Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Jacek Dehnel sehnt sich nach dem Kaiserpanorama

Was haben ein Lili­pu­taner, eine halb­nackte Salome mit abge­schnit­tenem Kopf auf einem sil­bernen Tablett, ein Geige spie­lender Soldat und sechs trans­sil­va­ni­sche Frauen in schwarzen Hüten gemeinsam? Sie alle – und nicht nur sie! – sind Figuren aus Jacek Deh­nels Foto­plas­tikon. Aber keine Sorge: Es han­delt sich hier kei­nes­wegs um eine Kurio­si­tä­ten­samm­lung, auch wenn sich das Buch nicht ein­deutig einer lite­ra­ri­schen Gat­tung zuordnen lässt. Auf den ersten Blick könnte man meinen, man hätte es mit einem Foto­band zu tun, jedoch bemerkt ein auf­merk­sames Auge, dass die Kom­men­tare zu den Bil­dern etwas mehr als nur Erläu­te­rungen sind, und umge­kehrt, jene Bilder mehr sind, als nur Illus­tra­tionen zum Text. In Jacek Deh­nels Buch stehen beide Medien – Wort und Bild – gleich­be­rech­tigt neben­ein­ander und bilden ein untrenn­bares Ganzes.

 

Dehnel_Foto_Reymont-plDer bereits mit meh­reren Preisen aus­ge­zeich­nete Dichter, Pro­sa­iker und Über­setzer wurde 1980 in Gdańsk geboren. Obwohl er also ein soge­nannter junger Autor ist, sind seine Bücher in einem klas­si­schen, gera­dezu – dem durch die Straßen War­schaus mit Zylinder schlen­dernden Schrift­steller wäre dieses Wort sicher­lich nicht unan­ge­nehm – alt­mo­di­schen Stil gehalten.Auch bei den Themen seiner Bücher ist die Vor­liebe für die Ver­gan­gen­heit spürbar: Der Roman Lala (2006) gründet auf den von der Groß­mutter erzählten Fami­li­en­ge­schichten; die Balzac nach­emp­fun­denen Balza­kiana (2008) gedenken gewis­ser­maßen des klas­si­schen Romans aus dem neun­zehnten Jahr­hun­dert. Die für Dehnel cha­rak­te­ris­ti­sche Nost­algie kommt auch in Foto­plas­tikon zum Aus­druck – allein durch die Ent­schei­dung, sich mit solch einem ver­al­teten Medium wie dem Kai­ser­pan­orama zu beschäf­tigen. Nost­al­gisch ist Dehnel auch bei der Aus­wahl der Fotos in seinem Buch: Das jüngste stammt aus den sieb­ziger Jahren des vorigen Jahr­hun­derts, die meisten aus der Zeit vor dem Ersten Welt­krieg. Sie sind schwarz-weiß bezie­hungs­weise sepia, was zusätz­lich den Ein­druck der Sehn­sucht nach dem Ver­gan­genen ver­stärkt. Nun gut, aber worum geht es eigent­lich…? Dehnel gestal­tete sein Buch nach dem Vor­bild eines Kai­ser­pan­oramas, einem Medium, dessen Glanz­zeit auf das Ende des 19. Jahr­hun­derts fiel. „Foto­plas­tikon“ ist die pol­ni­sche Bezeich­nung für jenen Vor­gänger des Kinos, in dem ste­reo­sko­pi­sche Bil­der­se­rien gezeigt wurden. In War­schau besteht heute noch die Mög­lich­keit, sich in einem restau­rierten Foto­plas­tikon davon zu über­zeugen, worin der Zauber sol­cher Orte bestand. In der Zeit, als man sie noch nicht – so Dehnel – „minia­tu­ri­sierte, in Hun­derten, Tau­senden Mil­lionen Exem­plaren pro­du­zierte, spott­billig ver­kaufte“, wurden in Kai­ser­pan­oramen Foto­gra­fien prä­sen­tiert, die als Ensemble über ein Ereignis infor­mierten oder eine Geschichte erzählten. Und eben solch eine Struktur über­nimmt Dehnel in seinem Buch: Auf den linken Seiten befinden sich die Bilder, auf den rechten die Geschichten. Doch han­delt es sich hierbei nicht bloß um eine Samm­lung zufäl­liger Fotos, die mit frei­zü­gigen Betrach­tungen ver­sehen sind: Es ist näm­lich ein in jeder Hin­sicht durch­dachtes Buch. Seine feine Kom­po­si­tion kommt auf meh­reren Ebenen zum Ausdruck.

 

Zunächst ist es die Aus­wahl und Zusam­men­stel­lung der Bilder: In Paaren, nach „links“ und „rechts“ geordnet, als ob sie zur Anschauung per Ste­reo­skop bestimmt wären. Mit­hilfe dieses Geräts, wie Dehnel im Vor­wort bemerkt, gewinnt man die Illu­sion der Drei­di­men­sio­na­lität. Die dop­pelten Bilder stellen, so lässt der Autor durch­bli­cken, im Grunde das­selbe Objekt dar, nur aus unter­schied­li­chen Per­spek­tiven. Auf diese Art und Weise setzt Dehnel zuweilen scheinbar sehr fern lie­gende Bilder zusammen (wie zum Bei­spiel ein ein­stür­zendes Gebäude mit dem drei­fa­chen Por­trät einer kranken Frau), deren gemein­samer Nenner im Text  offen­bart wird. Und plötz­lich scheint ihr Zusam­men­hang voll­kommen offen­sicht­lich zu sein. Auch die Bild-Text-Bezie­hung kann hier als ein Effekt der Ste­reo­skopie inter­pre­tiert werden, denn wie sich bei dieser Technik zwei aus unter­schied­li­chen Stand­punkten auf­ge­nom­mene Foto­gra­fien gegen­seitig ergänzen, so ver­voll­stän­digen sich hier Text und Bild.

 

In den Texten lässt sich eben­falls eine kom­po­si­to­ri­sche Sorg­falt erkennen. Es sind Anek­doten, Erin­ne­rungen, kleine Fik­tionen, die aus einem Detail des Bildes ent­wi­ckelt und wei­ter­ge­sponnen werden. Es sind keine klas­si­schen Foto­grafie-Inter­pre­ta­tionen, son­dern viel­mehr Varia­tionen zu dem, was Roland Bar­thes punctum nennt. Dehnel nimmt als Aus­gangs­punkt etwas auf, das die Auf­merk­sam­keit auf sich zieht, Unruhe weckt und im Gedächtnis bleibt, um von diesen Rissen in den Bil­dern unter die schwarz-weiße Glätte ein­zu­dringen. Den­noch bleibt seine Distanz erhalten: „Ihre Bluse ist hell und dunkel gestreift; ich kann es erst jetzt sehen, von ganz nah, wenn ich mit der Nasen­spitze bei­nahe die kühle Ober­fläche des Bildes berühre; man kann an sie, an die Ant­wort nicht näher kommen.“

 

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Foto­plas­tikon ähnelt einem Poe­sieband: Es ist eine Samm­lung von kon­den­sierten Kurz­formen, die man ein­zeln und in belie­biger Rei­hen­folge lesen, zu ihnen wie­der­kehren, und über sie nach­sinnen kann. Die Texte sind kurze Essays: knapp, bündig und geist­reich, mit prä­zisen For­mu­lie­rungen, tref­fenden Beob­ach­tungen und uner­war­teten Pointen. Auf der kit­schigen Post­karte, die zwei Ver­liebte in einer Gondel über die Weichsel schip­pernd zeigt, befindet sich am oberen Rand ein brauner Fleck: „An der Inten­sität dieser Spur (eines Reiß­na­gels) erkennt man den Zeit­ab­schnitt, in dem diese Geste – die Berüh­rung der Köpfe, die Umar­mung – Bedeu­tung hatte. Rost­roter Kreis, roman­ti­scher als diese ganze Sze­nerie: Die Brücke mit den Laternen und die Wellen der Weichsel, die das mit für­wahr grau­en­vollen Schnör­keln bemalte Boot für die Ver­liebten treiben.“ Die Texte sind aber nicht nur im hand­werk­li­chen Sinne gut geschrieben – unter der anschei­nenden Leich­tig­keit stellen sie Fragen fun­da­men­taler Art: nach Schön­heit (und, als ihr Negativ, Häss­lich­keit), nach Liebe, Krank­heit, Tod, Gedächtnis und Ver­gäng­lich­keit. Und schließ­lich, gewis­ser­maßen selbst­re­fe­ren­ziell, wird die Pho­to­gra­phie the­ma­ti­siert, wie z. B. in Bel­lisima. Zu dieser Geschichte gibt es ein Bild ohne Bild – also eine Abbil­dung eines leeren Platzes im Foto­album; doch Dehnel kann sogar ein weißes Rechteck als lite­ra­ri­schen Vor­wand nutzen. Es han­delt sich um eine im Internet gefun­dene Foto­grafie: „…aber offen­sicht­lich war nicht nur ich emp­find­lich für dieses Unsäg­liche, das von ihr strahlte. Damals, in den letzten Sekunden der Ver­stei­ge­rung, schienen mir 83 Złoty ein über­trie­bener Preis zu sein; in der Eile ver­liert man manchmal das rechte Maß. Im nächsten Moment wusste ich schon, dass der Preis lächer­lich war, weil jenes ‚Unsäg­liche’ sich ‚Schön­heit’ nennt…“.

 

Dehnel, Jacek: Foto­plas­tikon. Wars­zawa 2009.
Dehnel, Jacek: Lala. Wars­zawa 2006.
Dehnel, Jacek: Lala. Aus dem Pol­ni­schen von Renate Schmid­gall, Berlin 2008.
Dehnel, Jacek: Balza­kiana. Wars­zawa 2008.