Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

World War Z auf Polnisch

Aus Kel­lern und Abwas­ser­ka­nälen im War­schauer Stadt­teil Muranów tau­chen Juden als Untote auf. Am Anfang nur einige, dann werden es immer mehr und plötz­lich sind sie überall: auf den Straßen und in den Medien, in öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln und auf Motor­rol­lern, in Ein­kaufs­zen­tren. Junge Leute mit rechten Ansichten kommen aus ganz Polen zusammen und die Geschichte droht sich zu wiederholen…

 

Mit Noc Żywych Żydów (Die Nacht der lebenden Juden) ist Igor Ost­acho­wicz die pol­ni­sche Vari­ante von Zombie-Geschichten wie The Wal­king Dead und World War Z gelungen. Nicht nur der Titel des Buches spielt auf Die Nacht der lebenden Toten an, auch das sozi­al­kri­ti­sche Thema lässt an den Kult­film von 1968 als Inspi­ra­ti­ons­quelle denken. Noc Żywych Żydów ist jedoch mehr schwarze Satire als blanker Horror – reich an lite­ra­ri­schen, poli­ti­schen und his­to­ri­schen Bezügen und nicht ohne eine gewisse Raffinesse.

 

Warum sind die Keller in War­schau voll von wan­delnden Untoten jüdi­scher Her­kunft? Weil sie immer noch ans Leben gebunden sind: Einige von ihnen stehen unter Schock, andere fühlen sich von Gott belei­digt, wieder andere möchten sich nicht an die Ver­gan­gen­heit erin­nern und wollen nicht ver­zeihen. Die junge Rachela zum Bei­spiel hat wäh­rend ihres kurzen Lebens nie gelä­chelt. Doch ohne ein Lächeln kann sie nicht in den Himmel kommen.

 

Diese Idee mag den pol­ni­schen Lesern bekannt vor­kommen. Adam Mickie­wicz greift sie in seinem Drama Dziady (Ahnen­feier) auf, einem kano­ni­schen Werk der pol­ni­schen Natio­nal­ro­mantik, das jeder in Polen in der Schule lesen muss. Im zweiten Teil seines Dramas schil­dert Mickie­wicz eine heid­ni­sche sla­wi­sche Zere­monie, in der die Geister der Ver­stor­benen beschworen werden. So auch die Seelen von zwei kleinen Kin­dern, die nicht ohne Hilfe der Lebenden ins Him­mel­reich gelangen können: „Hört und wollet wohl erwägen dies Gebot von Gottes Hand: Wer nicht Bit­ternis gekannt, hat im Jen­seits keinen Segen.“ Erst als sie je eine „Prise Bit­ter­rinde“ bekommen, können sie die Erde ver­lassen. Auch bei Ost­acho­wicz tun sich die Prot­ago­nisten zusammen, um Rachela zu helfen und sie zum Lächeln zu bringen. Um das zu errei­chen, bringen sie die kleine Untote zum irdi­schen Para­dies aller Teen­ager – ins Ein­kaufs­zen­trum Arkadia, das im War­schauer Stadt­teil Muranów tat­säch­lich existiert.

 

Das ganze Buch hin­durch spielt Ost­acho­wicz mit der Gro­teske: Er ver­ortet ernst­hafte Themen in tri­vialen Situa­tionen, erläu­tert meta­phy­si­sche Kon­zepte mit banalen Aus­füh­rungen und lässt drol­lige Prot­ago­nisten heikle Fragen angehen. Dazu benutzt er umgangs­sprach­liche, manchmal vul­gäre Aus­drücke, um phi­lo­so­phi­sche Über­le­gungen oder his­to­ri­sche Ana­lysen anzu­stellen. Zu seinem Reper­toire gehören auch die Zeit­reise und die Magie, die mit Absicht etwas über­trieben und plump daher­kommen. Plötz­lich finden sich die Bewohner des heu­tigen War­schaus in der Zeit des Zweiten Welt­kriegs wieder, obwohl sie ein­fach nur ihre Haustür öffnen wollten.

 

Die lus­tigen Gags und das Spiel mit den Lite­ra­tur­kon­ven­tionen sind Mittel, die zum einen schlicht der Unter­hal­tung dienen, zum anderen aber bewusst mit unseren Erwar­tungen bre­chen. So werden die Zom­bies nicht als Hor­ror­fi­guren dar­ge­stellt, son­dern als sym­pa­thi­sche Cha­rak­tere. Neben der schon erwähnten Rachela, die sich nach einem kurzen Sty­ling schnell in der heu­tigen Wirk­lich­keit zurecht findet und sich bald mit allen Apple-Pro­dukten bes­tens aus­kennt, lässt der Autor auch ihren Vater aus dem Keller auf­tau­chen. Im Unter­schied zu seiner nun eman­zi­pierten Tochter, bleibt der Haupt­mann des Ghetto-Auf­stands seinen kon­ser­va­tiven Ansichten treu. So ist er der Mei­nung, dass Kaf­fee­trinken nichts für Frauen sei, da es zum inten­siven Denken anrege. Doch der sonst eher wort­karge und reser­vierte Haupt­mann wird auf einmal red­selig und gesellig, wenn er an einem Joint zieht. Auch Szymek und Aaron tau­chen auf. Dem einen fehlt ein Auge, dem anderen die Hälfte seines Gesichts. Die Jungs leben sich eben­falls sehr gut in der Gegen­wart ein und schaffen es sogar, Geld zu ver­dienen: Sie orga­ni­sieren Wett­be­werbe an Super­markt­kassen und nehmen Wett­ge­bote an.

 

Es bedarf schon eines großen lite­ra­ri­schen Geschicks, um die Cha­rak­tere sowohl gro­tesk als auch mensch­lich-authen­tisch zu gestalten. Mit den posi­tiven Figuren gelingt dies Ost­acho­wicz her­vor­ra­gend. Der Haupt­prot­ago­nist des Romans, ein grüb­le­ri­scher Flie­sen­leger mit Uni­ver­si­täts­ab­schluss, der seine Lebens­dok­trin als Nicht-Betei­li­gung defi­niert, und letzt­end­lich doch allen mög­li­chen Toten und Leben­digen hilft, ist als Cha­rakter über­zeu­gend, gerade weil er nicht ein­seitig kon­zi­piert ist. Mit einem feinen Gespür für Nuancen, für die Kom­ple­xität der Beweg­gründe mensch­li­chen Han­delns und die Viel­falt von Men­schen­typen, Gemüter und Eigen­schaften, belebt der Autor eine ganze Reihe unter­schied­lichster Figuren. Es fällt schwer, sie für ihre Schwä­chen zu tadeln, aber umso leichter, sie ein­fach zu mögen.

 

Im Gegen­satz zu den Guten sind die Böse­wichte weniger glaub­würdig: Da gibt es zum Bei­spiel die denk­faulen Neo­nazis, die sich von Ktoś Zły (Jemand Bösem) bereit­willig benutzen lassen. Völlig uner­wartet ver­wan­delt sich dieser in Ktoś Zupełnie Zły (Jemand Voll­kommen Bösen), bekommt Kuh-Hörner, einen Schwanz und Hufe. Seine Meta­mor­phosen sind ver­wir­rend und aus der Geschichte schwer nach­voll­ziehbar. Daher muss Ost­acho­wicz auf umständ­liche Mono­loge zurück­greifen, die dem Leser den Ursprung alles Bösen dar­legen sollen. Die Taten der Bösen sind letzten Endes die Taten des Teufels.

 

Es ist ins­ge­samt den­noch beein­dru­ckend, wie tref­fend der Autor mensch­liche Eigen­schaften und soziale Ver­hal­tens­weisen zu erfassen vermag. Ähn­lich wie in richtig guten Comics gibt Ost­acho­wicz Ereig­nisse in einer schnellen Abfolge wieder, in der sich Super­hel­den­taten und Bemer­kungen à la Beavis und Butt-Head mit Selbst­ironie und Kritik an der Kon­sum­ge­sell­schaft mischen. Dar­über hinaus the­ma­ti­siert der Autor auch das Phä­nomen der Into­le­ranz, das im Roman immer wieder auf­tritt: in den Hand­lungen der Figuren, ihren Emo­tionen und Vorstellungen.

 

Der Roman endet mit dra­ma­ti­schen, gewalt­samen Szenen, die Ost­acho­wicz jedoch kon­se­quent gro­tesk gestaltet. Und viel­leicht ist so ein apo­ka­lyp­ti­sches Finale zwangs­läufig not­wendig, wenn am Anfang die grau­same und noch lange nicht auf­ge­ar­bei­tete Ver­gan­gen­heit plötz­lich aus  Kel­lern und Abwas­ser­ka­nälen ans Licht gekommen ist.

 

Eine gewisse Eigen­ar­tig­keit kann man dem Buch nicht abspre­chen, und nicht weniger merk­würdig ist der Autor selbst. Nein, er ist kein Wun­der­kind der neuen pol­ni­schen Lite­ratur, er ist nicht die Stimme der kla­genden Gene­ra­tion Y, er ist auch kein Jude. Igor Ost­acho­wicz ist Staats­se­kretär in der Kanzlei des Pre­mier­mi­nis­ters Donald Tusk, wo er das Regie­rungs-Infor­ma­ti­ons­zen­trum leitet und für die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­stra­tegie ver­ant­wort­lich ist. Romane schreibt er in seiner Frei­zeit. Sein erstes Buch Potwór i panna (Das Monster und das Fräu­lein) hat er unter einem Pseud­onym ver­öf­fent­licht. Die Iden­tität des Autors dieser Hor­ror­story voller gewagter Erotik und Grau­sam­keit hat einige Spe­ku­la­tionen aus­ge­löst. Dann kam das zweite Buch, Noc Żywych Żydów, diesmal unter seinem eigenen Namen, und… der Skandal blieb aus.

 

Ost­acho­wicz, Igor: Noc Żywych Żydów. Wars­zawa 2012.
Mickie­wicz, Adam: Die Ahnen­feier. Aus dem Pol­ni­schen von Walter Scham­schula. Köln [u.a.] 1991.