Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Banat Gothic. Mrtvo polje und Espi­rando von Srđan Srdić

Kikinda als „kleine Abscheu­lich­keit“ [Kikinda: Klein­stadt in der Voj­vo­dina an der ser­bisch-rumä­ni­schen Grenze und Aus­tra­gungsort des gleich­na­migen Lite­ra­tur­fes­ti­vals; Anmer­kung der Redak­tion], die Erkenntnis, dass „der Tod eine ernst­hafte Insti­tu­tion“ ist und „ver­pflichtet“, Horror- und Road­movie-Ver­satz­stücke, Banat Gothic als Genre, Pop-Expres­sio­nismus und Pop-Sur­rea­lismus, post­mo­derne Absur­dität, die Ästhetik des Häss­li­chen, Gro­teske und poli­ti­scher Anti­kar­neval, Under­ground, Trash Dis­co­gra­phie und Video­gra­phie (Alter­na­tive Rock, Death Metal, Post-Metal; Bad Lieu­tenant, Era­ser­head) und dazu die Schlacht auf dem Amsel­feld… – wem all dies zusam­men­ge­nommen auf den ersten Blick eine irr­wit­zige Kom­bi­na­tion zu sein scheint, werfe einen Blick in den Roman Mrtvo polje und die Erzähl­samm­lung Espi­rando von Srđan Srdić.
Srđan Srdić, 1977 in Kikinda geboren, in der Lite­ra­tur­szene bis dato vor allem als Inten­dant des Lite­ra­tur­fes­ti­vals Kikinda Short und als Autor weniger, dafür preis­ge­krönter Kurz­ge­schichten bekannt, brachte nun inner­halb von zwei Jahren seine ersten Bücher auf den ser­bi­schen Buchmarkt.
Die Hand­lung seines Debut­ro­mans Mrtvo polje (Totes Feld, erschienen bei Stu­bovi kul­ture, Bel­grad 2010) fällt auf einen Augusttag (den Tag des Hei­ligen Ilija) im berüch­tigten Jahr 1993, das zur Chiffre und zum Symbol des (selbst­ver­schul­deten) Fehl­tritts und ver­mut­lich tiefsten Fall der ser­bi­schen Gesell­schaft in der Geschichte wurde. Das Titel-Syn­tagma „Totes Feld“, das einen umgangs­sprach­li­chen Aus­druck für jene Wiesen dar­stellt, auf denen ver­seuchtes Vieh ver­brannt und anschlie­ßend ver­scharrt wird, formt aus der Schlacke der Geschichte retro­spektiv eine schmerz­haft-sug­ges­tive Meta­pher für das, was von der ser­bi­schen Gesell­schaft nach bzw. wegen 1993 noch übrig ist. Mrtvo polje lie­fert eine schwer­mü­tige, düs­tere und auch mah­nende Geschichte, die – in dichtem, poe­ti­schen Stil ver­fasst – von der ‚tra­gi­schen’ und zufäl­ligen Begeg­nung einer Hand­voll Roman­fi­guren bei einem Ver­kehrs­un­fall auf einer Straße in der Voj­vo­dina erzählt. Aus dem Schicksal zweier junger Männer, Paolos und Pablos, die aus Bel­grad vor der Zwangs­mo­bi­li­sie­rung flüchten, und aus dem Schicksal Stelas, die der fami­liären und all­ge­meinen Per­spek­tiv­lo­sig­keit in Kikinda durch den Umzug nach Bel­grad ent­kommen will, model­liert Srdić die sozial und öko­no­misch in sich zusammen gefal­lene ser­bi­sche Gesell­schaft zur Zeit der Kriege in Kroa­tien und Bos­nien. Mit außer­or­dent­li­cher sprach­li­cher Energie und erzäh­le­ri­scher Inno­va­ti­vität zwingt Srđan Srdić den Leser förm­lich direkt ins Zen­trum des „vam­pi­ri­schen“ Natio­na­lismus und der Kriegs­hys­terie eines ver­meint­lich „himm­li­schen Volkes“ [nebeski narod: ein Aus­druck für die Son­der­rolle, die dem ser­bi­schen Volk in den Lie­dern des Kosovo-Mythos zuge­spro­chen wird; Anmer­kung der Redak­tion]. Am Ort des schreck­li­chen Unfalls, an dem auch Kinder auf dem Schul­aus­flug ums Leben kamen, schlägt Zoran Čukić auf, eine ‚tro­cken’ rea­lis­ti­sche Figur (Stich­wort hier: der aus Video­spielen bekannte mili­tä­ri­sche Rea­lismus), die gerade dadurch dämo­ni­sche Züge trägt. Es ist die Rede von einem ehe­ma­ligen JNA-Offi­zier [JNA: Abkür­zung für die Jugo­sla­wi­sche Volks­armee; Anmer­kung der Redak­tion], den der Krieg „unend­lich freut“ und der kurz zuvor erst aus dem Kampf­ge­biet zurück­ge­kehrt ist. Čukićs Por­trait steht genau­ge­nommen für die Kehr­seite und für die Funk­ti­ons­me­cha­nismen des ser­bi­schen (und nicht nur des ser­bi­schen) Natio­na­lismus in den 1990ern.
Srdić hat eine pass­ge­naue, hybride Erzähl­form für diesen Roman über eine Gesell­schaft gefunden, die selbst (bedau­er­li­cher­weise heute noch) auf der Scheide zwi­schen Realem und Fan­tas­ti­schem steht. Sein Erzählen setzt sich aus einer upgrade-Ver­sion der nar­ra­tiven Technik des Bewusst­seins­stroms – ein ganzer Katalog an Stimmen, anderen audi­tiven Reizen und Sin­nes­wahr­neh­mungen dringt im Roman zum (Unter-)Bewusstsein des Prot­ago­nisten vor – und unter­schied­li­chen inter­tex­tu­ellen Ver­weisen zusammen: außer Anspie­lungen und Zitaten sind dies par­odis­ti­sche Ele­mente und sati­ri­sche Dekon­struk­tionen meh­rerer lite­ra­ri­scher und phi­lo­so­phi­scher Dis­kurse, lite­ra­ri­scher Genres und kano­ni­scher Werke der hei­mi­schen und der Welt­li­te­ratur, vor allem aber sind es – Musik und Film. Srdićs Roman ist ein aus­ge­spro­chen inter­me­dialer, syn­kre­tis­ti­scher Text, ein ein­zig­ar­tiges poly­phones Mosaik, das aus einer Viel­zahl an ‚Spra­chen’ und Stilen zusam­men­ge­setzt ist. (Mrtvo polje ist auf seine Weise ein sti­lis­tisch-nar­ra­tives Gegen­stück zu Arse­ni­je­vićs Roman U pot­pal­jublju: beide Bücher sind Janus­ge­sichter, sie ent­spre­chen den zwei Seiten ein und der­selben Medaille).
Sprache und Körper erhalten beide in Mrtvo polje pri­vi­le­gierten Status und werden mit dem (poli­tisch) Bösen und dem Tod in Ver­bin­dung gebracht, deren Aspekte oder genauer gesagt Instru­mente sie dar­stellen. Die Sprache als Pro­du­zent und Dis­tri­butor des Bösen ist die Sprache des natio­na­lis­ti­schen Dis­kurses, den Srdić, allen voran durch seinen Cha­rakter Pablo, meis­ter­haft par­odiert und entlarvt.
Das große Finale und zen­trale Cre­scendo findet sich im Roman im Kapitel Obo­jena ptica (Der ange­malte Vogel), in dem eine gro­tesk und anti-kar­ne­valesk gestal­tete Epi­sode über bru­tale und blu­tige Ereig­nisse in der Dorf­kneipe Koko­tova kafana (die an Miodrag Bula­tović erin­nert) und die poe­ti­sche Dar­stel­lung der Lie­bes­nacht Stelas und Paolos, quasi als Gegen­ge­wicht („sie wuchsen über sich hinaus, auf­ge­blüht, vom Gewicht befreit und kör­perlos“) unmit­telbar neben­ein­ander gestellt werden. Und den­noch wird sich her­aus­stellen, dass Srdićs Roman keinen Trost und keine Aus­flucht­mög­lich­keiten parat hält, jeden­falls nicht für das Ser­bien der 90er Jahre.

So wie Mrtvo polje ein Roman-Poem dar­stellt, so ent­hält die ein Jahr später ver­öf­fent­lichte Erzäh­lung­samm­lung eben Erzähl-Poeme oder, wie der Autor selbst nahe legt, Lieder auf den Tod. Espi­rando (erschienen bei Stu­bovi kul­ture, Bel­grad 2011), ein Begriff aus der Musik, der einen langsam abster­benden und ver­klin­genden Ton bezeichnet, ver­eint neun Erzäh­lungen im gemein­samen Thema des Todes. Im Früh­jahr diesen Jahres erhielt das Buch den Preis der Ser­bi­schen Buch­ge­sell­schaft „Bil­jana Jova­nović“ und in Istrien den Preis „Edo Budiša“. Zwar lässt sich her­vor­heben, dass der Autor the­ma­tisch vom Tod ein­ge­nommen ist, aller­dings muss man im selben Atemzug hin­zu­fügen, dass der Tod bei Srdić in zwei sich wesent­lich unter­schei­denden Aspekten zur Sprache kommt, die dann auch noch in einer Viel­zahl nuan­cierter Erschei­nungs­formen Funken schlagen. In Srdićs Erzäh­lungen ist der Tod ein Signi­fi­kant, der zwi­schen dem gen­re­spe­zi­fisch Kon­ven­tio­nellen auf der einen Seite – Tod im Sinne eines ‚ent­leerten’, ledig­lich deko­ra­tiven und der Stim­mung die­nenden Ele­ments (in Horror, Gothic, Metal Music…) – und auf der anderen Seite dem tat­säch­lich Bezeich­neten – d.h. Tod im bio­lo­gi­schen, auch im phi­lo­so­phi­schen und mit­unter auch meta­phy­si­schen und ethi­schem Sinne – fluktuiert.
Die Helden und Anti­helden aus Srdićs Erzäh­lungen sind ein krebs­kranker Taxi­fahrer, der vor den Augen des Lieb­ha­bers seiner Frau Selbst­mord begeht, ein geal­teter wahn­wit­ziger und ego­ma­ni­scher Lite­ra­tur­pro­fessor aus der Pro­vinz, ein junger Mann, der im Toten­haus Zivil­dienst leistet und sich in eine tod­ge­weihte Kranke ver­liebt, und ein Vater am Rande des Wahn­sinns (oder der Genia­lität?), der einen Mann tötet, weil dieser seine Tochter in eine Dro­gen­clique gebracht hat.
Die Erzäh­lung „Igra na nes­reću“ [schwer über­trag­bares Wort­spiel: „Spiel auf gut Unglück“], in der tra­di­tio­nell-reli­giöse Vor­stel­lungen vom Tod und vom Über­gang „in jene Welt“ ebenso par­odiert werden wie pop-kul­tu­relle, lie­fert durch die Reka­pi­tu­la­tion des Lebens­wegs der Haupt­figur (eines Clowns) eine kom­pri­mierte, fak­tisch-kon­kre­ti­sierte und das His­to­ri­sche wie­der­ge­bende Geschichte der letzten ser­bi­schen zwanzig Jahre. Und doch bleibt die Erzäh­lung dabei im Wesent­li­chen eine uni­ver­sale Alle­gorie voll arche­ty­pi­scher Kon­stel­la­tionen und Ele­mente: Sohn-Mutter, Vater-Sohn und eine mytho­poe­tisch in ursprüng­liche ele­men­tare Kräfte zer­legte Welt.
Srdićs ‚Jenseits’-Phantastik befindet sich, ganz wie die Figur des Zir­kus­clowns, irgendwo auf halben Weg zwi­schen fröh­lich und gespens­tisch. Die Erzäh­lung „Eine Rose für Emi­lija“ stellt das ‚ser­bi­sierte’ (oder genauer: ‚bana­ti­sierte’) par­odis­ti­sche Remake einer der bekann­testen Erzäh­lungen Faul­k­ners dar (daher: Banat-Gothic): Emi­lija Gras ist die Tochter rei­cher, am Ende des Krieges von Par­ti­sanen getö­teter Deut­scher aus Kikinda, die die nach­fol­genden fünfzig Jahre „als Erb­last der Stadt“ zurück­ge­zogen in einer ver­steckten Bude am Stadt­rand lebt.
In der Erzäh­lung „Zozorba“ geht Srdić mit seinem Expe­ri­men­tieren und Auf­heben der Grenzen zwi­schen Dich­tung und Prosa, bzw. zwi­schen Lite­ratur, Musik und Film am wei­testen. Der Autor selbst klas­si­fi­ziert die Erzäh­lung als „Sound­scape Text“, der als „Prosare­ak­tion“ auf die „epi­sche Kom­po­si­tion“ der ame­ri­ka­ni­schen Post-Metal Band Old Man Gloom ent­standen sei.
Die erste und letzte Erzäh­lung der Samm­lung „Mücken“ und „Slow divers“ lassen sich als ver­steckter, kon­trastiv kon­zi­pierter Rahmen der Gesamt­kom­po­si­tion der Erzähl­samm­lung begreifen. Auf der einen Seite finden wir ein tür­ki­sches Mit­tel­klasse-Hotel, erschre­ckend banales Sozial-Kolorit (ein tür­ki­scher Ultra­na­tio­na­list und Ver­ge­wal­tiger trägt ein Ratko Mladić-Shirt mit der Auf­schrift Ser­bian Hero – das Geschenk eines ser­bi­schen ‚Kol­legen’) und eine bizarre tages­po­li­ti­sche Ver­schwö­rung vor, auf der anderen Seite ein Luxus­hotel auf einer grie­chi­schen Insel als Kulisse für eine eksta­ti­sche (les­bi­sche) Lie­bes­ge­schichte, in der sich Traum und Horror, Wirk­lich­keit und ero­ti­sche Phan­tasie nicht aus­ein­ander halten lassen.
Srdićs nar­ra­tive Register rei­chen, wie in Mrtvo polje, von mör­de­ri­scher Satire bis zu eksta­ti­scher Poe­ti­zität, von der Per­si­flage des wis­sen­schaft­li­chen Trak­tats bis zur Technik des Bewusst­seins­stroms und gänz­lich gebro­chener Syntax. Dem Autor von Espi­rando gelingt es, ein Gleich­ge­wicht zwi­schen Kon­kret-His­to­ri­schem (sowie Kon­kret-Geo­gra­phi­schem) und dem All­ge­mein­gül­tigen, poe­tisch Ver­ab­so­lu­tierten her­zu­stellen. Nur in wenigen, extremen Fällen fällt Srdić ein Stück weit in dekla­ma­to­ri­sche Ver­all­ge­mei­ne­rungen und pseu­do­phi­lo­so­phi­sche Pathetik, die sich am ehesten mit den Texten der Metal Musik ver­glei­chen lässt.
Der Autor von Mrtvo polje und Espi­rando ist eine will­kom­mene neue Stimme in der ser­bi­schen Gegen­warts­li­te­ratur und meines Erach­tens der talen­tier­teste Schreiber, der nach der Gene­ra­tion aus der Antho­logie von Saša Ilić „Pseći vek“ (erschienen bei Beo­polis, Bel­grad 2000), d.h. Schrift­stel­lern wie Srđan V. Tešin, Ugl­ješa Šaj­tinac, Nenad Jova­nović, Bori­voje Adašević, Mihajlo Spa­so­jević and Saša Ilić selbst, auf der Bild­fläche erschienen ist.

 

Über­setzt von Miranda Jakiša
Mrtvo polje, Stu­bovi kul­ture, Bel­grad 2010
Espi­rando, Stu­bovi kul­ture, Bel­grad 2011