat viele Jahre das Magazin Duży Format geleitet und als Redak­teur die nächste Gene­ra­tion geprägt. Szc­zy­gieł ist sicher­lich einer der bekann­testen und popu­lärsten Reporter-Autoren in Polen, zu dem die jungen Leute hoch­schauen. Ich per­sön­lich schätze die Repor­tagen von Lidia Ost­ałowska, ihr feines Gespür für die Gesell­schaft und ihr Gehör für die kleinen und wich­tigen Themen und Geschichten des Landes. Sie hat ihre ganz eigene Nische inner­halb der pol­ni­schen Repor­tage gefunden, die ich wichtig finde und die mir zugleich sehr nah ist.

 

n.: Worin besteht das Erfolgs­re­zept der lite­ra­ri­schen Repor­tage in Polen? Weder die Zensur in den Zeiten der Volks­re­pu­blik noch die Kon­kur­renz mit den neuen Medien haben das Genre unter­gehen lassen. Wie erklären Sie sich die Unver­wüst­lich­keit der Reportage?

 

W.N.: Dazu könnte ich viel sagen. Para­do­xer­weise ist es tat­säch­lich so, dass die Zensur in der Volks­re­pu­blik die Repor­tage eher beflü­gelt hat: das Spre­chen zwi­schen den Zeilen, die meta­pho­ri­sche Sprache und die Auf­merk­sam­keit für die Details, die auf ein grö­ßeres Bild oder einen Uni­ver­sa­lismus ver­weisen. Ein Bei­spiel hierfür wäre Rys­zard Kapuścińskis Repor­tage Heban (dt. Afri­ka­ni­sches Fieber) über einen äthio­pi­schen Kaiser, die alle als Kritik am sozia­lis­ti­schen Staat lasen. Es war natür­lich nicht mög­lich, über das Regime, die Unter­drü­ckung und die Man­gel­wirt­schaft dieses fatalen Sys­tems zu schreiben. Aber man konnte – pars pro toto – am kon­kreten Bei­spiel eines Fabrik­di­rek­tors und der unter ihm lei­denden Arbei­terin eine Geschichte erzählen, die gleich­zeitig nicht nur ein per­sön­li­ches Schicksal abbil­dete, son­dern auch das ganze System indi­rekt in Frage stellte. Pro­ble­ma­tisch wurde es erst, als die Zensur weg­fiel. Die Repor­tage hätte eigent­lich gemeinsam mit dem sozia­lis­ti­schen System unter­gehen müssen.

 

n.: Ja, genau. Das tat sie aber nicht…

 

W.N.: Nein, denn die Men­schen haben immer noch das starke Bedürfnis nach einem authen­ti­schen Gespräch und der Geschichte eines Gegen­übers, der man mit Span­nung lau­schen kann. Durch die Geschichte des Helden kann man Welten Anderer betreten und sich wich­tigen oder inter­es­santen Geschichten nähern, die für einen selbst, für die eigene Gegen­wart rele­vant sind. Des­halb über­lebte die Repor­tage bis heute trotz Twitter und anderer sozialer Medien.

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Lesung im Lite­ra­tur­laden Wist im Rahmen des „Pol­ni­schen Jahres“ an der Uni­ver­sität Potsdam. Foto: Fran­ziska Koch

 

Der Reporter als Zuhörer und Zeuge

 

n.: Was pas­siert eigent­lich in diesem „authen­ti­schen“ Gespräch zwi­schen dem Inter­viewer und der inter­viewten Person?

 

W.N.: In den langen Gesprä­chen zwi­schen Reporter und Helden ent­steht eine beson­dere Situa­tion, die einer Beichte gleicht, und die den Leser zu einem Zeugen dieses Bekennt­nisses werden lässt. Er nimmt Anteil an den Emo­tionen und Stim­mungen des Gesprächs und der oft fast hyp­no­ti­schen Span­nung zwi­schen Reporter und seinem Gesprächs­partner. So zum Bei­spiel in der Repor­tage Die Nacht von Wil­den­hagen, wo wir Zeugen des per­sön­li­chen Traumas der Prot­ago­nistin Adel­heid Nagel werden. Eine pol­ni­sche Leserin oder ein pol­ni­scher Leser haben die Mög­lich­keit, vom Schicksal einer Deut­schen zu hören und daran Anteil zu nehmen. Das erscheint mir von großem Wert.

 

n.: Herr Nowak, neben der Geschichte von Adel­heid Nagel, beschreibt Ihr erstes Buch “Die Nacht von Wil­den­hagen” auch noch andere pol­nisch-deut­sche Schick­sale, die die kom­plexe, oft­mals schwie­rige, gemein­same Geschichte Deutsch­lands und Polens wider­spie­geln. Was hat Sie dazu bewogen, sich gerade der Themen Krieg, Flucht und Ver­trei­bung sowie der Gegen­wart der Grenz­re­gion anzunehmen?

 

W.N.: Diese Frage muss dif­fe­ren­ziert beant­wortet werden. Ein Beweg­grund war sicher­lich meine eigene Bio­gra­phie. Ich wurde 13 Jahre nach Kriegs­ende geboren und bin in Groß­polen auf­ge­wachsen. Ich hatte somit von Anfang an meine Pro­bleme mit „dem Deut­schen“. Er war für mich die Per­so­ni­fi­ka­tion des Bösen, ein 1,90 m großer Mann, der schrie und anderen Befehle gab, der noch vor kurzem auf meine Eltern und Groß­el­tern geschossen hatte und mir ansonsten völlig unbe­kannt war. Ich spreche von der Situa­tion in den 1960er und 1970er Jahren in Polen. Die Repor­tagen ent­wi­ckelten sich dann aus der Per­spek­tive eines Jungen, der auf der einen Seite der Oder-Neiße-Grenze steht und auf das andere Ufer hin­über späht, der wissen möchte, wer diese Deut­schen wirk­lich sind.

 

n.: Wie hat sich ihr Bild der Deut­schen dann ver­än­dert? Und wie sind Sie auf die Geschichten gestoßen?

 

W.N.: Nach dem Stu­dium in Poznań bin ich in die pol­ni­sche Pro­vinz nach Pszczew umge­zogen, es war die Zeit des Kriegs­rechts [Anfang der 1980er Jahre], ich flüch­tete damals vor dem Regime und begab mich in eine Art innere Emi­gra­tion. Pszczew ist eine kleine Ort­schaft im Westen Polens und dort machte ich als Leiter des Regio­nal­mu­seums beson­dere Erfah­rungen. Ab und zu kamen Deut­sche, um ihre alte Heimat zu besu­chen, und ich saugte diese Leute förm­lich aus, wollte all ihre Geschichten und Erin­ne­rungen hören und auf­schreiben, um das Gedächtnis dieses Ortes auf­recht­zu­er­halten. Viele konnten mir die Geschichten der ein­zelnen Häuser in ihrer Straße erzählen und ich erfuhr einiges über den Handel der Vor­kriegs­zeit sowie die Morde und Selbst­morde von 1945. Ich sam­melte diese Geschichten, um sie an die pol­ni­schen Ver­trie­benen und Umge­sie­delten aus dem Osten wei­ter­zu­geben, die ab den 1970er Jahren schon nicht mehr davon spra­chen, in ihre alte Heimat zurück­zu­kehren, son­dern sich viel­mehr in den neuen Gebieten ein­ge­lebt hatten und nun neu­gierig waren. Sie wollten mehr über die Ver­gan­gen­heit dieser Orte erfahren, um dort end­gültig Wur­zeln schlagen zu können.
Auf jeden Fall lernte ich, den Deut­schen zuzu­hören, und das half mir später als Reporter dabei, den Hel­dinnen und Helden meiner deutsch-pol­ni­schen Repor­tagen die rich­tigen Fragen zu stellen. Ich befand mich im Grunde genommen schon damals in der Rolle eines Repor­ters. Auf der einen Seite waren die ehe­ma­ligen Bewohner dieser Orte, die zu Prot­ago­nisten der Geschichten wurden, und auf der anderen Seite hatte ich eine Leser­schaft von Ankömm­lingen aus dem ehe­ma­ligen pol­ni­schen Osten, die nichts über ihre neue Heimat wussten und neu­gierig waren auf die Geschichten dieser Orte und Land­striche. Meine Auf­gabe war es, diese Geschichten in eine völlig andere Rea­lität, in eine pol­ni­sche Wirk­lich­keit zu über­setzen. Das war meine erste bewusste Erfah­rung als Reporter.


Von der Not­wen­dig­keit des Erzählens

 

n.: Das Buch wurde von Joanna Manc ins Deut­sche über­setzt und mehr­fach aus­ge­zeichnet. Wie waren die deut­schen Reak­tionen auf dieses Buch? Wie haben Sie die Lesungen in Deutsch­land erlebt?

 

W.N.: Als meine Über­set­zerin, Joanna Manc, und ich die Repor­tage über Wil­den­hagen an ver­schie­denen Orten lasen, gab es unter­schied­liche Reak­tionen. Ich kann mich noch gut an eine Lesung in einem Gemein­de­haus in der Nähe von Kiel erin­nern. Die Leute brachten ihre eigenen Stühle mit und der Saal füllte sich, es wurde voller und voller, so dass wir uns schließ­lich ganz dicht gegen­über saßen. Alle kamen, um den über die Deut­schen schrei­benden Polen lesen zu hören. Ich spürte eine gewisse Skepsis im Raum. Als wir dann zu lesen begannen, war die Span­nung kaum zu ertragen. Die Men­schen schauten nicht mehr mich an, son­dern schauten nach unten auf den Boden oder zum Fenster hinaus und man spürte die auf­ge­la­dene Atmo­sphäre. Sie haben uns nach der Lesung auf ein Bier ein­ge­laden und es wurde ein langer Abend, bei dem uns viele Geschichten über das Schweigen in den deut­schen Fami­lien erzählt wurden. Das waren oft sehr per­sön­liche und intime Geschichten. Sie erzählten von der Uner­träg­lich­keit des Schwei­gens und den Kon­se­quenzen, die es für die Familie und die nächsten Gene­ra­tionen mit sich brachte.
Auch in Frank­furt gab es eine Situa­tion, die sich mir ein­ge­prägt hat. Einer der Ver­lags­re­dak­teure war sehr berührt von meinem Text und erzählte mir von seinem Vater, der sein Leben lang geschwiegen und die Fragen des Sohnes nicht beant­wortet hatte. Vater und Sohn redeten nur über Belang­loses und alle wirk­lich wich­tigen und ernsten Gespräche fanden nicht statt. Als wir uns begeg­neten, lag sein Vater im Sterben und begann in diesem halb­ko­ma­tösen Zustand seine Kriegs­er­leb­nisse der Kran­ken­schwester, die ihn täg­lich pflegte, zu erzählen. Erst durch diese Kran­ken­schwester erfuhr der Sohn die Geschichte seines Vaters, die eine Art Beichte war.

 

n.: Das Inter­view, das ein Reporter führt, gleicht dieser eben beschrie­benen Gesprächs­si­tua­tion, in der die Kran­ken­schwester am Bett des Ster­benden Zeugin und Zuhö­rerin einer Lebens­beichte wird. Eine neu­trale Person, der man Dinge anver­traut und erzählt, die man mit anderen eher nicht teilen würde, ver­drängte und ver­schwie­gene Geschichten. Wie kommt es dazu, dass die Men­schen Ihnen diese Geschichten anvertrauen?

 

W.N.: Damit die Men­schen ihre Geschichten erzählen, muss man einen guten Grund haben, mit einem wirk­lich wich­tigen Anliegen zu ihnen kommen. Es geht nicht darum, jemanden zum Gespräch zu zwingen. Das ist eine intime Situa­tion und wenn sich beide Seiten dessen bewusst sind, dann wird das Gespräch tief­gründig. Oft stellt sich dann heraus, dass die Leute auf ein sol­ches Gespräch gewartet haben und des­halb gerne erzählen.

 

n.: In Ihrem zweiten Buch Das Herz der Nation an der Bus­hal­te­stelle, das dieses Jahr in Deutsch­land erschienen ist, sind es die pol­ni­schen Pro­vinzen und ihre Bewohner, die im Mit­tel­punkt der Repor­tagen stehen. Mich haben diese Erzäh­lungen bewegt und zum Teil auch scho­ckiert. Es sind Geschichten über das Schei­tern, zer­störte Träume und Über­le­bens­stra­te­gien in der Nach­wen­de­zeit in Polen. In der Repor­tage “Fin­an­sówki” (dt. “Schlimmer als Mör­de­rinnen”) stehen die Schick­sale der soge­nannten Finanz­be­trü­ge­rinnen oder – in der Über­set­zung von Joanna Manc – „Pro­fi­teusen“ im Mit­tel­punkt. Wie kam es zu den Inter­views mit den inhaf­tierten Frauen?

 

W.N.: Diese Frauen waren im Gefängnis. Und jemand hatte die Idee, dass wir eine Art Work­shop mit den Frauen ver­an­stalten sollten, damit sie ihre Geschichten los­werden und ver­ar­beiten könnten. Dieser Vor­schlag wurde mir unter­breitet und ich nahm die Rolle des Inter­viewers ein. Wir gingen durch ein Tor und meh­rere Schleusen und mussten ver­schie­dene Gegen­stände abgeben, bei­spiels­weise unsere Handys. Zunächst war die Situa­tion etwas seltsam. Beide Seiten wurden zu diesem Gespräch über­redet, und ich merkte, dass die Frauen gleich­gültig, bei­nahe lustlos dasaßen. Ich dachte, dass es wahr­schein­lich keine inter­es­santen Geschichten werden würden. Ich habe die Situa­tion anfangs unter­schätzt. Erst als sie erzählten, habe ich ver­standen, dass die Frauen selbst Opfer der Gesell­schaft geworden waren, eines neuen Polens und eines männ­li­chen Sys­tems. Es war der Anfang des Kapi­ta­lismus, ein paar Jahre nach der Wende, und viele Männer, die vorher die Haupt­ver­sorger waren und das Geld nach Hause brachten, fanden sich in der Trans­for­ma­ti­ons­zeit nicht mehr zurecht. Sehr häufig ergriffen dann die Frauen die Initia­tive. Sie über­nahmen diese neue Rolle und tappten gleich­zeitig in alle Fallen des neuen Systems.

Es stellte sich heraus, dass diese Art von Straf­taten vor allem von Frauen verübt wurde. Sie waren keine Mör­de­rinnen oder Tot­schlä­ge­rinnen, son­dern Betrü­ge­rinnen, die in der Zeit des wilden Kapi­ta­lismus Geld ver­un­treut und gestohlen hatten, um ihren Fami­lien ein bes­seres Leben zu ermög­li­chen. Sie waren Opfer des neuen Systems.

 

n.: Wie werden aus den Geschichten Ihrer Prot­ago­nis­tinnen und Prot­ago­nisten Ihre eigenen Texte?

 

W.N.: Ich ver­stecke mich natür­lich gerne hinter den Geschichten meiner Hel­dinnen und Helden. Es gibt Repor­tagen, die auf die Erzäh­lung in der ersten Person ver­zichten. Wenn ich mich aber für diese Form ent­schieden habe, dann gebe ich die Stimme kom­plett an die Prot­ago­nis­tinnen und Prot­ago­nisten ab, wie in dem Bei­spiel der Finanz­be­trü­ge­rinnen, hinter deren Geschichte ich als Autor völlig zurück­trete. Hier reichte es, die Frauen zu befragen, nach­zu­haken und ihre „Beichten“ auf­zu­schreiben. In der Repor­tage Die Nacht von Wil­den­hagen ist meine Rolle als Reporter eine ganz andere. Ich ver­suche der Frage nach­zu­gehen, warum so viele Frauen im Winter 1945 Selbst­mord begingen, und befrage nicht nur die Heldin Adel­heid Nagel, son­dern auch Experten, His­to­riker und Soziologen.

 

n.: Herr Nowak, in Polen ist vor kurzem ihr drittes Buch erschienen mit dem Titel “Nie­miec. Wszystkie ucieczki Zygrfyda” („Der Deut­sche. Zyg­fryds Flucht­ver­suche“), in dem Sie die wider­sprüch­liche und ver­wor­rene Geschichte des Deutsch-Polen Zyg­fryd Kapela rekon­stru­ieren. Was hat Sie an dieser Geschichte interessiert?

 

W.N.: Der Deut­sche erzählt die Geschichte eines Men­schen, der sein ganzes Leben auf der Flucht ist. Er flüchtet vor dem sozia­lis­ti­schen Polen, das System fängt ihn aber immer wieder ein und stopft ihn sich noch tiefer in die Hosen­ta­sche, ver­letzt ihn auf vie­lerlei Weise. Der Held ist halb Deut­scher, halb Pole, er wurde zwei Jahre nach Kriegs­ende geboren, in den soge­nannten wie­der­ge­won­nenen Gebieten, in denen alles Deut­sche nicht gerne gesehen war. Und seine Eltern nennen ihn aus­ge­rechnet Zyg­fryd, ein Name, der im dama­ligen Polen hyper­deutsch und feind­lich klingt. Zyg­fryd emp­findet die Volks­re­pu­blik als einen Käfig, aus dem er ent­fliehen will. Er deser­tiert, ver­sucht die Donau zu durch­schwimmen, er wird ver­haftet und an der deutsch-deut­schen Grenze ange­schossen. Das Buch erzählt von der Volks­re­pu­blik wie von einem schlechten Brett­spiel, dessen Regeln nie­mand kannte, die Würfel warf die Partei und der Bürger war nur eine ein­fache Spiel­figur. Es ist im Grunde genommen eine Erzäh­lung über den ele­men­taren Drang nach Freiheit

n.: Ich bedanke mich ganz herz­lich für das Gespräch.

 

 

Das Inter­view wurde von Domi­nika Herbst geführt und aus dem Pol­ni­schen übersetzt.


Lite­ratur von Włod­zi­mierz Nowak:

Obwód głowy. Woło­wiec 2007.
Die Nacht von Wil­den­hagen. Zwölf deutsch-pol­ni­sche Schick­sale. Aus dem Pol­ni­schen von Joanna Manc. Frank­furt a. M. 2009.

Serce narodu koło przystanku. Woło­wiec 2009.
Das Herz der Nation an der Bus­hal­te­stelle. Aus dem Pol­ni­schen von Joanna Manc. Berlin 2016.

Nie­miec. Wszystkie ucieczki Zyg­fryda. Wars­zawa 2016.