Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Leuch­tender Solitär

Aus sol­cher Nähe mussten wir ihn noch nie ertragen – in Sommer in Baden-Baden prä­sen­tiert uns Leonid Cypkin [Leonid Zypkin] die Reise der frisch ver­hei­ra­teten Dos­to­jevs­kijs nach Deutsch­land mit bestür­zendem Gespür für die Leer­stellen, die sie in ihren für die Öffent­lich­keit berei­nigten Tage­bü­chern und Briefen gelassen haben.
Jäh­zornig, eifer­süchtig und besessen vom Rou­lette tau­melt der große Schrift­steller mit seiner Anna in den finan­zi­ellen Abgrund, immer auf den großen Gewinn am Spiel­tisch hoffend.
Mit schier ufer­loser Detail­fülle – dem Lese­er­trag eines ganzen Lebens – hat Cypkin ein Por­trät dieses Schwie­rigen, wie viel Geliebten geschrieben, das völlig abseits aller Zirkel und Strö­mungen des Sami­zdat oder gar der offi­zi­ellen  Lite­ratur Sowjet­russ­lands ent­standen ist.

Dieser ein­zige Roman des Medi­zi­ners Cypkin, den er 1980 knapp zwei Jahre vor seinem frühen Tod abge­schlossen hatte, und seine umwe­gige Reise zu den Lesern grenzen an ein Wunder. Mühsam hat er seinen sti­lis­tisch und the­ma­tisch so freien Text in langen Jahren nie­der­ge­schrieben, neben seiner Arbeit an einem viro­lo­gi­schen Institut in Moskau, der beacht­li­chen Pro­duk­tion wis­sen­schaft­li­cher Auf­sätze und ohne Hoff­nung auf Ver­öf­fent­li­chung – als Jude, der offen über Dostoevs­kijs Anti­se­mi­tismus nachdachte.

Gelungen ist ihm ein soli­tärer Vor­läufer der Bio­fic­tion, anspie­lungs- und kennt­nis­reich, ein poe­ti­sches Gewebe, dessen Grund­stoff,  „der ver­blüf­fende Cyp­kin­satz“ (S. Sontag), nicht mehr an die Linea­rität alles Geschrie­benen gebunden zu sein scheint.

Im Erzähler begegnet uns Cypkin selbst, der sich im Zug nach Peters­burg sit­zend in eine zer­le­sene Tau­wet­ter­aus­gabe des Tage­bu­ches von Anna Grigor’evna ver­tieft – „her­aus­ge­geben  in einem libe­ralen Verlag, wie sie zu der Zeit noch exis­tierten“ – und sich weg­zu­träumen beginnt, denn im selben Satz befinden wir uns plötz­lich bei den Dostoevs­kijs und ihrer ersten Rei­se­sta­tion in Wilna. Ein lei­den­schaft­li­cher Erzähl­strom setzt ein, in einer Art zeit­losen Gegen­wart wech­seln sich die fixen Ideen und Zwangs­vor­stel­lungen von Fëdor Michaj­lovič mit Fan­ta­sien und Refle­xionen des Erzäh­lers ab oder werden von Annas nüch­terner, aber mit­lei­dender Sicht kon­tra­punk­tiert. Wäh­rend sich Cypkin auf Wall­fahrt zu authen­ti­schen Orten befindet – er erstellte im Lauf seines Lebens eine große Zahl an Foto­gra­fien von Ori­gi­nal­schau­plätzen aus den Romanen oder von Wohn­orten Dostoevs­kijs, die er schließ­lich dem Dostoevskij-Museum über­ließ –  reist das Paar durch ganz Deutsch­land, um überall nur von unver­schämten und dummen Deut­schen geplagt zu werden.
Ent­lang der Auf­zeich­nungen von Anna Grigor’evna richtet Cypkin sein Objektiv unbe­stech­lich auf diesen dra­ma­ti­schen Beginn einer Ehe, die sich später zu einem äußerst glück­li­chen und pro­duk­tiven Gespann ent­wi­ckeln sollte. Immer begrenzt durch ein strenges  Rol­len­ver­ständnis, ver­steht sich, dass es ihr über­ließ sich um die täg­li­chen Sorgen und Nöte, vor allem Geld­nöte zu küm­mern, wäh­rend er ganz Groß­schrift­steller sein durfte.

Spürbar bleibt, wer die Kamera in der Hand hält, denn Cypkin spricht dazwi­schen und lichtet sich mit ab, wenn er wieder einen bis­sigen Kom­mentar über seinen trau­rigen Helden und dessen ein­fallslos-dümm­li­chen Juden­hass fallen lässt. Im indis­kreten Ehe­album gerät sich der Erzähler aber nicht nur selbst in den Blick, es tau­chen auch andere Gestalten auf, die sich en pas­sant von den Rän­dern in die Mitte drängen, Solže­nicyn etwa und seine epi­go­nen­hafte Rolle im neu-alten Kon­flikt zwi­schen West­lern und Sla­vo­philen. Und immer wieder nahtlos Fan­tas­ti­sches auf Fak­ti­sches in diesen sei­ten­langen, sorg­fältig arran­gierten Sätzen: all­täg­lichste Strei­te­reien zwi­schen Anna und Fedor erwei­tern sich plötz­lich zur Figu­ren­rede Dostevskij’scher Helden, dazwi­schen ledig­lich ein Bindestrich.

Um den Vor­denker frem­den­feind­li­cher und natio­na­lis­ti­scher Theo­reme flicht der Holo­caust­ent­kom­mene keine wei­teren Genie- und Wahn­sinns­my­then, statt­dessen ist sein Blick prä­zise und unver­stellt auf die Wunden und Demü­ti­gungen gerichtet, die der einst­mals beinah kri­ti­sche Geist vom immer schon bru­talen Machtarm aus Moskau emp­fangen hat.
„Es gab nur einen Ausweg: diese Ernied­ri­gungen als ver­dient anzu­sehen.“ Und so ist Dostoevskij in eine Reihe gestellt mit zahl­losen spä­teren Opfern des Gulag­sys­tems in Sibi­rien, von denen man­cher die Rute zu küssen begann und sich nicht selten schon wäh­rend seiner Lager­haft in einen Cla­queur des Sys­tems ver­wan­delte, was es – zu einem schreck­li­chen Preis – ermög­lichte, einen Weg zurück in die Sowjet­ge­sell­schaft zu finden, ohne für immer Paria zu sein oder schlichtweg wahn­sinnig an der Willkür des Ter­rors zu werden.

Solch essay­is­ti­sche Expli­ka­tion benö­tigt Cypkin aller­dings selten, er setzt seine unheim­liche Ima­gi­na­ti­ons­kraft ein, um die Trau­mata seines gequälten Dostoevskij zu bebil­dern: bie­dere Muse­ums­wärter, vor denen Dostoevskij in lächer­lichster Weise den Unbeug­samen und Über­le­genen zu demons­trieren ver­sucht, ver­wan­deln sich vor seinen Augen in den prü­gelnden Platz­major aus der Lager­zeit, der ihn wieder und wieder in Abgründe der Scham stürzen lässt. Beim Spa­zier­gang durch Baden-Baden sieht er sich von hämisch-über­heb­li­chen Lite­ra­ten­zir­keln umgeben, um sich – Erin­ne­rung oder Wahn­bild? – plötz­lich selbst in ihrem Kreise als den ver­zwei­felt um Aner­ken­nung bet­telnden, unwürdig um Tur­genev her­um­schwän­zelnden Par­venü zu sehen, des­sent­wegen sich alle viel­sa­gende Blicke zuwerfen.

Mal oppor­tu­nis­tisch, mal hys­te­risch – der große Natio­nal­dichter mit hei­liger christ­li­cher Mis­sion scheint seinen jüdi­schen Knall­chargen allzu ähn­lich – Ljamšin aus den Brü­dern Kara­masov etwa, oder dem lächer­li­chen, aber ein­ge­bil­deten Bumš­tejn, in den Auf­zeich­nungen aus dem Toten­haus. Mit seinen Sze­nen­mon­tagen bereitet Cypkin schließ­lich die ein­deu­tige Par­al­le­li­sie­rung vor: Der Wucherer Issaj Bumš­tejn starrt Dostoevskij aus dem Spiegel entgegen.
Nicht ganz ori­gi­nell viel­leicht, aber bis dahin ist alles neu und tief. Die beschrie­bene Szene ist kurz und unauf­fällig in den Text inte­griert, denn nir­gends stampft dieses Buch auf ein­fache, von Anfang an gewusste Ant­worten zu.

Rät­sel­haft ist Cypkin seine Liebe zu Dostoevskij, wie auch uns die tiefe Liebe Annas zu ihrem unbe­re­chen­baren Gatten, der selbst schon ohne Mittel, auch noch ihr Erbe ver­spielt. Dann kommt er auf Knien, küsst ihren Rock­saum: Du bist alles was ich habe, ver­zeih, ver­zeih, mein Engel, mein Alles. Die Auf und Abs, dann schon den freien Fall, nimmt sie gefasst als, nun ja, schmerz­liche Unver­meid­lich­keiten. Immer sieht sie in ihrem Gatten den unglück­li­chen Kranken, den guten Men­schen, dessen Leben so freudlos und bitter ver­laufen war. Trotz düster fröm­melndem Blick, von Anna erhält Dostoevskij die Barm­her­zig­keit, die er so pre­digt (und von der er abhängt), und Cypkin wür­digt sie darin. Er lässt die Liebe des Paares nicht erschöpft sein in Annas naiver Hin­gabe oder der Ero­to­manie Dostoevskijs.
Im Laufe des Buches schiebt sich dieses Thema vor den Basso Con­tinuo der aggres­siven Reiz­bar­keit Fëdor Michaj­lo­vičs, der in seiner Umwelt immer nur die feind­liche erblickt. Zart ver­flochten mit Annas leid­ge­prüfter Hal­tung scheint auch die Cypkin’sche Ver­eh­rung etwas durch­sich­tiger zu werden.

Recht bald nach dem frühen Tod Cyp­kins, er starb 1982 an seinem 56. Geburtstag, eine Woche nachdem es ihm gelungen war, wenigs­tens einen Teil des Romans in einer rus­si­schen Exil­zeit­schrift in New York zu ver­öf­fent­li­chen, erschien sogar eine Über­set­zung ins Deut­sche beim Roitman Verlag. Die gut gemeinten, aber ver­stüm­melnden Ein­griffe in das Text­ge­füge, nahmen dem Büch­lein des unbe­kannten Russen noch die letzte Chance auf Beach­tung. Die absatz­langen Kon­struk­tionen waren ohne Gespür für ihre sti­lis­ti­sche Besonder- und Schön­heit  in standardlang(weilig)en, deut­schen Sätze wie­der­ge­geben worden. Erzäh­ler­rede wurde zur wei­teren Ori­en­tie­rung kursiv abge­setzt. Ganze Absätze oder gar Seiten waren, aus heute wohl schwer nach­voll­zieh­baren Gründen, gestri­chen worden. Spe­ku­la­tionen Cyp­kins über die Nei­gung Dostoevs­kijs zu prä­pu­ber­tären Mäd­chen etwa, die er sich mit immer wie­der­keh­renden Lüst­lingen bis hin zu Lust­mör­dern in seinen Büchern aus dem Leib geschrieben haben könnte. Gerüchte dar­über kur­sierten aller­dings schon zu Leb­zeiten Dostoevs­kijs. Ideo­lo­gi­sche Gegner hatten immer wieder ver­breitet, dass der Autor so ver­kommen wie seine Sujets sei.
Wo Cypkin die Dostoevs­kijs wenig zim­per­lich über  Pola­cken und Jidden schimpfen lässt, wird auch das – aus beschö­ni­gender Liebe zu Dostoevskij gar? – geglättet wie­der­ge­geben. Die rah­mende Fahrt des Erzäh­lers nach Sankt Peters­burg wird schluss­end­lich derart gekürzt, dass das ganze Buch aus dem Gleich­ge­wicht kommt.
Dass jetzt eine deut­sche Neu­aus­gabe beim Berlin Verlag vor­liegt, die von Alfred Frank sen­sibel aus dem Rus­si­schen über­tragen wurde, ist noch Susan Sontag zu ver­danken, deren Vor­wort nun untrennbar zum Buch gehört. Selbst schon wieder so roman­haft, dass man es kaum glauben mag, fiel ihr Sommer in Baden-Baden in einem Floh­markt auf der Lon­doner Cha­ring Cross Road in die Hände. Sie ent­deckte in ihm eines der „schönsten, anre­gendsten  und ori­gi­nellsten Werke des ver­gangen Jahr­hun­derts“. Dem bleibt nichts mehr hinzuzufügen.

 

Leonid Zypkin: Sommer in Baden-Baden. Mit einem Vor­wort von Susan Sontag. Aus dem Rus­si­schen von Alfred Frank. Berlin Verlag. Berlin 2006.