Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Jazz, Schwei­ne­reien und eine kon­tro­verse NIN-Preis-Ver­lei­hung: Saša Ilić im Gespräch über „Pas i kontrabas“

Saša Ilić sollte im März aus seinem jüngsten Roman „Pas i kon­trabas“ (2019) lesen, für den er den renom­mierten NIN-Preis für Lite­ratur erhalten hat. Am Wiener novinki-Standort wollten wir mit ihm über die kon­tro­versen Reak­tionen auf die Ver­lei­hung spre­chen. Seit vielen Jahren ver­folgen wir bei novinki Saša Ilićs Arbeit. Leider kamen uns die Covid-19-Maß­nahmen dazwi­schen und wir haben das Gespräch nun online geführt.

 

Saša Ilić ist Autor von Ber­linsko okno (2005) und Pad Kolum­bije (2011).  Er wurde 1972 in Jago­dina geboren, ist Mit­be­gründer und Redak­teur der Lite­ratur-Bei­lage BETON, Unter­zeichner der Dekla­ra­tion zur gemein­samen Sprache und als Kri­tiker und Kul­tur­kom­men­tator in Ser­bien aktiv.

 

Hier können Sie das Ori­ginal im Ser­bi­schen lesen.

 

© Vesna Lalić.

 

novinki: Vielen Dank, dass du dich bereit erklärt hast, uns ein Online-Inter­view zu geben. Leider mussten wir unsere für März 2020 geplante Lesung in Wien vor­erst ver­schieben. Was bedeuten die gegen­wär­tigen Covid-19-Maß­nahmen für dich als Schriftsteller?

 

Saša Ilić: Zunächst danke ich euch für die Ein­la­dung. Wäh­rend wir uns unter­halten, werden um uns herum, fast wie in einem fik­tiven Werk, dras­ti­sche Maß­nahmen im Kampf gegen das Corona-Virus ergriffen. Das Virus hat es in wenigen Monaten geschafft, das Gesicht der Welt zu ver­än­dern, Grenzen dicht zu machen, Schengen und die Men­schen­rechte zu sus­pen­dieren, alle Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ka­näle auf das digi­tale Para­digma zu ver­la­gern… Covid-19 ent­larvt auch das Wesen ein­zelner Staaten, weil raus­kommt, nach wel­chen Mus­tern sie funk­tio­nieren und ob es sich um demo­kra­ti­sche, auto­ri­täre, tota­li­täre Sys­teme han­delt oder um solche in Tran­si­tion… Das sieht man gut an den Modellen, die die ein­zelnen Staaten zum Schutz vor Covid-19 gewählt haben. So wurde in Ser­bien ein repres­sives Modell akti­viert, mit der Ver­hän­gung eines Aus­nah­me­zu­stands anstelle von Aus­nah­me­maß­nahmen, durch die Ein­füh­rung einer Poli­zei­stunde, die aller Wahr­schein­lich­keit nach bald zu einer totalen Aus­gangs­sperre über 24 Stunden aus­ge­weitet wird [Stand April 2020, Anm. d. Red.]. Somit ist der Umgang mit der Krise wie ein Lack­mus­test, der uns deut­lich zeigen kann, wie dieser Staat auch unter „Friedens“-Bedingungen funktioniert.

 

n.: Zu Ser­bien kommen wir zurück. Lass uns kurz in Wien bleiben. Der Groß­teil des Romans „Pas i kon­trabas“ (dt. Der Hund und der Kon­tra­bass) ist im Muse­ums­Quar­tier hier in der Stadt ent­standen. Hatte der Auf­ent­halt in Öster­reich auf irgend­eine Weise Ein­fluss auf den Roman?

 

S. I.: In Wien habe ich mich zwei Monate lang auf­ge­halten, die durch täg­liche Schreib­ar­beit aus­ge­füllt waren. Die Recher­chen zum Roman begannen schon zwei­ein­halb Jahre vorher. Ich habe in Biblio­theken und Archiven in meh­reren Städten gesucht, überall dort, wo Doku­mente über die psych­ia­tri­sche Klinik in Kovin archi­viert sind. Bei der Recherche habe ich ver­standen, dass Kovin in seiner frühen Phase eine geo­gra­fi­sche Grenze (zwi­schen Öster­reich-Ungarn und Ser­bien) und nach dem Ersten Welt­krieg einen Trans­for­ma­ti­ons­raum der euro­päi­schen Insti­tu­tionen (Militär und Psych­ia­trie) dar­stellte, um in der Folge eine Zone euro­päi­scher Inte­gra­tion (Psych­ia­trie, Militär, Trauma, West­balkan, EU) zu werden. Der Auf­ent­halt in Wien hat es mir ermög­licht, mich in Texte über die Früh­phase der euro­päi­schen „Asyle für Geis­tes­kranke“ zu ver­tiefen, den Nar­ren­turm [his­to­ri­sche Psych­ia­tri­sche Klinik in Turm­form, Anm. d. Red.] zu besu­chen, und auch Über­set­zungen einiger wich­tiger anti­psych­ia­tri­scher Texte zu finden, beson­ders sol­cher, die sich mit der Ideo­logie totaler sozialer Kon­trolle und der Ableh­nung von Insti­tu­tionen aus­ein­an­der­setzen. Außerdem hat Wien dem Roman eine spe­zi­elle Dimen­sion ver­liehen, beson­ders hin­sicht­lich der Dar­stel­lung der Bezie­hung meines Helden Dr. Julius zur auto­ri­tären Macht Slo­bodan Miloše­vićs, für die ich die Wiener Debatte zwi­schen den Psych­ia­tern Sig­mund Freud und Ludwig Jekels ver­wendet habe, die ihren Weg bis in meinen Erzähl­text gefunden hat. Zu guter Letzt war Jekels’ Kon­zept des Wen­de­punkts wichtig für die Sujet-Ent­wick­lung in Pas i kon­trabas.

 

n.: Du weißt schon, dass wir von der Wiener Sla­wistik direkt auf den Nar­ren­turm bli­cken? Es wäre wirk­lich schön, wenn du vor dieser Kulisse aus dem Roman lesen könn­test. Kommen wir aber, wie ver­spro­chen, zu Ser­bien: Der Prot­ago­nist des Romans, Filip Isa­ković, trifft auf Pro­bleme, die in der Gesell­schaft ver­schwiegen werden. Unter anderem setzt er sich mit dem Trauma des Ein­zelnen nach den Kriegen auf dem Gebiet des ehe­ma­ligen Jugo­sla­wiens aus­ein­ander, aber auch mit der aktu­ellen Migra­ti­ons­krise. Warum wirst du im Roman so explizit poli­tisch und aktuell?

 

S.I.: In einer Gesell­schaft, in der ‚uner­wünschte‘  Themen ver­schwiegen werden, hat die Kunst das Pri­vileg und die Pflicht, diese anzu­spre­chen. Das ist nicht ein­fach und in der Kunst­szene oft nicht akzep­tiert. Die Ent­schei­dung, den­noch davon zu spre­chen, bringt das ernst­hafte Risiko mit sich, dass man mar­ginal bleibt. Ich habe mich mit dieser Rand­stel­lung abge­funden und daher beschäf­tige ich mich in meinen Büchern auch mit aktu­ellen Fragen. Einer­seits waren das Themen wie das Erin­nern und das Ver­gessen, ande­rer­seits die Kon­struk­tion medialer Dis­kurse in den 1990er Jahren, bis hin zum Pro­blem der latenten Wunde des Traumas. Für die lite­ra­ri­sche Behand­lung dieser Themen habe ich kon­krete Figuren und Ereig­nisse geschaffen. Und so habe ich mich in meinen Romanen mit der Ent­füh­rung in Štrpci befasst (Ber­linsko okno), mit dem Attentat auf Pre­mier­mi­nister Đinđić (Pad Kolum­bije), mit dem Fort­be­stehen von Gefan­ge­nen­la­gern der frühen 1990er in Ser­bien (Lov na ježeve) sowie mit dem Mas­saker an den Korićani-Klippen und der Schlacht von Košare (Pas i kon­trabas). Den gemein­samen Nenner dieser schlimmen Ereig­nisse, die als met­ony­mi­sche Spur einer Ära zu ver­stehen sind, bilden im Grunde Slo­bodan Milošević und Mir­jana Mar­ković, jenes Ehe­paar, wel­ches das poli­ti­sche und mili­tä­ri­sche System der Föde­ra­tiven Volks­re­pu­blik Jugo­sla­wien lenkte und dessen Ein­fluss durch ihre Partei und engen Mit­ar­beiter bis heute prä­sent geblieben ist. Ich habe mich ent­schieden über sie zu schreiben, obwohl mir bewusst war, dass ich gegen­wärtig damit nicht auf beson­ders viel Ver­ständnis stoßen werde. Die Kriegs­epi­soden des Romans sowie die Szene in der geheimen Resi­denz des Ehe­paars wurden für die kul­tu­relle Elite zum größten Pro­blem an diesem Text. Einmal traf ich eine Leserin, die mir sagte: „Ihr Roman ist wun­derbar, aber die Politik darin stört mich sehr.“ Ich fragte sie: „Welche Politik meinen Sie denn kon­kret?“, in diesem Roman gibt es näm­lich wirk­lich in allen Nar­ra­tiven ernst­hafte poli­ti­sche Aspekte. Doch sie lächelte säu­er­lich und ant­wor­tete: „Na, die über Sloba und Mira.“ Im Grunde hat diese Leserin etwas ange­spro­chen, das schon lange über­wunden sein sollte, aber nicht ist. Offen­sicht­lich lebt es in den Men­schen weiter wie eine tiefe innere Unruhe, die uns Ticks beschert, deren wir uns nicht bewusst sind und über die wir nicht spre­chen wollen.

 

n.: Man kann also sagen, dass sich dein Roman dem Ver­gessen entgegenstellt?

 

S.I.: Das Aus­lö­schen von Erin­ne­rung ist im Roman Pas i kon­trabas tat­säch­lich eine zen­trale Meta­pher. Ich bin auf sie gekommen, als ich die poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Pro­zesse in meinem Umfeld wäh­rend der letzten zehn Jahre ana­ly­sierte. Dabei fiel mir eine kata­stro­phale Inver­sion im Ver­gan­gen­heits­ver­ständnis auf. Wäh­rend der letzten zehn Jahre haben sich näm­lich poli­ti­sche und kul­tu­relle Eliten sehr darum bemüht zu zeigen, dass der Wider­stand gegen Milošević der Grund für die lang­jäh­rige öko­no­mi­sche und all­ge­meine Misere war. Pre­mier­mi­nister Đinđić wurde durch einen Mord­an­schlag abge­setzt, jetzt wird ihm in Bel­grad ein Denkmal errichtet. Die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Ver­gessen ist die wich­tigste Auf­gabe, die durch Wirt­schafts­re­formen und die euro­päi­sche Inte­gra­tion zusätz­lich unter­stützt wird. Daher habe ich als Figuren des Romans solche Indi­vi­duen gewählt, die so stark von ihrer Ver­gan­gen­heit geprägt sind, dass sie, selbst unter Ein­wir­kung starker und gefähr­li­cher Seda­tiva, nicht ver­gessen können. Es geht natür­lich um Kriegs­ve­te­ranen, von denen jeder irgendwie seine eigene Geschichte hat, doch diese Geschichten errei­chen die Öffent­lich­keit nicht, das haben sie nie, außer in Ein­zel­fällen, wenn solche Leute, als Folge ihrer gesell­schaft­li­chen Iso­la­tion, Mas­sen­morde begingen. Solche Ereig­nisse beun­ru­higen die zustän­digen Stellen nicht, denn die Gesell­schaft glaubt, dass sie einen euro­päi­schen Traum lebt, wäh­rend es sich in Wahr­heit um eine alb­traum­hafte Wirk­lich­keit han­delt, die von den ver­klei­deten Anfüh­rern der 1990er Jahre gestaltet wird. Die EU hilft ihnen dabei und es ent­steht der Ein­druck einer Bühne, auf der eine schöne Thea­ter­vor­stel­lung gespielt wird, die für gewöhn­lich mit einer Kata­strophe endet. Eine der wich­tigsten Moti­va­tionen meines Romans ist die Suche nach einem Ausweg aus diesem Zustand.

 

n.: Es ist also Auf­gabe der Lite­ratur eine Art Kor­rektur des tech­ni­zis­ti­schen Erin­ne­rungs­ver­ständ­nisses anzu­bieten, das im Roman vorgestellt wird. Wir meinen jene Stelle im Roman, als die Pati­enten ver­su­chen, ihre Trau­mata zu ver­gessen, obwohl sich ihr Gedächtnis und ihr phy­sio­lo­gi­scher Zustand dadurch ver­schlech­tern. Daraus wird ein mons­tröses Archiv erstellt, eine Ord­nung der Wahr­heit. Auf welche Arten kann deiner Mei­nung nach die Lite­ratur ihr eigenes Gegen­ar­chiv vorlegen?

 

S.I.: Die Lite­ratur war schon immer ein Gegen­ar­chiv der Kultur- und Poli­tik­ge­schichte, als Samm­lung uni­ver­saler Notizen über sehr kon­krete, sym­bo­lisch ver­mit­telte Dinge. Natür­lich wurden davon vor allem jene hoch­ge­spült, die sich zu Nar­ra­tiven ver­fes­tigt haben, die in der Geschichte der Zivi­li­sa­tion wert­voll geworden sind. Nehmen wir nur den Anteil, den die grie­chi­sche Tra­gödie am Ent­wick­lungs­pro­zess des euro­päi­schen Rechts­sys­tems hatte, die Rolle der Ilias in der Ent­wick­lung der Epi­de­mio­logie und die Bedeu­tung von Qua­ran­täne unter Kriegs­be­din­gungen, die Bedeu­tung der Gött­li­chen Komödie für die Ent­wick­lung demo­kra­ti­scher, linker und kri­ti­scher Gedanken inner­halb der Kirche, die im Ver­lauf der Jahr­hun­derte zu einem groß­ar­tigen Men­schen geführt haben, zu unserem Zeit­ge­nossen Don Andrea Gallo, der die Kir­chen­ge­meinde des Hei­ligen Bene­dikt von Genua lei­tete. Er vollzog eine per­sön­liche Revo­lu­tion inner­halb der katho­li­schen Kirche, womit er gezeigt hat, dass dies auch in so rigiden Sys­temen wie der Kirche mög­lich ist. Bei sol­chen Ein­zel­per­sonen nimmt vieles seinen Anfang, und so gibt es auch in meinem Roman Figuren, die eine alter­na­tive Wis­sens­ord­nung reprä­sen­tieren, ein anderes Epistem, das sich durch den Ein­fluss der Umge­bung in unsere Epoche ver­irrt hat, wie im Falle des alten Dr. Julius aus Kovin. Sein Erscheinen im Koviner Kreis erin­nert an ein Raum­schiff, das in unserer ver­armten Welt gelandet ist, in der die Dehu­ma­ni­sie­rung vor­an­ge­trieben wird. Doch ich würde daran erin­nern, dass sich der Habitus von Dr. Julius an der Schwelle des Revo­lu­ti­ons­jahres 1968 geformt hat, aus dem auch Franco Basa­glia und viele wei­tere bedeu­tende Men­schen jenes Jahr­hun­derts her­vor­ge­gangen sind. Der Kon­flikt dieser beiden Epis­teme, d.h. der Jahre 1968 und 2016 (in dem der Groß­teil der Arbeit am Roman statt­fand), stellt den zen­tralen revo­lu­tio­nären Clash dar, der zur Nega­tion dieser psych­ia­tri­schen Insti­tu­tion führt. Ich glaube, dass die Lite­ratur uns dar­über heute beson­ders viel sagen kann.

 

n.: Du hast die Namen deiner Figuren im Roman nicht tran­skri­biert und auch ein­ge­fügte Pas­sagen in anderen Spra­chen nicht über­setzt. Warum hast du diese Ent­schei­dung getroffen?

 

S.I.: Ich habe mich an einem Punkt ent­schlossen, mit Sprache in meinem Roman so umzu­gehen, wie der Jazz es mit Phra­sie­rung, Varia­tion, inter­tex­tu­eller Refe­renz oder mit Impro­vi­sa­tion tut. Folg­lich sollte er nicht nur gelesen, son­dern auch gehört werden. Ich habe ver­sucht, meinen Leser_innen zu ermög­li­chen, die Ori­gi­nal­spra­chen zu hören, mit wel­chen der Jazz im Roman ope­riert. Ich wollte, dass man die ety­mo­lo­gi­sche Schrei­bung der Namen liest und die Poly­phonie jener Welt fühlt, in der sich die Figuren befinden. So ist es mög­lich, mit der unga­ri­schen, fran­zö­si­schen, eng­li­schen, ita­lie­ni­schen, deut­schen, spa­ni­schen Sprache und Romani jeweils direkt in Kon­takt zu treten; sehr häufig ver­schwimmen die Grenzen zwi­schen den neu­be­grün­deten post­ju­go­sla­wi­schen Natio­nal­spra­chen, was gegen Ende des Romans durch den Ent­wurf einer jugo­sla­wi­schen Sprache des Jazz aus­ge­drückt wird. Das ist, so würde ich sagen, meine per­sön­liche Ant­wort auf die aktu­elle eth­no­zen­tri­sche Sprach­po­litik auf dem Gebiet des ehe­ma­ligen Jugo­sla­wiens. Ich muss sagen, dass die Kritik, die ich nach Erhalt des NIN-Preises bekam, teil­weise gerade auf meine Gering­schät­zung des soge­nannten natio­nalen Sprach­stan­dards abzielte. Die Ersten glaubten darin meine man­gelnde Bil­dung zu erkennen, die Zweiten bezeich­neten mich als neu­rei­chen Empor­kömm­ling, die Dritten spra­chen von jugo­sla­wis­ti­schem Kitsch, wäh­rend die Vierten meinen Ver­such, die Syntax des Jazz in unsere Lite­ratur zu über­tragen, scharf atta­ckierten. Natür­lich gab es auch solche, die meinten, dass ich mich ange­sichts meiner Her­kunft nur mit Schwei­ne­reien beschäf­tigen könne, jedoch nie­mals mit Themen, die das breite Kul­turareal des Bal­kans, Europas und des Mit­tel­meer­raumes betreffen.

 

n.: Was du über Jazz, Schwei­ne­reien und den Roman sagst ist inter­es­sant. Kannst du uns mehr zur Rolle von Musik und Klang im Roman sagen?

 

S.I.: Die eupho­ni­sche Kom­po­si­tion des Romans ist sehr wichtig, beson­ders weil uns diese ganze Welt indi­rekt von einem Jazz-Musiker erzählt wird, dessen Wahr­neh­mungen folg­lich in erster Linie auditiv sind. Als er sich an eine Lie­bes­be­zie­hung erin­nert, sagt er, dass er sie mit den Fin­gern auf dem Knie spielen könnte. Als er sich an die erste Begeg­nung erin­nert, beginnt diese Szene mit den Klängen in einem Bel­grader Klub. Als er in Kovin auf­wacht, nimmt er als Erstes eine Geige wahr, dazu Echos, nächt­liche Geräu­sche durch die Wände, Was­ser­plät­schern, das Scharren und Zit­tern von Lebe­wesen. Genauso beginnt das Kapitel „Libertad“ mit einer Jazz-Varia­tion auf die Geräu­sche der Stadt Genua, wäh­rend der Prot­ago­nist langsam darin auf­wacht. Er asso­zi­iert dies mit bestimmten Jazz-Varia­tionen, mit dem Getrampel der Ele­fanten auf dem Bild eines sene­ga­le­si­schen Künst­lers, wie auch mit dem zukünf­tigen Kon­tra­bass-Spiel. Klang ist für ihn alles, die Unru­he­skala des Romans ist in erster Linie klang­lich, zusätz­lich ist sie visuell sowie gust­a­to­risch, aber auch Düfte haben ihren eigenen Wir­kungs­be­reich im Text. Die Musik moti­viert dar­über hinaus bestimmte Hand­lungen und begleitet den Prot­ago­nisten bis zum Ende. In ihr löst sich die wich­tigste Aporie des Lebens auf, was am Ende des Romans in der Bar Felice geschieht.

 

n.: Du hast die Kritik etwas spe­zi­fi­ziert, die du für „Pas i kon­trabas“ und den NIN-Preis 2019 erfahren hast. Bedeutet dir dieser Preis etwas? Und was hälst du vom Boy­kott des NIN-Preises durch einige Schrift­steller und Kri­tiker? Diese beziehen sich ja gar nicht wirk­lich auf deinen Roman, son­dern stören sich eher an den poli­ti­schen Ansichten Teofil Pančićs…

 

S.I.: Ich beschäf­tige mich schon lange mit der Kul­tur­po­litik in Ser­bien und diese Frage müsste wirk­lich sehr aus­schwei­fend beant­wortet werden, denn sie berührt auch Themen wie die Nega­tion der Kriegs­ver­gan­gen­heit, den offi­zi­ellen Lite­ra­tur­kanon und die Bezie­hung zwi­schen Main­stream und Sub­kultur. Man könnte sagen, dieser Preis hat in mir die Hoff­nung geweckt, dass eine ver­schlos­sene und fest ein­ge­fah­rene Struktur auf­ge­bro­chen und revo­lu­tio­niert werden kann.
Was den Boy­kott anbe­langt, würde mich inter­es­sieren, warum diese Kri­tiker die Ansichten Teofil Pančićs früher nicht störten, als über seine Bücher sehr lobend und affir­mativ geschrieben wurde. Ich würde sagen, dass es hier um etwas anderes geht, näm­lich um die Bewah­rung eines Tabus, das hier mit dem NIN-Preis seit langem ver­tei­digt wird. Wer sich das genauer ansieht, kann sich selbst davon überzeugen.

 

n.: Ver­standen! Einer der Anführer des Pro­tests gegen den dies­jäh­rigen NIN-Preis ist der Verlag Laguna, dessen Autoren nicht in die nähere Aus­wahl kamen. Wie kom­men­tierst du die Ver­lags­branche inner­halb Serbiens?

 

S.I.: Ich habe euch schon gesagt, worin ich die wahre Moti­va­tion hinter dem Boy­kott sehe. Es geht um die Wah­rung der natio­nalen Dimen­sionen dieses Preises mit allen damit ver­bun­denen Tabus. Ich wun­dere mich kei­nes­wegs über die Tat­sache, dass jugo­sla­wi­sche Themen, wie auch die Prä­senz eines Autors auf der Short­list, der außer­halb der Region lebt, eine Hys­terie bei den Boy­kot­tie­renden aus­ge­löst hat. Zugleich führte die dies­jäh­rige Ver­lei­hung des NIN-Preises an einen kleinen Verlag zur Beschä­di­gung eines Mono­pols, das in Ser­bien der größte Verlag Laguna innehat. Der Verlag beglei­tete diesen Boy­kott kon­se­quent, indem er mein Buch sowie noch ein wei­teres aus der­selben Reihe aus den Aus­lagen seiner Buch­hand­lungen nahm und den Leser_innen den Gewinner des NIN-Preises aus dem Vor­jahr anbot, wel­cher tat­säch­lich ein Autor aus ihrem Ver­lags­haus ist. Das erklärt am besten die Lage der kleinen Ver­lags­häuser in der hie­sigen Szene sowie deren Mög­lich­keiten, tat­säch­lich etwas zu erreichen.

 

n.: Das klingt nicht gut! Und wie ist die Situa­tion der Medien?

 

S.I.: Die Lage der Medien in Ser­bien ist ein großes und sehr ernst­zu­neh­mendes Thema, über das man tage­lang spre­chen könnte. Doch ich würde jetzt nur mal sagen, dass ein Groß­teil der Medien unter der Kon­trolle des Regimes steht und die Reich­weite der wenigen unab­hän­gigen Medien erschre­ckend gering ist. Unter den Bedin­gungen des Aus­nah­me­zu­stands, in dem wir uns aktuell befinden, haben wir sogar die Ver­haf­tung von Jour­na­listen mit­er­lebt, welche über die Wahr­heit der Lage in man­chen medi­zi­ni­schen Ein­rich­tungen in der Zeit der Pan­demie berichten. Für kurze Zeit wurde auch ein Infor­ma­ti­ons­ge­setz ein­ge­führt, das auch wäh­rend der Bom­bar­die­rung 1999 in Kraft war, als der aktu­elle Prä­si­dent noch Infor­ma­ti­ons­mi­nister war. Wir haben inso­fern ein ernst­zu­neh­mendes Pro­blem, als die Funk­ti­ons­weise unserer Medien durch den Aus­nah­me­zu­stand als Nor­ma­lität legi­ti­miert wird. Darauf haben einige Vertreter_innen der EU reagiert, ohne jedoch tat­säch­lich Ein­fluss auf die mediale Wirk­lich­keit Ser­biens zu nehmen.

 

n.: Zum Ende unseres Gesprächs wüssten wir natür­lich gerne: Woran arbei­test du momentan?

 

S.I.: Der­zeit bin ich für 28 Tage in Selbst­iso­la­tion, da ich unmit­telbar vor der Ver­kün­dung des Aus­nah­me­zu­stands am 15. März anläss­lich der Bewer­bung meines Buches durch die gesamte Region gereist bin. Nun bin ich hier, in meinen eigenen vier Wänden, lese einige tolle Schrift­steller wie [Roberto] Bolaño und ab und zu nehme ich an Video­kon­fe­renzen teil. Ich halte Kon­takt mit meinen Freunden, um den Anschein eines nor­malen Lebens zu wahren, und ich ver­folge, was um mich herum geschieht, unmit­telbar in meinem Haus wie auch auf der poli­ti­schen Bühne. Für Peščanik führe ich das „Tage­buch der Aus­nah­me­si­tua­tion“, das ist auch das Ein­zige, woran ich in den letzten Wochen geschrieben habe.

 

novinki: Wir hoffen natür­lich, es bleibt nicht dabei. Vielen Dank, Saša, für das Gespräch!

 

Das Inter­view führten Miranda Jakiša, Uroš Rist­anovic und Milica Santa.

(über­setzt von Inge Jandl, Senad Halil­bašić, Uroš Rist­anović und Katha­rina Tyran)

 

Von Saša Ilić sind bisher fol­gende Romane und Erzähl­bände erschienen:

Pre­do­sećanje grad­janskog rata (2000)
Ber­linsko okno (2005; dt: Das Ber­liner Fenster 2019)
Pad Kolum­bije (2011)
Lov na ježeve (2014)
Dušanovac.Pošta (2015)
Pas i kon­trabas (2019)

 

Wei­ter­füh­rende Links:

Ein Blick durchs Ber­liner Fenster von Tat­jana Petzer auf novinki.

Lesungs­reihe: Die Unzu­frie­denen – Lite­ratur des Pro­tests aus Süd­ost­eu­ropa auf novinki.