Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Von der Flucht in den deut­schen Barock

Ber­lins kleis­tisch ange­hauchten Orten und den Her­aus­for­de­rungen der Kate­gorie F
Ein Inter­view mit László Márton

 

László Márton wählt seine Worte sehr genau. Die Poetik der Ver­zö­ge­rung ist für ihn Pro­gramm. Nicht nur in seinen Romanen ver­zö­gert er, son­dern auch in diesem Inter­view holt er weit aus, um dann exakt dort wieder den Faden auf­zu­nehmen, wo er ihn ver­lassen hat. Mit seiner beson­deren Bezie­hung zur deut­schen Sprache tritt Márton als Über­setzer immer wieder in Dialog mit den ver­stor­benen Autoren. In seiner schrift­stel­le­ri­schen Tätig­keit nutzt er den Bewe­gungs­raum der His­torie mit ihren zahl­rei­chen Gestalten und Geschichten, um das Ver­hältnis von Indi­vi­duum und staat­li­cher Macht zu erfor­schen. Bei der Rezep­tion der eigenen Werke sind Márton unge­bil­dete Leser ohne Vor­ur­teile wesent­lich lieber als gebil­dete mit Vorurteilen.

László Márton ist Autor von meh­reren Romanen, u.a. Jakob Wunsch­witz igaz tör­té­nete 1997 (dt. Die wahre Geschichte des Jacob Wunsch­witz 1999), Árnyas fõutca 1999 (dt. Die schat­tige Haupt­strasse 2003), Minerva búvóhelye 2006 (dt. Das Ver­steck der Minerva 2008) sowie des Bandes Son­der­zei­chen Europa 2010, einem Brief­wechsel mit der japa­ni­schen Schrift­stel­lerin Yoko Tawada. Außerdem über­setzt László Márton Werke aus dem Deut­schen und Eng­li­schen. Die lite­ra­ri­sche Kar­riere des stu­dierten Ger­ma­nisten und Sozio­logen begann 1983, als er anfing, eigene Erzäh­lungen zu ver­öf­fent­lichten. Zu dieser Zeit arbei­tete er bereits als Lektor beim Helikon-Verlag, wo er Über­setzer betreute, aber auch selbst vom Deut­schen ins Unga­ri­sche über­setzte, u. a. die Werke Luthers, Goe­thes und Kleists. Nach der poli­ti­schen Wen­de­ver­brachte der 1959 in Buda­pest gebo­rene Schrift­steller mit einem DAAD-Sti­pen­dium einige Zeit in Berlin – und lernte die Stadt lieben. Meh­rere Male sollte er zurück­kehren, zuletzt 2010, als er die Sieg­fried-Unseld-Pro­fessur an der Hum­boldt-Uni­ver­sität wahr­nahm. Zur­zeit lebt László Márton als freier Autor in Budapest.

 

Marton67

novinki: Sie hatten in Ihrer Antritts­vor­le­sung vom Chro­no­topos Berlin gespro­chen und davon, wie inspi­rie­rend diese Stadt sei und wel­chen Ein­fluss sie auf die unga­ri­sche Lite­ratur und die Schrift­steller hatte. Was aber macht für Sie per­sön­lich den Reiz, den genius loci, von Berlin aus?

 

László Márton: Das Ver­hältnis zu Berlin hängt eng mit meiner Lebens­ge­schichte zusammen. In meiner Jugend war ich mehr­mals in Ost­berlin, diese Besuche hatten keine große Bedeu­tung für mich. Ganz anders als mein erster län­gerer Auf­ent­halt in Berlin 1996, der mir zu meinem ersten Roman Die wahre Geschichte des Jacob Wunsch­witz ver­holfen hat. Damals erlebte ich zum ersten Mal, wie befreiend und inspi­rie­rend die Stadt auf einen wirken kann. Ich habe ein­fach gemerkt, dass es Gedanken oder Ideen gibt, die mir anderswo nicht ein­fallen würden.

Nachdem ich nach Buda­pest zurück­ge­kehrt war, konnte ich wei­ter­ar­beiten, weil diese frucht­bare Wir­kung, die die Atmo­sphäre der Stadt auf mich aus­übte, noch einige Monate oder sogar Jahre andau­erte. Außerdem möchte ich, wo schon das Wort Chro­no­topos gefallen ist, sagen, dass auch die Topo­gra­phie der Stadt eine fast schon hyp­no­ti­sche Wir­kung auf mich ausübt, wobei ich betonen muss, dass eine Stadt nicht nur aus Straßen, Häu­sern, Stra­ßen­bahnen, Stra­ßen­bahn­li­nien, S- oder U‑Bahn besteht, son­dern auch aus ihren Bewoh­nern, die ich ken­nen­lernen und lieb­ge­winnen, mit denen ich reden kann.

 

n.: Oft ent­deckt man in der Fremde das Eigene wieder. Würden Sie sagen, dass Sie durch das krea­tive Poten­tial Ber­lins beson­dere Frei­heiten für sich gewinnen konnten? Hat dies etwas mit der Geschichte der Stadt zu tun: mit ihrer Zer­stö­rung, ihrer ‘Neu­erfin­dung’, ihrer Wandelbarkeit?

 

L.M.: Berlin ist eine Stadt, in der man auf Dauer nicht fremd bleiben kann. Ent­weder man ver­steht die Stadt eini­ger­maßen – und ich würde sagen, ich habe etwas von Berlin ver­standen – und man wird dadurch Ber­liner. Ich bin kein Deut­scher, ich bin Ungar, aber trotzdem auch Ber­liner geworden. Das bedeutet auch, dass ich im Bus nicht im Ober­ge­schoss sitze, keine Fotos mache und außerdem keinen Stadt­plan brauche, wenn ich von Mitte nach Prenz­lauer Berg fahren will. Aber vor allem bedeutet es, dass ich die Logik der Stadt ein wenig begriffen habe.

Oder aber man ver­steht die Stadt nicht. Berlin – anders als etwa Mün­chen oder Frank­furt am Main – erträgt auch viel Fremd­heit: Men­schen, die die Sprache nicht spre­chen, die die Geschichte nicht kennen, die nur vor sich hin leben, und sie gehören auch dazu. Sie sind auf gewisse Weise auch Ber­liner, selbst wenn sie davon nichts wissen.

 

n.: Sie hatten die Mög­lich­keit, sich einige Zeit in der DDR auf­zu­halten. Emp­fanden Sie damals in der DDR einen Unter­schied zu den unga­ri­schen Verhältnissen?

 

L.M.: Ich habe die DDR mehr­mals besucht, aber meis­tens als Pri­vat­person. In meiner Kind­heit habe ich zweimal jeweils einen Monat bei einer Familie in Leipzig ver­bracht. Dort habe ich auch die deut­sche Sprache eini­ger­maßen erlernt. Das hatte mit der DDR eigent­lich nichts zu tun, son­dern nur mit dieser Familie.

Eine bewusste Erfah­rung war dagegen mein Teil­stu­dium in Jena 1982/83. Ich hatte eine starke Abnei­gung gegen die DDR und wollte daran eigent­lich nicht teil­nehmen. Aber dann fuhr ich trotzdem nach Jena und das war eine ange­nehme Über­ra­schung für mich, weil ich sofort ver­standen habe, dass zum einen der ein­zelne Mensch nicht mit der DDR gleich­zu­setzen ist, und dass ich zum anderen unter den dor­tigen Umständen sehr gut arbeiten kann. Ich konnte die ehe­mals fürst­liche Biblio­thek in Weimar besu­chen. Ich konnte Bücher lesen, die Goethe und Herder auch gelesen hatten. Ich habe sehr viel gelernt und mich sehr wohl gefühlt, und zwar nicht wegen, son­dern trotz des poli­ti­schen Sys­tems. Außerdem – und das hängt mit meinem Habitus, meiner Bil­dung und meiner Natur zusammen – ließ ich mich poli­tisch nicht pro­vo­zieren. Ich sagte damals, dass ich mich mit dem 17. Jahr­hun­dert und der Barock-Lyrik beschäf­tigen wolle und das war meine Ant­wort auf jeg­liche poli­ti­sche Fragen. Wenn ich also gefragt wurde, wie meine Mei­nung zum Mar­xismus-Leni­nismus sei, ant­wor­tete ich, dass im 17. Jahr­hun­dert weder Marx noch Lenin gelebt hätten. Das war keine hel­den­hafte Ant­wort, aber sie funktionierte.

 

n.: In beiden sozia­lis­ti­schen Staaten gab es Restrik­tionen, denen man sich unter­werfen musste. Hatten Sie als Autor das Gefühl, in einem der Länder weiter gehen zu dürfen mit ihren Schriften?

 

L.M.: Man sagt immer, dass Ungarn eine wei­chere Dik­tatur als die DDR war, dort sei die Unter­drü­ckung geringer gewesen als in Rumä­nien, der Tsche­cho­slo­wakei, der DDR und so weiter. Das mag sogar stimmen, aber in Ungarn war ich Zuhause und war als unga­ri­scher Staats­bürger unter­drückt. In der DDR war ich ein Fremder. Man erwar­tete von mir weniger Loya­lität als von einem Ein­hei­mi­schen, weil ich mich in den dor­tigen Ver­hält­nissen weniger aus­kannte bzw. vor­geben konnte, weniger zu wissen. Das war schon eine Mög­lich­keit, ein Zugang zur inneren Freiheit.

Was die unga­ri­schen Ver­hält­nisse betrifft: Ich bin 1959 geboren, das heißt, ich habe 30 Jahre in der unga­ri­schen Volks­re­pu­blik ver­bracht. Die Jahre meiner Kind­heit waren die Jahre der soge­nannten Kon­so­li­da­tion, in der der staat­liche Terror plötz­lich nach­ge­lassen hatte. Dann erlebte ich die frühe Phase der Kádár-Ära, gefolgt von der reifen und der über­reifen Phase. Als ich mit 20 Jahren mit dem Schreiben anfing, traten wir gerade von der reifen in die über­reife Phase über. Da küm­merte sich der Staat kaum mehr um die Ideo­logie. Wich­tiger war, dass sich der Staats­bürger loyal ver­hielt. Auch in der Kul­tur­po­litik war eine gewisse Nach­läs­sig­keit spürbar. Der Staats­ap­parat, sogar der Par­tei­ap­parat, war nicht mehr mar­xis­tisch. Es war ein Par­al­lel­pro­zess. Sowohl die dama­lige Oppo­si­tion, als auch die Staats­si­cher­heit distan­zierten sich vom Mar­xismus. Die Par­tei­funk­tio­näre nahmen die Ideo­logie nicht mehr ernst. Die Sys­tem­kri­tiker – die Revi­sio­nisten, Mao­isten und Popu­listen – waren Ende der 1970er Jahre junge Erwach­sene, waren also durch­schnitt­lich 10 bis 15 Jahre älter als meine Gene­ra­tion. Ich bin in das System, aber auch mit dieser Bewe­gung auf­ge­wachsen. Der Grund dafür, dass ich kein Oppo­si­tio­neller wurde, hängt nicht nur mit meiner Natur zusammen, son­dern auch damit, dass die Szene von der älteren Gene­ra­tion besetzt war. Einer­seits wollte ich vor allem schreiben und ande­rer­seits hatte ich, ehr­lich gesagt, nicht den Mut, öffent­lich poli­tisch aktiv zu werden. Ich hatte zwar eine sehr aus­ge­prägte Abnei­gung gegen die Kádár-Ära, aber ich wollte nach dem Stu­dium eine Arbeit finden und diese dann behalten. Ich wurde Ver­lags­lektor, aber in die Partei ein­zu­treten kam für mich nicht in Frage. Ande­rer­seits habe ich für die Unter­grund-Presse keine Artikel geschrieben, nicht nur aus Mangel an Mut, son­dern auch des­halb, weil mir nichts dazu ein­fiel. Ich habe Erzäh­lungen und Dramen geschrieben. Heute würde mir schon einiges ein­fallen, nachdem ich mich mit diesen Pro­blemen intensiv aus­ein­an­der­ge­setzt habe.

 

Marton65

n.: Sie haben gerade Ihre Posi­tion im dama­ligen System beschrieben. Welche Erfah­rungen haben Sie denn im Umgang mit anderen Autoren gemacht, z.B. im Helikon-Verlag?

 

L.M.: Im Helikon-Verlag habe ich keine Erfah­rungen mit Autoren gemacht. Ich habe den Helikon-Verlag gewählt, oder der Helikon-Verlag hat mich gewählt, damit ich auf diese Weise nichts mit der zeit­ge­nös­si­schen Lite­ratur zu tun habe. Ich habe mich mit Kul­tur­ge­schichte beschäf­tigt und mit­tel­al­ter­liche Denker lek­to­riert. Ich wollte mit keinem Autor aus einer Macht­po­si­tion heraus zusam­men­ar­beiten, ich wollte keine Zensur aus­üben. Wenn ich mit einem jungen Über­setzer zusam­men­ar­bei­tete, der die Epi­gramme des Angelus Sile­sius über­setzt hatte, und ich meine Ansichten über die Alex­an­dri­ner­zeilen äußerte, war das keine poli­ti­sche Ent­schei­dung, das konnte ich mit reinem Gewissen machen. Aber wenn ich als Lektor einem jungen Autor gesagt hätte, die Erwäh­nung der Okto­ber­re­vo­lu­tion 1956 ist an dieser Stelle nicht ange­bracht, dann hätte ich mich kom­pro­mit­tiert gefühlt.

Aber als Schrift­steller machte ich meine eigenen Erfah­rungen mit anderen Autoren, mit Gene­ra­ti­ons­ge­nossen und auch mit älteren. Ich habe Autoren ken­nen­ge­lernt, die damals noch in einer inneren Emi­gra­tion lebten und meine Ent­wick­lung stark beein­flusst haben. In Ungarn gab es damals drei Kate­go­rien von Autoren, die soge­nannten „drei T’s“: Támo­ga­tott – die Geför­derten, Tüt – die Gedul­deten, Til­tott – die Ver­bo­tenen. Die geför­derten Autoren exis­tierten eigent­lich nicht. Sie wurden sogar von der Partei tief ver­achtet, aber sie wurden trotzdem geför­dert, weil sie der offi­zi­ellen Par­tei­linie folgten. Sie sind nicht einmal erwäh­nens­wert, sie sind inzwi­schen ver­gessen. Die gedul­deten Autoren bil­deten ein breites Spek­trum. Für sie wurde ein großer Topf vor­be­reitet, weil sie sowohl nach dem Geschmack als auch der Welt­an­schauung, der Gat­tung und dem Tem­pe­ra­ment ganz ver­schieden waren. Sie waren keine offenen Sys­tem­kri­tiker und suchten keine Kon­fron­ta­tion mit dem System, wollten aber auch nicht mit­ma­chen bzw. keine Mit­läufer werden.

Und dann waren da noch die wenigen ver­bo­tenen Autoren, die poli­ti­sche Dich­tung ver­fassten. Sie waren von den Macht­ha­bern sehr gefürchtet, wie z.B. György Petri, István Eörsi oder György Konrád; oder die Popu­listen, die eben­falls ver­boten waren: Gáspár Nagy und Sándor Csoóri. Diese suchten immer die Kon­fron­ta­tion und durften ent­weder über­haupt nichts oder teil­weise nicht ver­öf­fent­li­chen. Manchmal wurden sie für eine Periode geduldet, später wieder ver­boten und so weiter. Das gehörte zu den Machtspielen.

 

n.: Mit Ihrem Wissen von heute, wie schätzen Sie die Hand­lungs- und Spiel­räume von Autoren in auto­ri­tären Regimen ein?

 

L.M.: Ungarn war, das muss ich mit Bedauern sagen, nicht der schlech­teste Ort für oppo­si­tio­nelle oder für nicht ganz loyale Autoren. Es gab einige tabui­sierte Themen, z.B. die Revo­lu­tion 1956 oder die natio­nalen Min­der­heiten in den Nach­bar­staaten. Aber ansonsten inter­es­sierte sich die Zen­tral­macht immer weniger für die Lite­ratur und es ent­stand eine relativ große Frei­heit. Das bedeu­tete auch, dass man kein Held oder Mär­tyrer sein musste, um anständig zu sein. Es gab Kri­te­rien für Anstän­dig­keit und Unan­stän­dig­keit. Ich konnte mich als junger Autor ziem­lich genau daran ori­en­tieren: Eine Dok­tor­ar­beit über einen deut­schen Barock­dichter zu schreiben statt die mar­xis­tisch-leni­nis­ti­sche Uni­ver­sität zu besu­chen, bedeu­tete eine ehr­liche Ent­schei­dung, die aber über­haupt nicht hel­den­haft war. Und wenn jemand diese ver­dammte Uni­ver­sität besuchte, wurde er dadurch auch nicht kom­pro­mit­tiert. Das war eine wesent­lich seich­tere Jau­chen­grube als z.B. ein inof­fi­zi­eller Mit­ar­beiter zu sein, aber immerhin eine Jauchengrube.

 

n.: Sie haben nicht nur Erzäh­lungen und Romane geschrieben, son­dern auch deut­sche Werke ins Unga­ri­sche über­setzt. Wie hat Ihnen die Arbeit als Über­setzer bei Ihrer Arbeit als Schrift­steller geholfen?

 

L.M.: Die Über­set­zungen waren für mich immer Masken. Ich habe es immer genossen, Sätze eines Anderen nie­der­zu­schreiben, die doch auch meine Sätze sind. Oder Texte zu schreiben, für dich ich nur sprach­liche Lösungen finden musste, weil die Hand­lung und die Werk­struktur schon von einem Anderen erfunden worden sind. Das war eine Art Erho­lung für mich. Die Flucht in den deut­schen Barock war einer­seits ein­deutig eine Erwei­te­rung meiner geis­tigen Welt, teil­weise aber auch ein Fluchtweg vor den poli­ti­schen Pro­vo­ka­tionen und dem ziem­lich tristen All­tags­leben im Sozia­lismus. Aber die Mas­ken­funk­tion ist nach wie vor geblieben. Später in den 1990er Jahren, als ich an Erfah­rungen rei­cher geworden war, wurde es mir immer wich­tiger, einen Dialog mit dem toten Autor anzu­fangen. Das war schon bei meiner Faust-Über­set­zung so, aber Goethe war weniger ansprechbar als Kleist, der auf skur­rile oder maka­bere Weise mein Freund wurde.

 

n.: Sie über­setzen aus dem Deut­schen. Wie würden Sie Ihr Ver­hältnis zur deut­schen Sprache beschreiben?

 

L.M.: Die deut­sche Sprache ist meine Wahl­sprache. Ich bin nicht wirk­lich zwei­spra­chig, und wenn ich müde bin, oder nicht ganz genau auf­passe, mache ich gram­ma­ti­sche Fehler oder bin sti­lis­tisch nicht ganz genau. Im All­tags­leben und ins­be­son­dere, wenn ich nicht zu Hause, son­dern wie jetzt in Berlin bin, dann ist die deut­sche Sprache mein Bewe­gungs­raum. Die deut­sche Sprache ver­half mir irgendwie zu einem Stück innerer Frei­heit. Als ich Soldat war, wurde ich zur Strafe zum Wach­dienst ein­ge­teilt. Einen Monat lang musste ich nachts Wache halten. Es war sehr kalt, denn es war Winter. Und in der Zeit, die mir zur Ver­fü­gung stand, las ich einen deut­schen Text mit Hilfe eines Wör­ter­buchs und schrieb mir die unbe­kannten Wörter raus. Dafür hatte ich immer eine halbe Stunde Zeit, nach der Ablö­sung, fünf- oder sechsmal am Tag. Anschlie­ßend befes­tigte ich das Blatt Papier mit einem Nagel an einen Baum­stamm oder einer Planke und als ich so auf und ab spa­zierte, prägte ich mir dabei die Wörter ein. Ich hätte die Schlaf­lo­sig­keit sonst nicht ertragen. Und die deut­sche Sprache hat mir über diesen schwie­rigen Zeit­ab­schnitt hinweg geholfen. Später ist mir die deut­sche Sprache ein Tor zur Welt­li­te­ratur, zur Phi­lo­so­phie geworden. Es gab sehr viele Werke, die ich nur in deut­scher Über­set­zung lesen konnte. Und noch später fing ich an, deutsch­spra­chige Texte zu ver­fassen. Ich schreibe grund­sätz­lich in meiner Mut­ter­sprache, aber es kommt vor, dass ich mit dem Deut­schen experimentiere.

 

n.: Sie haben ihre Romane auf Unga­risch ver­fasst, haben diese aber von Anderen über­setzen lassen…

 

L.M.: Ja, meine Romane selbst zu über­setzen, dazu wäre ich nicht fähig gewesen. Nicht nur, weil mir dazu die mut­ter­sprach­liche Kom­pe­tenz fehlt, son­dern auch des­halb, weil mir auf Deutsch ganz andere Sachen ein­fallen als auf Ungarisch.

 

n.: Wie gefallen Ihnen die deut­schen Über­set­zungen Ihrer Bücher?

 

L.M.: Ja, das ist anders als mit den slo­wa­ki­schen, bul­ga­ri­schen oder mon­go­li­schen Über­set­zungen, wo ich nur begeis­tert und gerührt sein kann [lacht], wenn ich mir meine Sätze anschaue, die doch nicht meine Sätze sind. Bei den deut­schen Über­set­zungen ist es anders, weil ich die Sprache ver­stehe, selbst über­set­ze­ri­sche Erfah­rung habe und die Ori­gi­nal­ab­sichten des Ver­fas­sers ziem­lich genau kenne. Da ich ganz genau weiß, woran er gedacht hat, birgt das tat­säch­lich eine Gefahr für meine Über­setzer und Über­set­ze­rinnen. Ande­rer­seits bin ich mit der deut­schen Fas­sung aller drei Romane sehr zufrieden.

 

n.: Inwie­fern ist es über­haupt mög­lich, gewisse kul­tu­relle Kon­texte in eine andere Sprache zu über­setzen? Und mit wel­chen Schwie­rig­keiten oder Pro­blemen sahen Sie sich als Über­setzer konfrontiert?

 

L.M.: Das hängt von vielen Fak­toren ab: von der Zeit des Kunst­werks, von der Kultur, die nicht unab­hängig von der Epoche ist, vom Autor und Werk, von der Pro­ble­matik des Werkes und nicht zuletzt von der Gat­tung. Viel­leicht ist das das Wich­tigste und dar­über redet man relativ wenig. Der Über­setzer eines Gedichts, also eines lyri­schen Werks, hat ganz andere Auf­gaben und Pro­bleme als der Über­setzer eines Pro­sa­werks. Es ist eine immer noch offene Frage, ob man metrisch über­setzen sollte, ob man die Metrik nach­ahmen sollte oder nicht. In der unga­ri­schen Lite­ra­tur­tra­di­tion ist es immer noch eine Sitte, die Metrik nach­zu­ahmen. Wenn ein Gedicht in Hexa­me­tern ver­fasst wurde, dann muss auch die Über­set­zung in Hexa­me­tern geschrieben werden. Nur dass ein unga­ri­scher Hexa­meter ganz anders aus­sieht als ein deut­scher. Die deut­sche Metrik ist eine akzen­tu­ie­rende Metrik und die unga­ri­sche Metrik ist teil­weise alter­nie­rend, teil­weise aber qua­li­tativ. Bei uns gibt es wie bei den Römern und Grie­chen einen ein­deu­tigen Unter­schied zwi­schen langen und kurzen Silben. Jedes Wort wird auf der ersten Silbe betont. Ein lyri­scher Über­setzer muss ein Gedicht als Gedicht rekon­stru­ieren, indem er es erst zer­stört und dann in der Mut­ter­sprache oder Ziel­sprache rekon­stru­iert. Und manchmal hat man das Gefühl, dass man durch die Über­set­zung etwas vom Dichter selbst und den Ideen, die dem Gedicht vor­aus­ge­gangen sind, ver­standen hat. Bei der Über­set­zung von Höl­derlin, bei kom­plexen und viel­schich­tigen Gedichten war das häufig der Fall. Ein paar Mal habe ich auch ein Fiasko erlitten, ich konnte das Gedicht von Nietz­sche “Aus hohen Bergen” nicht über­setzen. Es gab schon eine ältere unga­ri­sche Über­set­zung und dort stimmte die Metrik so unge­fähr, die Reime waren da, nur dass die Zusam­men­hänge fehlten. Mir war klar, dass ich es viel­leicht um einen Grad besser machen könnte, aber trotzdem würde es ein Fehl­schlag werden. Und dann habe ich mich für eine Line­ar­über­set­zung ent­schieden und es wurde ein Fiasko, aber ich konnte nicht anders.

 

Marton70

n.: Auf was muss man dem­nach bei der Über­set­zung von Pro­sa­texten achten? Und wie ist es mit den Dra­men­texten, die dazu noch büh­nen­taug­lich sein müssen?

 

L.M.: Bei Pro­sa­über­set­zungen muss man nicht so sehr auf die Hand­lung achten, die ist schon erfunden. Aber wesent­lich ist, wie viel Hin­ter­grund­wissen der Über­setzer hat. Wenn jemand zum Bei­spiel Döb­lins Alex­an­der­platz über­setzt, dann muss er nicht nur die deut­sche Sprache beherr­schen, son­dern sich auch in der Topo­gra­phie Ber­lins, und zwar des dama­ligen Ber­lins gut aus­kennen. Er muss mit der Geschichte der Wei­marer Repu­blik und eine Menge anderer Dinge wie der Ber­liner Mundart ver­traut sein, sonst wird er das Buch nicht gut über­setzen. Außerdem muss er den Atem des Romans nach­ahmen. Diese Pro­bleme sind mehr oder weniger zu meis­tern. Man kann nicht erwarten, dass alles vom Ori­gi­nal­werk hun­dert­pro­zentig her­über gerettet wird, aber wenn 80 oder 90 Pro­zent über­tragen werden können, dann ist das schon sehr gut. Dabei geht es jedoch nicht nur um Nach­ah­mung, son­dern auch um das Schaffen eines selb­stän­digen Werks. Das gilt für alle Gat­tungen, so zum Bei­spiel auch für das Theater.

Bei den Büh­nen­über­set­zungen muss der Text büh­nen­taug­lich sein und das bedeutet, dass man für das Publikum, aber eigent­lich auch für die Schau­spieler und noch eigent­li­cher für den Regis­seur über­setzt [schmun­zelt]. Da kann man keine Fuß­noten hin­zu­fügen. Man kann nicht am Rand der Bühne stehen und erklären, dieser Hin­weis bedeutet dies und jener das und an dieser Stelle hat das Publikum vor 400 Jahren gelacht. Nein, alles muss sofort funk­tio­nieren. Und des­halb ist eine phi­lo­lo­gi­sche Treue häufig ein Hin­dernis für das Ver­stehen. Ander­seits, und das ist meine Mei­nung, muss auch eine Büh­nen­über­set­zung eine Über­set­zung sein und keine Über­ar­bei­tung des Stücks. Ein talen­tierter Thea­ter­autor kann aus den Motiven von Shake­speare ein Stück schreiben, wie Botho Strauß zum Bei­spiel. Das ist völlig legitim, aber das ist keine Über­set­zung. Doch wenn jemand König Lear oder Hamlet neu über­setzt, dann müssen auch sämt­liche Lösungen und Ent­schei­dungen phi­lo­lo­gisch unter­mauert sein. Es gehört auch zur Pro­ble­matik der Über­set­zung, dass die Über­set­zungen sehr schnell ver­alten, anders als die Ori­gi­nal­werke. Warum dem so ist? Das zu erklären, wäre eine Geschichte für sich.

 

n.: Dann lassen Sie uns noch ein wenig über Ihr lite­ra­ri­sches Werk spre­chen. Was an den großen drei Romanen auf­fällt, ist der Ver­gan­gen­heits­bezug. Es sind Geschichten, die teil­weise Jahr­hun­derte zurück­liegen, wie in Ver­steck der Minerva oder in Die wahre Geschichte des Jacob Wunsch­witz. Was inter­es­siert Sie an diesen Zeiten?

 

L.M.: Das ist eine nun­mehr abge­schlos­sene Epoche in meinem Leben und Werk. Zu der Zeit, als ich auf­hörte, ein junger Autor zu sein, und mehr oder weniger als reife Per­sön­lich­keit schrieb, da fiel mir auf, dass die His­torie sehr viel Bewe­gungs­raum für die Fan­tasie bietet. Das ver­suchte ich aus­zu­nutzen. Mich inter­es­siert nicht die Ver­gan­gen­heit als solche, denn ich bin kein Museo­loge, weder Museo­loge noch Archäo­loge, noch Anti­quar. Nein, mich inter­es­sieren immer die Ansätze der Gegen­wart, das heißt die Ansätze des modernen Men­schen, die Ansätze oder die Vor­ge­schichte unseres heu­tigen Zustands. Und ich habe ent­deckt, dass in der frühen Neu­zeit das moderne Indi­vi­duum schon mehr oder weniger fertig aus­ge­bildet war. Das war auch ein Ent­ste­hungs­pro­zess. Mich inter­es­sierte die damals gespro­chene Sprache, die wir zwar nicht mehr spre­chen, aber mehr oder weniger noch ver­stehen. Mich inter­es­sierten auch die Ver­hält­nisse des 16.–18. Jahr­hun­derts, sowohl die poli­ti­schen als auch die kul­tu­rellen. Wenn sie auch nicht iden­tisch mit den heu­tigen Ver­hält­nissen sind, da, wie bereits gesagt, die Kluft immer größer und größer wird, bleiben sie den­noch ver­gleichbar. Die dama­ligen Ver­hält­nisse waren roher und pri­mi­tiver als heute, die Arbeits­tei­lung war nicht so aus­ge­prägt und per­sön­liche Ent­schei­dungen spielten eine wesent­lich grö­ßere Rolle als heute. Und gerade des­halb ver­suchte ich Geschichten zu finden oder zu erfinden, in denen sich der heu­tige Leser wieder erkennen kann und den­noch nicht sich, son­dern etwas Fremdes findet.

 

n.: Dem­nach geht es um die Span­nung zwi­schen Fremd­heit und Vertrautheit…

 

L.M.: Genau. Die erste Hälfte meines ersten his­to­ri­schen Romans Die wahre Geschichte des Jacob Wunsch­witz des Romans ent­stand hier in Berlin, und zwar am Wannsee im Gebäude des LCB, des Lite­ra­ri­schen Col­lo­quiums Berlin, und sie weist zahl­reiche Bezugs­punkte zu Hein­rich von Kleist auf. An dem Ort an einem kleis­tisch ange­hauchten Roman zu arbeiten, wo sich Kleist selbst erschossen hatte, war schon teil­weise schreck­lich, ander­seits anre­gend und inspi­rie­rend. Ich wollte an einem Stoff arbeiten, den Kleist ganz gewiss gekannt und trotzdem nicht ver­wendet hatte. Eine Kla­ge­schrift der Witwe des im Titel vor­kom­menden Jacob Wunsch­witz taucht in der­selben Samm­lung auf, in der auch die Geschichte von Kohl­haas vor­kommt. Kleist hat ganz gewiss die gesamte Samm­lung gelesen.

 

n.: Im Ver­steck der Minerva ent­hüllt der Erzähler an einer Stelle, dass das Prinzip der Ver­zö­ge­rung sowohl grund­le­gend für das Leben an sich sei, als auch, wie man als Leser später fest­stellt, für das Werk eine ent­schei­dende Rolle spielt. Inwie­fern ist das Prinzip der Ver­zö­ge­rung für Ihren Roman fruchtbar gewesen?

 

L.M.: Eines Tages müsste man eine Poetik der Ver­zö­ge­rung schreiben. Je älter ich werde und je mehr Bücher ich schreibe, desto sicherer bin ich, dass einer der grund­sätz­li­chen Fak­toren der erzäh­lenden Prosa die Ver­zö­ge­rung ist. Denken Sie nur daran, wie Tau­send und eine Nacht struk­tu­riert ist. Es ist ein Rie­sen­werk, in der unge­kürzten Fas­sung zehn­tau­send Seiten lang und das ein­zige poe­ti­sche Prinzip, das erzähl­poe­ti­sche oder roman­poe­ti­sche Prinzip, das ganz kon­se­quent durch­ge­führt wird, ist die Ver­zö­ge­rung. Die Ver­zö­ge­rung ist natür­lich nicht die ein­zige Mög­lich­keit, eine trag­fä­hige nar­ra­tive Struktur zu ent­wi­ckeln. Doch wenn man an die Ein­schübe, die Exkurse, Medi­ta­tionen, Lan­des­be­schrei­bungen, Bild­be­schrei­bungen und Inte­ri­eurs in den gelun­gensten Erzähl­werken denkt, die nicht nur als Kolorit funk­tio­nieren, son­dern meis­tens eine sehr wich­tige Schicht des Textes dar­stellen, dann würde ich sagen, dass man auf die Ver­zö­ge­rung nicht ver­zichten kann. Man kommt nicht umhin zu ver­zö­gern, weil eine jeg­liche Refle­xion, eine jeg­liche Erklä­rung, eine Anrede des Lesers, ein Spaß, ein Hin­weis an sich eine Ver­zö­ge­rung ist. Es gibt Autoren, die die Ver­zö­ge­rung hun­dert­pro­zentig aus­zu­schalten ver­su­chen. Das finde ich keine glück­liche Bestre­bung. Ande­rer­seits muss man ein klares Kon­zept haben. Man muss kom­man­dieren. Und manchmal muss man dabei auch ener­gisch vor­gehen. An gewissen Stellen muss man große und schnelle Schritte vor­nehmen. Das gehört auch dazu. Wenn es nur Ver­zö­ge­rung gibt, dann kann man das Werk nicht abschließen.

 

n.: Eine letzte Frage. Sie hatten mal erwähnt, dass es für Sie als unga­ri­schen Schrift­steller schwerer sei, sich im lite­ra­ri­schen Betrieb zu behaupten. Inwie­fern ist das so und was sind die Gründe dafür?

 

L.M.: Das habe ich tat­säch­lich gesagt, aber das bezog sich nicht auf meine Iden­tität als unga­ri­scher Autor, son­dern über­haupt auf mich als László Márton. Ich bin daran gewöhnt. Mein Vater war Zahn­tech­niker und das bedeu­tete, dass er selb­ständig war. In der Schule gab es sechs ver­schie­dene Kate­go­rien von A bis F. Wer A war, der hatte Arbei­ter­el­tern. Wer B war, der hatte Eltern, die zur Arbei­ter­intel­li­genz gehörten. Wer C war, hatte Eltern in der Land­wirt­schaft usw. Und von A bis E hatten die Kinder ab den 1970er Jahren schon unge­fähr die glei­chen Chancen. Aber Kate­gorie F war ein­deutig ein Han­dicap. Mir ist dann klar geworden, dass ich mit diesem Buch­staben nicht so ohne wei­teres an der Uni ange­nommen werden würde. Meine ein­zige Chance oder Mög­lich­keit, Hun­ga­ro­logie zu stu­dieren, bestand also darin, durch einen Wett­be­werb an die Uni zu kommen. Es gab jedes Jahr einen Wett­be­werb für Gym­na­si­asten in sämt­li­chen Dis­zi­plinen und ich musste in der Kate­gorie unga­ri­sche Lite­ratur gewinnen. Ich wusste also, dass ich unter die ersten zehn kommen musste, und ich wurde vierter mit einem Auf­satz über Thomas Mann. Das ging dann auch in der Lite­ratur so weiter, weil ich kein bequemer Autor bin, weil ich nie populär werden oder mich dem Main­stream anschließen wollte, son­dern meinen eigenen Weg beschritt. In den ersten fünf, sechs Jahre meiner lite­ra­ri­schen Lauf­bahn wurden alle meine Manu­skripte von den dama­ligen Lite­ra­tur­zeit­schriften abge­lehnt. In dieser Zeit musste ich mich ent­scheiden, ob ich trotzdem weiter schreiben wollte. Ich habe weiter geschrieben und dann wurde mein erster Erzähl­band ange­nommen. Noch später wollte ich auf Deutsch ver­öf­fent­licht werden und musste des­halb eine Erzäh­lung auf Deutsch ver­fassen. Meine Bücher waren damals nicht gefragt und wurden nicht über­setzt. Später dann schon. Ich bin mit der Kate­gorie F aber gar nicht unzu­frieden. Könnte ich es anders machen, würde ich es nicht tun.

 

n.: Vielen Dank!