Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

„Das Boll­werk der Kunst”. Im Kampf um die Zukunft, nicht um Europa.

Ende 2013 kippten in Kyiv die Demons­tra­tionen gegen die Regie­rung in blu­tige Pro­teste um. Seit Wochen stehen auf zen­tralen Plätzen ukrai­ni­scher Gross­städte Zelt­lager der Pro­tes­tie­renden. Trotz mili­tä­ri­scher Gewalt und win­ter­li­chem Frost ent­wi­ckeln sie sich zu Orten der Kunst­pro­duk­tion und ‚brennen’ Kul­tur­schaf­fenden aus allen Teilen der Ukraine unter der Tastatur.

 

[Serhij Žadan und Jurij Andruchovyč]

Serhij Žadan und Jurij Andruchovyč

Kateryna Tyaglo lebt als Schrift­stel­lerin, Dich­terin und Lite­ra­tur­so­zio­login in Kyiv. Die junge Frau steht nicht auf den Bar­ri­kaden, aber wie Tau­sende anderer betei­ligt sie sich, wie sie kann: Sie hilft zum Bei­spiel stun­den­weise auf dem Majdan (Platz der Unab­hän­gig­keit) aus und leitet rele­vante Infor­ma­tionen, Anfragen und Kon­takte weiter.

Schon Ende letzten Jahres hat sie auf die Unruhen in der ukrai­ni­schen Haupt­stadt hin­ge­wiesen, nachdem ihr Inter­view­partner für ange­dachte sozio­lo­gi­sche Stu­dien mit der Begrün­dung absagten, die Wis­sen­schaft könne warten, es gäbe jetzt Wich­ti­geres. Einige Befragte sind zu den Ter­minen aus Angst, unter­wegs in Stras­sen­kämpfe ver­wi­ckelt zu werden, nicht erschienen. Ihren Termin für ein kurzes Feed­back zur aktu­ellen Situa­tion hat Tyaglo zum Glück nicht abge­sagt – das daraus ent­stan­dene Inter­view ist unten zu finden.

Es sei klar, dass die Pro­teste, ein eigener Unter­su­chungs­ge­gen­stand werden würden, wenn die Wogen sich geglättet haben, sagt Kateryna Tyaglo. Dafür führt sie jetzt Inter­views mit Betei­ligten, wenn sich die Gele­gen­heit bietet, wobei sie offen ein­ge­steht, dass sie selbst inmitten all der Infor­ma­tions- und Erleb­nis­flut keinen Abstand zum Geschehen ent­wi­ckeln kann.

Die Schrift­stel­lerin Natalka Snja­danko aus L’viv sucht erst gar keinen ana­ly­ti­schen Abstand. Sie hat ihren Berufs- und Fami­li­en­alltag auf­ge­geben, um sich ganz den Pro­testen zu widmen: „Ein typi­sches Syn­drom der Revo­lu­tion ist, wenn du sofort ant­wor­test, falls dir jemand über Twitter oder Face­book um fünf Uhr mor­gens schreibt, ohne dich dar­über zu wun­dern, dass einige Sekunden später die ersten Kom­men­tare von Kol­legen erscheinen; wenn du mit dem Telefon in der Hand ein­schläfst und zwei Stunden später auf­wachst, um zu prüfen, ob nicht ein Angriff begonnen hat, oder in der Nacht auf­stehst, um eine Strasse zu blo­ckieren, die die Polizei ein­nehmen möchte; wenn Schrift­steller sich über die Frech­heit ihrer Kol­legen auf­regen, dass sie es wagen, einen zu einer Buch­prä­sen­ta­tion oder Aus­stel­lung ‚off-topic’ einzuladen.“

Auch Serhij Žadan aus dem ost­ukrai­ni­schen Charkiv befindet sich unun­ter­bro­chen im Aus­nah­me­zu­stand des Wider­stands. Er ist in den letzten zwei Monaten viel auf­ge­treten – auf dem Charkiver Majdan, in Kyiv und in Doneck. Aus­serdem hat er seine Kol­legen aus anderen Teilen der Ukraine (Jurij Andruchovyč, Irena Karpa, Olek­sandr Irvanec’) und einige Musiker nach Charkiv ein­ge­laden. Die Mehr­heit der Intel­lek­tu­ellen könne ein­fach keine Ver­bre­cher und kor­rupten Poli­tiker unter­stützen, auch wenn es in der Oppo­si­tion noch keine wirk­liche Alter­na­tive gäbe, und so hätten sich, wie auch 2004, von Anfang an viele Schrift­steller, Musiker, Künstler und Schau­spieler mit dem Majdan soli­da­ri­siert. Doch seit Januar sei die Situa­tion zu ange­spannt, um Gedichte zu lesen. Der Pro­test, sagt Žadan, sei für die Kul­tur­schaf­fenden nicht so sehr ein Bekenntnis zur Euro­päi­schen Union oder zur Oppo­si­tion, son­dern ein Kampf für tief­grei­fende Ver­än­de­rungen, für einen „Reset der Nation“.

[Serhij Žadan unter dem Shevchenko-Denkmal]

Serhij Žadan unter dem Shevchenko-Denkmal

Die Demons­tra­tionen, die zunächst wie die Oran­gene Revo­lu­tion von 2004/2005 fried­lich waren, sind eska­liert, als die Regie­rung am 21. November den Traum einer Her­an­füh­rung an euro­päi­sche Lebens­ver­hält­nisse zer­störte. „Danach entlud sich der Hass, der sich in den letzten vier Jahren gegen den Prä­si­denten und die Regie­rung auf­ge­staut hatte“, erklärt der Ukraine-Experte Jakob Mischke aus Berlin.

Die Pro­teste sind nun bereits festes Thema von Gedichten, Bil­dern und Tage­buch­no­tizen auf den Seiten sozialer Netz­werke geworden. Andrej Kurkov, der auf Rus­sisch schrei­bende und im Aus­land erfolg­reiche Autor aus Kyiv, weist darauf hin, dass im Demons­tran­ten­lager der Haupt­stadt zwi­schen Hun­derten anderer Zelte ein Zelt namens Boll­werk der Kunst (Мистецький Барбакан) steht. In ihm wird revo­lu­tio­näre Malerei aus­ge­stellt, Dichter tragen vor, Bücher werden prä­sen­tiert, Kon­zerte gespielt. Auf Zäunen und Zelten hängen frisch gedruckte Gedichte, in rus­si­scher und ukrai­ni­scher Sprache.

„Revo­lu­tion ist immer ein Impuls für die Kunst. So war das nach der Okto­ber­re­vo­lu­tion und so ist es jetzt“, meint Kurkov. Unter den Akti­visten des Euro­majdans gebe es sowohl Schrift­steller als auch Rock­sänger und Ver­leger. Sie würden helfen, die Bar­ri­kaden zu befes­tigen und daneben auch Artikel für Web­sites ver­fassen, Inter­views geben, zu Mee­tings fahren und die Autos beschützen, die Heiz­holz für die Demons­tran­ten­zelte anlie­fern. Diese Men­schen leben die Revo­lu­tion, obwohl sie wissen, dass Gericht und Gefängnis auf sie warten, wenn die Revo­lu­tion scheitert.

Bis dahin eta­blieren sie die Kunst als wesent­li­chen Teil des Majdans. Neben Auf­tritten, Losungen und Flug­blät­tern fun­gieren auch kon­krete Gegen­stände als Zei­chen des Pro­tests, dar­unter ori­gi­neller Weih­nachts­baum­schmuck, die Deko­ra­tion der Zelte und ein „Denkmal für den Pro­tes­tie­renden“. Der Majdan sti­mu­liere eine Art Mas­sen­kunst, kom­men­tiert der Dichter Oleh Kocarev, der in dem für junge Lite­ratur wich­tigen Verlag Smo­loskyp (dt.: Fackel) arbeitet. Es ent­stehen par­odis­ti­sche Foto-Comics (sog. fotožaby), Anek­doten und Adap­tionen bekannter Lieder – zum Bei­spiel habe sich das Volks­lied Horila sosna (Es brannte die Kiefer) in das Lied Horila šina (Es brannte der Reifen) ver­wan­delt.

Auf­fällig sei zudem eine Ten­denz zum Archai­schen: Die Klei­dung erin­nere an Kosaken, wie auch der Ein­satz von Kata­pulten und Wach­türmen. Die Folk­lore schim­mere zum Bei­spiel durch, wenn die Flamme eines Molotow-Cock­tails wie ein tra­di­tio­neller Schriftzug gemalt werde. Kocarev erklärt dies damit, dass eine expres­sive Volks­tüm­lich­keit an Arche­typen anknüpft. Das Folk­lo­ris­ti­sche funk­tio­niere wie ein Prä­text, der der Sti­li­sie­rung der neu­esten Werke diene. Offenbar geht es um Gemein­schafts­stif­tung durch Kunst. Dieses Ziel sieht Kocarev durch die Gedichte seiner Kol­legen, die  im Netz publi­ziert werden, gefährdet: Sie seien zu agi­ta­to­risch und ästhe­tisch uninteressant.

Die zwei­spra­chige Dich­terin Elena Zas­lav­kaja aus Luhansk, unweit der rus­si­schen Grenze, gehört zu jenen, die Gedichte zur Revo­lu­tion auf ihren Seiten publi­zieren. Dabei distan­ziert sie sich vom Majdan – wegen der zahl­rei­chen Rechts­extremen dort. Sie kri­ti­siert einen wei­teren Umstand: Das ukrai­ni­sche Internet über­zeichne die Ereig­nisse mit allen Mit­teln. Zas­lav­kaja schreibt, sie ver­suche sich der Ein­tei­lung der Ukrainer in Helden und Sklaven zu ent­ziehen, ihr Ver­trauen in die Medien sei erschüt­tert. „Ich möchte meinen Tag nicht damit beginnen, im Internet zu lesen, wie viele meiner Mit­bürger gestorben sind. Ich möchte arbeiten und schreiben. Ihr Spek­takel inter­es­siert mich nicht“, sagt sie und bezieht sich auf das Buch Pova­ren­naja kniga media-akti­vista von Oleg Kireev. Unge­achtet dessen nimmt ihr Kol­lege Kon­stantin Skorkin, der wie Zas­lavs­kaja der Dich­ter­gruppe STAN ange­hört, an den Pro­test­ak­tionen in Luhansk teil. Er ist des­wegen bereits mehr­fach anonym bedroht worden.

Andrej Kur­kovs nüch­terner Dia­gnose nach ist die Romantik der ersten Pro­test­wo­chen längst ver­schwunden. Die Angst der letzten Wochen mitt­ler­weile auch. Ange­sichts von Schüssen aus dem Hin­ter­halt, von im Wald bei Kyiv auf­ge­fun­denen Lei­chen Pro­tes­tie­render und – zusätz­lich zu den Spe­zi­al­ein­heiten der Polizei –  uniden­ti­fi­zier­baren Angrei­fern ist das alles andere als selbst­ver­ständ­lich. Viele, die aus anderen Städten und Dör­fern zur Demons­tra­tion ange­reist sind, hätten in den ersten fünf Wochen eine gute Schule der Poli­tical Stu­dies durch­laufen, erklärt der Schrift­steller. Damals wirkte auf dem Ter­ri­to­rium des revo­lu­tio­nären Lagers eine Offene Uni­ver­sität. Auf ihrer Bühne trugen neben Dozenten und Frei­wil­ligen mit guter Bil­dung auch Schrift­steller und Dichter vor. Häufig war die rhe­to­ri­sche Frage zu hören, wann denn ein ukrai­ni­scher Gandhi käme. Das Warten auf ihn erscheint Kurkov immer ver­geb­li­cher. Künstler und Dichter hätten min­des­tens genauso viel Arbeit vor sich wie His­to­riker und Poli­tiker, fügt er hinzu.

 

Kateryna Tyaglo im Kurzinterview:

novinki: Als Sozio­login unter­suchst Du die Gesell­schaft. Wie wür­dest Du die Situa­tion in Kyiv beschreiben?

 

Kateryna Tyaglo: Die Situa­tion ist kri­tisch. Die ersten Toten – ein Ukrainer mit arme­ni­schen Wur­zeln und ein Weiss­russe – gehörten keiner poli­ti­schen Gruppe an, son­dern waren Teil der Demons­tranten auf dem Platz. Die Zahl der Ver­letzten wächst ständig. Meh­rere Akti­visten des Auto-Majdans wurden ange­griffen. Das sind Fahrer diverser Fahr­zeuge, die den Majdan und die Pro­tes­tie­renden unter­stützen. Einige von ihnen sind zusam­men­ge­schlagen worden. Einer der Leiter des Auto-Majdans musste die Ukraine ver­lassen, da ihm eine Haft­strafe von 15 Jahren droht. Die Mel­dungen über neue Ver­letzte und Tote über­schlagen sich.

 

n: Worin siehst Du den Kern des Konflikts?

 

K.T.: Das Pro­blem, mit dem alles anfing, war die Wei­ge­rung des Prä­si­denten, dem Asso­zi­ie­rungs­ab­kommen mit der Euro­päi­schen Union zuzu­stimmen. Doch darum geht es nicht mehr. Der fried­liche Wider­stand hat sich erschöpft. Der Kampf betrifft nicht mehr die euro­päi­sche Zukunft, son­dern ein­fach die Zukunft.
Zur ersten Eska­la­tion ist es gekommen, als in der Nacht vom 30. November auf den 1. Dezember meh­rere Stu­denten, die in Zelten auf dem Majdan geschlafen haben, brutal ver­prü­gelt worden sind. Die zweite Eska­la­tion fand in der Nacht vom 10. zum 11. Dezember statt, als beson­ders viele Men­schen zur Unter­stüt­zung der Demons­tranten auf den Majdan gekommen waren und Berkut (diese Ein­heit wird ein­ge­setzt, um Mee­tings und Demons­tra­tionen auf­zu­lösen) sowie die Streit­kräfte des Innen­mi­nis­te­riums die Gruppe zer­schlagen hat. Den dritten Höhe­punkt sehe ich in der Annahme von ver­fas­sungs­wid­rigen Gesetzen am 16. Januar. Sie legten fest, dass Pro­test­ak­tionen als Straf­taten gelten und zwei bis 15 Jahre Haft nach sich ziehen. Ferner sollten Ver­samm­lungen von mehr als zehn Men­schen an Gebäuden und die Bewe­gung von mehr als fünf Autos ver­boten werden.
Nach sozio­lo­gi­schen Angaben stand dar­aufhin die Hälfte der ukrai­ni­schen Bevöl­ke­rung auf den Plätzen ihrer Städte, um gegen diese ver­fas­sungs­wid­rigen Gesetze, für einen Rück­tritt des Innen­mi­nis­ters Zacharčenko, für eine Neu­wahl des Prä­si­denten und die Bil­dung einer neuen Regie­rung zu pro­tes­tieren. Aber in erster Linie für ihre eigene Sicher­heit, für das Recht auf Ver­samm­lungs­frei­heit und für die Mög­lich­keit, Infor­ma­tionen frei aus­zu­tau­schen. Also für eine Re-Eta­blie­rung der Ver­fas­sung und gegen den Präsidenten.

 

n: In einer frü­heren Mail hast Du die Par­al­lele 1984/2014 gezogen. Was meinst Du damit?

 

K.T.: George Orwell hat in 1984 eine tota­li­täre Gesell­schaft beschrieben, in der alles der Angst und Ver­zweif­lung unter­liegt. In der Ukraine wird gerade ver­sucht, eine Gesell­schaft zu eta­blieren, die sich im Zustand des stän­digen Krieges „aller gegen alle“ befindet. Auch wir haben unser „Minis­te­rium der Wahr­heit“, die regime­treuen Mas­sen­me­dien. Ich habe Angst um die­je­nigen Men­schen in der Ukraine, die keinen Inter­net­zu­gang haben und den Print- und Fern­seh­me­dien ver­trauen müssen. Auch sie sind Opfer dieser Macht, die nicht davor scheut, Beamte und Unter­nehmer anzu­heuern, um Mee­tings zur Unter­stüt­zung der Regie­rung auf­zu­füllen. Sie werden bezahlt, ein­ge­schüch­tert, erpresst und gezielt fehl­in­for­miert. Dass ein Teil der Leute dies glaubt und auch anfängt, Bar­ri­kaden zu bauen, so dass eine Front ent­steht, sprengt den Rahmen des gesunden Men­schen­ver­standes und lässt sich wohl vor­erst nicht analysieren.

 

n: Wie reagieren die offi­zi­ellen Medien?

 

K.T.: Auch wenn die offi­zi­ellen Mas­sen­me­dien anders dar­über berichten, hat die Polizei von Anfang an Schuss­waffen ver­wendet. Die Pro­tes­tie­renden wehren sich mit selbst­ge­machten Waffen wie Stö­cken, Steinen und Molotow-Cock­tails. Zum Bei­spiel haben sie Busse der Spe­zi­al­ein­heit Berkut ver­brannt. Aus den ver­brannten Bussen haben sie Bar­ri­kaden gegen das Vor­dringen von Berkut gebaut. Im Moment ver­tei­digen sich der Majdan und anlie­gende Strassen dadurch, dass alte Auto­reifen gesam­melt und neben den Bar­ri­kaden ver­brannt werden. Der ent­ste­hende Rauch­vor­hang ver­hin­dert gezielte Schüsse. Das Zen­trum der Stadt füllt schwarzer Qualm. In einigen Strassen, die an den Platz der Unab­hän­gig­keit angrenzen, bleibt der Geschäfts­be­trieb aus. Es gibt eine Viel­zahl von unab­hän­gigen Medien, die dar­über adäquat berichten, und auch eine Sami­zdat-Zei­tung auf dem Majdan.

 

n: Schreckt die zuneh­mende Lebens­ge­fahr nicht ab, sich auf dem Platz der Unab­hän­gig­keit aufzuhalten?

 

K.T.: Auch wenn die Men­schen sich der Gefahr bewusst sind, gehen sie auf die Strasse und errichten neue Bar­ri­kaden. Je höher die Wahr­schein­lich­keit eines Angriffs, desto mehr Men­schen erscheinen auf dem Majdan, das ist eine Gesetz­mäs­sig­keit der letzten Monate.

 

n: Was sagen Deine Kol­legen in der Universität?

 

K.T.: Erstaun­li­cher­weise wenig, obwohl zuneh­mend eine Spal­tung zu spüren ist – in Sozio­logen, die den Majdan unter­stützen und jene, die regime­treu sind.

 

n: Wie schlägt sich die Situa­tion in Deinem Alltag nieder?

 

K.T.: Ich beginne den Tag damit, dass ich in Inter­net­res­sourcen meines Ver­trauens die Nach­richten lese und mit Freunden und Bekannten tele­fo­niere, die auf dem Majdan sein könnten. Wenn ich Zeit habe, lese ich in sozialen Netz­werken die Listen der benö­tigten Hilfe, ver­suche zu helfen (mit Klei­dung, Medi­ka­menten, Essen) und leite die Infor­ma­tionen weiter. Ich ver­suche, mir bekannte Anwälte, Ärzte und Jour­na­listen zu errei­chen. Bis zu den Ereig­nissen am 19. Januar war ich auch ab und an unter den Frei­wil­ligen, aber jetzt ist es zu gefähr­lich, abends alleine unter­wegs zu sein. Wenn ich eine Gruppe fände, würde ich wieder regel­mässig hingehen.

 

n: Was genau hast Du auf dem Majdan gemacht?

 

K.T.: Wenn ich die Kraft hatte, habe ich Nacht­dienst gemacht: Tee ver­teilt, in der Küche geholfen und bin mit Freunden zu Kon­zerten und Reden gegangen. Ich habe aus­serdem Inter­views mit Pro­test­teil­neh­mern geführt. Ich denke, es wird später helfen, die Situa­tion dif­fe­ren­ziert zu beschreiben. Manchmal hatte ich Angst um mich, und ich habe viele grelle Ein­drücke, die ich im Moment nur schwer sor­tieren kann. Was ich mit Sicher­heit sagen kann: Auf dem Platz der Unab­hän­gig­keit in Kyiv treffen sich Men­schen aus den unter­schied­lichsten Teilen der Ukraine und finden in ihrer Soli­da­rität eine gemein­same Sprache. Hier gibt es keine regio­nale Spal­tung, hier gibt es ein Volk.

 

n: Wovor hast Du am meisten Angst?

 

K.T.: Dass meine Nächsten und meine Freunde umkommen könnten und gene­rell vor neuen Opfern – wie jeder Mensch. Ich habe Angst vor einer Dik­tatur und vor einer Iso­la­tion der Ukraine von der Welt und der Welt von uns, vor einem neuen „Eisernen Vor­hang“ und einer Infor­ma­ti­ons­blo­ckade, vor Repres­sionen gegen­über Jour­na­listen und Akti­visten auf dem Majdan.

 

n: Was wür­dest Du dem „Westen“ mit­teilen wollen?

 

K.T.: Dass die Men­schen sich gut infor­mieren und uns wenigs­tens ideell unter­stützen. Der Majdan möchte wissen, dass er dem „Westen“ nicht gleich­gültig ist. Die meisten Akti­visten haben nichts mehr zu ver­lieren, sie werden, wie sie sagen, bis zum Letzten stehen. Einige haben ihre Arbeit auf­ge­geben, einige wurden gefeuert, vielen drohen ent­spre­chende Kon­se­quenzen. Nein, wir stossen nicht mehr die Tür nach Europa auf, wir möchten ein­fach nur in Ruhe in einem demo­kra­ti­schen Land leben.

 

 

Stoss­gebet von Jelena Zaslawskaja

[Über­set­zung: Tat­jana Hofmann]
Ohne den Mund zu öffnen
Sage ich ein ein­fa­ches Gebet auf:
Es soll nicht sein,
Bruder gegen Bruder,
Schwester gegen Schwester.
Keine Ant­wort auf das Gebet,
Der Himmel
Bleibt im schwarzen Nebel.

Dass ich gerade lebe,
Ist unwichtig. Wichtig ist, wofür ich sterbe.
Rat­tert eure seichten Beichten ab
Und hofft, dass man auf „share“ drückt.
Die Molotow-Cocktails
Sind im Frost so heiss!

Was träumst Du, Beschützerin?
Was siehst du dort?
Meine Ukraine steht am Rand der Welt,
Am äus­sersten Rand des Kriegs.

 

Wei­ter­füh­rende Links:

Kireev, Oleg: Pova­ren­naja kniga media-aktivista
Zas­laws­kaja, Jelena: Molitva
Zas­laws­kaja, Jelena: I vypo­l­zajut morloki-šachtery
http://www.pravda.com.ua
http://www.bbc.co.uk/ukrainian
http://hromadske.tv
spilno.tv
www.ustream.tv/channel/spilno-tv‎

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