Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Das lange und schwie­rige 20. Jahr­hun­dert in zwei sehr unter­schied­li­chen lite­ra­ri­schen Erkundungen

Anna Bole­ckas Uwied­zeni (Die Ver­führten) und Inga Iwa­sióws Bam­bino

Was beide Romane ver­bindet, ist die Geschichte, die Geschichte des 20. Jahr­hun­derts. Bei Bolecka das erste schwie­rige von Faschismus und tota­li­tärem Denken geprägte Drittel zwi­schen Wien, Mün­chen und Danzig, kon­kret zwi­schen 1909–1938, und bei Iwa­siów das län­gere zweite Drittel, gleichsam das unge­wollte pol­ni­sche Erbe dieser zer­stö­re­ri­schen Geschichte, wie es sich in der pol­ni­schen Nach­kriegs­ge­schichte prä­sen­tiert, die von der Autorin aber nur bis 1981 ver­folgt wird. Was die Texte auch ver­bindet, ist das Geschlecht der Autorinnen, die Zuge­hö­rig­keit zur Frau­en­li­te­ratur, genauer zur neuen Frau­en­prosa, die sich nach 1989 ent­schieden in die Mitte der pol­ni­schen Prosa rückte und sich inzwi­schen längst über den schwa­chen gemein­samen Nenner ‚Frau‘ hin­aus­ent­wi­ckelt und aus­dif­fe­ren­ziert hat, so dass man den Begriff Frau­en­li­te­ratur kaum mehr auf­nehmen will. Die Besin­nung auf die Geschichte ist nicht neu in der Frau­en­li­te­ratur. Iza­bella Fili­piak, Olga Tok­ar­czuk und vor allem Anna Bolecka selber hatten bereits früher his­to­ri­sche Erkun­dungen vor­ge­legt. Was neu ist, ist die unbe­ding­tere Kon­fron­ta­tion mit der poli­ti­schen Geschichte.

 

boleckaAnna Bolecka (*1951), lang­jäh­rige Ver­lags­lek­torin bei dem einst gewich­tigen Lite­ra­tur­verlag Czy­telnik, blickt auf eine schon zwan­zig­jäh­rige Schaf­fens­zeit zurück, die ihr im In- und Aus­land Aner­ken­nung brachte. Auf Deutsch sind Der weisse Stein und der Kafka-Roman Lieber Franz erschienen. Mit letz­terem Titel hat Bolecka die deut­sche The­matik in ihrem Schaffen eröffnet, was ihr im deut­schen Sprach­raum nicht nur Lob ein­brachte. Mit dem jüngsten Roman wagt sich die Autorin zwar nicht mehr in ger­ma­nis­tisch ver­mintes, aber dafür umso mehr in poli­tisch ver­mintes Gelände vor: In die Nähe zur Figur Adolf Hit­lers und die Anfänge des deut­schen Faschismus, wo fik­tio­nale Dar­stel­lung und erst recht ein direktes Erzählen, dem sich Bolecka ver­pflichtet, auf jede nur erdenk­lich Probe gestellt wird. Daran kann man eigent­lich nur schei­tern. Mut für schwie­rige Themen hat Bolecka in ihrem ganzen Schaffen bewiesen, jeder Roman eröffnet gleichsam einen voll­kommen neuen Kosmos, auch eine andere Erzähl­form. Anna Bolecka erfindet sich in jedem Buch neu. Vor den 2009 publi­zierten geschichts­be­la­denen Die Ver­führten erschien 2004 das viel leich­tere Zeit­bild des Con­certo d’amore aus einem War­schau, zwar nicht der Post­his­toire, aber immerhin des Post­fe­mi­nismus – viel­leicht ihr bestes Buch.

 

iwasiowPrä­sen­tiert sich Anna Bolecka wie eine ver­sierte und viel erprobte Berufs­li­te­ratin, nimmt sich die jün­gere Inga Iwa­siów (*1963) mit ihrem ersten grossen Roman Bam­bino wie eine ver­spä­tete Debü­tantin aus, die zwar in Prosa und Lyrik schon einige Ver­suche vor­ge­legt hat, die dabei aber immer auch eine schrei­bende Uni­ver­si­täts­pro­fes­sorin für pol­ni­sche moderne Lite­ratur und eine der wich­tigsten Ver­tre­te­rinnen der pol­ni­schen femi­nis­ti­schen Lite­ra­tur­wis­sen­schaft geblieben ist. Mit Bam­bino, 2008 erschienen und für den dies­jäh­rigen Nike­preis vor­ge­schlagen, kata­pul­tiert sich Iwa­siów mit einem Schlag ins Zen­trum der pol­ni­schen zeit­ge­nös­si­schen Lite­ratur, an deren Rand sie bisher stand. Das Stet­tiner Thema, der Stadt­roman, der hier zur Groß­form auf­fährt, hat sich bereits im Debüt von 1998 mit Miasto-ja-miasto [Stadt-Ich-Stadt] vor­be­reitet.
Was die beiden so unter­schied­li­chen Ver­tre­te­rinnen aktu­eller pol­ni­scher Prosa über­ra­schend eint, ist das Dele­gieren der Erzähl­stimme auf die Stimmen der Helden, genauer das Nach­zeichnen authen­ti­scher his­to­ri­scher Dis­kurse, wie sie vor über 40 Jahren die lin­gu­is­ti­sche Prosa in Polen als eine der wich­tigsten alter­na­tiven Erzähl­formen gegen die offi­zi­elle und offi­ziöse Lite­ratur erprobte. Der Umgang mit der refe­rierten leben­digen Rede, seine Funk­tion im Erzählen, ist bei den beiden Autorinnen ver­schieden, er ist auch ver­schieden von seiner pol­ni­schen Urform in den späten 60er Jahren bei Biało­szewski oder den Ver­tre­tern der Nowa Fala.

 

Bolecka orga­ni­siert in Die Ver­führten ihren his­to­ri­schen Abriss in fünf Teilen, fünf Tableaus, wobei das mitt­lere, das pol­ni­sche, zwei­ge­teilt ist und wir sechs Kapitel erhalten. Jedes von ihnen zeichnet ein Tableau eines Ver­führten, hin­ge­rissen von seinen eigenen Idealen, Phan­ta­sien oder Pro­jek­tionen, die sich im post­me­ta­phy­si­schen Jahr­hun­dert ins Abso­lute stei­gern, stei­gern müssen. Von diesen fünf Por­träts von Enthu­si­asten berühren die drei Män­ner­por­träts direkt die Geschichte des deut­schen Faschismus. Die zwei Frau­en­por­träts stellen sich jedoch genau gegen diese Geschichte, und zwar im Por­trät einer deut­schen Stig­ma­ti­sierten auf einem Dorf in Bayern und im zwei­tei­ligen Por­trät einer pol­ni­schen Mor­fi­nistin und exis­ten­tia­lis­ti­schen Dich­terin aus Danzig, die Sta­nisława Przy­by­szewska nach­ge­bildet ist. Bei den drei Män­ner­fi­guren zeichnet das erste Por­trät eine zwar fin­gierte, aber gleich­zeitig stark authen­ti­sche Hit­ler­figur in Wien vor dem Ersten Welt­krieg nach und das dritte den SS-Unter­sturm­führer Erich Vogel, einen Homo­se­xu­ellen und Mythen­for­scher, der einen gefähr­li­chen Weg zwi­schen Kon­for­mismus und pri­vatem Außen zu gehen ver­sucht. Zwi­schen diesen beiden his­to­ri­schen Figuren steht der deutsch­stäm­mige Peter, der aus Polen kommt, der Haupt­prot­ago­nist, der die vier Por­träts oder his­to­ri­schen Erfah­rungs­bilder zusam­men­hält und als Soldat in den Schüt­zen­gräben des Ersten Welt­kriegs an der West­front auch eine eigene Por­trät­skizze erhält.

 

Bolecka wan­delt in ihren Ver­führten Her­mann Brochs Schlaf­wandler von 1930/32ab, das in Polen eine sehr inten­sive Rezep­tion erhalten hat. Die gefei­erte sze­ni­sche Adap­tion durch den Regis­seur Krys­tian Lupa in den 90er Jahren legt davon ein spätes Zeugnis ab. Brochs wich­tiger Bei­trag für das Erzählen der Moderne ent­steht aus der spe­zi­fi­schen Form des intel­lek­tu­ellen Erzäh­lens, aus der Inte­gra­tion des Essays in die Fik­tion. Genau diese meta­fik­tio­nale Außen­po­si­tion, die Milan Kun­dera an Broch so schätzte und die er viel­fach in seiner Erzähl­welt adap­tierte, nimmt Bolecka nicht auf. Bolecka dele­giert die intel­lek­tu­elle Refle­xion zunächst an Peter, eine Figur im Roman, die uns an den ver­schie­denen Por­träts ent­lang führt. Bolecka rekon­stru­iert ihre para­his­to­ri­schen Figuren, ins­be­son­dere das Por­trät des jungen Hit­lers und das Dop­pel­por­trät von Sta­nisława Przy­by­szewska kurz vor ihrem Selbst­mord, aus ver­schie­denen zeit­ge­nös­si­schen Quellen und sie nennt uns ihre Quellen im Anhang selber. Die Nach­zeich­nung ope­riert mit der Mon­tage von authen­ti­schen oder fin­gierten Rede­se­quenzen. Bolecka legt die erzäh­le­ri­sche Rekon­struk­ti­ons­ar­beit aber nicht frei, son­dern täuscht Unmit­tel­bar­keit vor, und das intel­lek­tu­elle Ver­stehen wird letzt­lich auf den Leser ver­schoben, der sich mit keiner der fünf Figuren iden­ti­fi­zieren kann. Bole­ckas Ver­zicht auf ein refle­xives Außen, ein intel­lek­tu­elles oder erzäh­le­ri­sches, schafft vor allem bei den Figuren des Faschismus – zumin­dest für einen deut­schen Leser – eine unge­schützte oder naive Nähe, die schwer erträg­lich ist.

 

Der Roman will aber nicht nur beschreiben, er will das his­to­ri­sche Phä­nomen auch ver­stehen, indem er ver­schie­dene Formen faschis­to­iden Den­kens und Daseins ein­ander gegen­über­stellt und in den fünf Figuren sehr hete­ro­gene Formen radi­kaler, ins Tota­li­täre gestei­gerter Exis­tenz mit­ein­ander kon­fron­tiert, Exis­tenzen, die von ihren Ideen oder Phan­tasmen unkri­tisch erfasst und ergriffen sind. Diese fünf Por­träts prä­sen­tieren sich jedoch zu sin­gulär und jeweils in sich abge­schlossen, so dass Peter, der die vier anderen Zeit­fi­guren in seiner Lebens­ge­schichte und in seinem Ver­stehen ver­binden sollte, darob zur reich­lich stra­pa­zierten künst­li­chen Figur wird. Die fünf indi­vi­du­ellen Zugänge, weil sie einen so großen Zusam­men­hang sug­ge­rieren, müssen sich vor der noch heute erdrü­ckenden his­to­ri­schen Wahr­heit des Faschismus als unge­nü­gend zu erkennen geben. Da hilft auch die deut­liche Beschrän­kung des Erzäh­lens auf die Her­aus­bil­dung des Faschismus, auf das nur faschis­toide Denken und das weit­ge­hende Aus­klam­mern der faschis­ti­schen Tat, nicht wirk­lich. Vor allem weil sie auch nicht kon­se­quent umge­setzt wird, wie das letzte Por­trät zeigt. Dort wird die ganz andere Welt, der totale Terror eines Lager­all­tags, beschrieben, in der das pri­vate Bekenntnis zur Homo­se­xua­lität eines ‚unechten’ SS-Offi­ziers ins Melo­dra­ma­ti­sche und Thea­tra­li­sche aus­wachsen muss. Nur so kann das Inkom­men­surable von Öffent­li­chem und Pri­vatem vor­ge­führt werden. Das alles wäre schließ­lich kein Pro­blem des Romans, wenn dieses Ver­sagen des Erzähl­ver­suchs im Erzählen selber seinen Aus­druck bekäme, d.h. in der Zeich­nung Peters. Peter, der das Böse und das Gute der Zeit in sich ver­einen soll, kann als Führer durch die Por­trät­ga­lerie am Vor­abend des Zweiten Welt­kriegs dieser Ver­ste­hens­ar­beit aber keinen – zumin­dest indi­vi­du­ellen – Grund geben.

 

Das nur addi­tive Außen Peters wird vor allem in diesem letzten, etwas for­cierten, Por­trät eines jungen Homo­se­xu­ellen deut­lich. Erich Vogel sucht, erschreckt von der Repres­sion gegen die Homo­se­xu­ellen, bereits in den späten 30er Jahren eine Stra­tegie von Anpas­sung und indi­vi­du­eller Exkul­pie­rung zu ver­folgen. Er befreit, in einer wenig plau­si­blen Form, Peter aus dem Gefan­ge­nen­lager, und sucht in seiner Beichte vor Peter, für die wir bis in den Süden Frank­reichs reisen müssen, dessen Ver­ständnis für sein von der Zeit ihm auf­ge­zwun­genes absto­ßendes Ver­halten. Bolecka ver­strickt sich hier in die Fänge eines bekannten Prä­textes. Andrzej Kuś­nie­wicz hat in seinem frühen Roman Eroica, geschrie­benin den 60er Jahren, die pol­ni­sche Urfigur dieses etwas deka­denten, eli­tären jungen Deut­schen in den Fuß­stapfen von Stefan George geschaffen. Die Innen­per­spek­tive, im inneren Fieber-Monolog des ver­haf­teten Mit­läu­fers am Ende des Kriegs in Frank­reich umge­setzt, domi­niert den Roman, bricht sich aber in der nur indi­rekt erschlos­senen his­to­ri­schen Außen­per­spek­tive. Dabei wird die Lebens­lüge des Anderen, des Homo­se­xu­ellen, in den Fängen der Geschichte ent­larvt und die deka­dente Ver­brä­mung ent­zau­bert. Die Schwie­rig­keit vom Erzählen des Faschismus – und hier erschwe­rend auch noch aus der Per­spek­tive der von ihm Ver­führten und nicht, wie für die pol­ni­sche Prosa vor­ge­geben und mehr­heit­lich ein­geübt, seiner Opfer – findet sich bei Bolecka nicht. Aller­dings gerät das Por­trät des deut­schen Homo­se­xu­ellen in den 30er Jahren allzu fak­to­gra­phisch, es ist einem gut recher­chierten Hand­buch­ar­tikel nachgebildet.

 

Kuś­nie­wicz, der Schrift­steller aus den ehe­ma­ligen pol­ni­schen Ost­ge­bieten (Kresy) und einst gefei­erter Erzähler der nost­al­gisch ver­zau­berten K. und K.-Kultur Gali­ziens und Ludo­me­riens, war immer Sub­jekt und Erzähler der Geschichte zugleich. Bolecka hat mit Der  weiße Stein dieser primär von Kuś­nie­wicz ver­tre­tenen Tra­di­tion der Kresy-Lite­ratur ihren späten Tribut gezollt, sie ist bereits in diesem frühen Roman Nach­fahrin, so wie sie in den aktu­ellen Ver­führten Nach­ge­bo­rene ist. In ihrem jüngsten Roman erstaunt aber das Ausmaß der his­to­ri­schen Distanz, die sich gerade auch in der direkten Formel des Erzäh­lens anzeigt. Darin geht sie über ihren frühen Kresy-Roman deut­lich hinaus. Anna Bolecka beschö­nigt die Ent­ste­hung des Faschismus nicht, sie beschreibt ihn wie außer­halb des pol­ni­schen Kriegs­traumas, das die Nach­kriegs­ge­nera­tionen noch lange prägen wird und für jemanden mit Jahr­gang 1951 sicher keine fremde Erfah­rung ist. In dieser neuen Hal­tung gegen­über der deut­schen Geschichte, die auch mit eigener Geschichte, das Schicksal von Przy­by­szewska oder das für eine pol­ni­sche Fröm­mig­keit sehr nahe­ste­hende Por­trät einer jungen Stig­ma­ti­kerin vom Land zusam­men­ge­dacht werden kann, sehe ich eine zen­trale Eigenart des Romans, die – bei allen (nicht nur deut­schen) Vor­be­halten ins­be­son­dere gegen die Poetik des Romans – nicht zu unter­schätzen ist.

 

Iwa­siów macht es uns in ihrer Dar­stel­lung von Geschichte leichter. Sie kämpft zuge­ge­be­ner­maßen auch mit weniger ästhe­ti­schen Wider­ständen in ihrer kleinen pol­ni­schen Nach­kriegs­ge­schichte als Bolecka in ihrer großen Geschichte. Sie arbeitet aber auch, wie Bolecka, mit meh­reren par­al­lelen Lebens­läufen. Im Zen­trum stehen drei Frauen, die deutsch­stäm­mige Ula oder Ulrike aus dem Vor­kriegs­stettin und die beiden Über­sied­le­rinnen Marysia aus der Ukraine und Anna aus den Bes­kiden. Hinzu kommt als ein­zige gleich­wertig männ­liche Nach­kriegs­bio­gra­phie die von Janek, der in der Nähe von Posen auf­wächst. Diese vier Schick­sale durch­kreuzen und ergänzen ver­schie­dene wei­tere Figuren, vor allem die beiden Kinder von Anna und Marysia und die Männer bzw. Freunde von Ula und Anna. Alle diese Figuren sind über den Ort Stettin und enger über den Klub bzw. das Restau­rant Bam­bino in Stettin ver­bunden. Die ein­zelnen Per­so­nen­stränge leben nicht gerade von einer akti­ons­rei­chen Lebens­ge­schichte, sie sind relativ ste­reotyp, son­dern von den refe­rierten Reden der Figuren unter­ein­ander oder mit sich selbst. Wir erhalten eine Art ‚kleinen Rea­lismus’, der sich über die Kom­bi­na­tion der Schnitte und die Grup­pie­rung der Moment­auf­nahmen auf der Zeit­achse von fast 40 Jahren Nach­kriegs­ge­schichte auf die große Per­spek­tive hin öffnet. Hier zeigt sich die eigent­liche Hand­schrift des über­ge­ord­neten und auto­nomen Erzäh­lers, der sich von Zeit zu Zeit auch aus der Zeit her­aus­fal­lende all­ge­meine Bilder erlaubt. Das Resultat ist eine rie­sige Foto­ta­pete, ein Erin­ne­rungs­puzzle einer künst­lich gebil­deten Schick­sals­ge­mein­schaft oder modernen Patch­work-Familie, die vom Ort Stettin und von der Pri­vat­heit lebt.

 

Die Nah­auf­nahme öffnet sich über ver­schie­dene rekur­rente Themen oder Motiv­ketten, die die kleine Geschichte in die große tran­szen­diert. Am wich­tigsten sind dabei der weib­liche Exis­tenz­ent­wurf und weib­liche Ver­suche des Über­le­bens und des Sich-Neu-Ein­rich­tens nach der Erschüt­te­rung durch Krieg und Ver­trei­bung. Die Autorin hütet sich aber davor, diese neuen weib­li­chen sozialen Struk­turen, die an der Stelle der eins­tigen patri­ar­chalen Fami­li­en­ver­bände ent­stehen und die von der neuen sozia­lis­ti­schen Ord­nung deut­lich nicht ver­hin­dert werden, zu ver­herr­li­chen und damit in die Falle femi­nis­ti­scher Mythen­bil­dung zu tappen. Die Lebens­ge­schichten der drei Prot­ago­nis­tinnen sind alles andere als Mus­ter­bio­gra­phien und die beiden pol­ni­schen Lebens­läufe enden in der Erstar­rung des Selbst­mordes bei Marysia und der feti­schi­sierten häus­li­chen Ord­nung bei Anna. Die deut­sche Ula ver­sucht hin­gegen der nächsten Gene­ra­tion den Weg ins Erwach­sen­werden zu ebnen – und dies in sich selber abge­trotzter prag­ma­ti­scher Zurückhaltung.
Es ist über­ra­schend, wie Ula, die Deut­sche, die nach 1945 in Stettin bleibt und sich der oft an sie her­an­ge­tra­genen Sug­ges­tion der Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung in Ost- oder West­deutsch­land ver­schließt, die über sich hin­aus­wächst, zu einer Art stillem Mythos im Roman wird, in dem sich die Stadt Stettin, für die sie steht, und das Frau­sein – Ula ist kin­derlos – ver­binden. Dieses sym­pa­thi­sche pol­ni­sche Bild einer Deut­schen erkauft sich weder über das in Polen über­ra­schend oft ein­ge­setzte Motiv des Kul­tur­trä­gers, und noch über die aus­ge­lie­hene Figur aus der Roman­welt von Thomas Mann, die sie hätte adeln oder ent­schulden können wie in der jüngsten Dan­ziger Prosa von Stefan Chwin und Paweł Huelle. Deut­sche natio­nale Hete­ro­st­e­reo­ty­pien erscheinen in der sehr lebens­nahen Frau­en­figur wie auf­ge­löst – so auf­ge­löst, dass Ula sogar eine der wenigen epi­schen Ver­dich­tungen als Erzähl­figur unbe­schadet überlebt.

 

Diese ori­gi­nelle und facet­ten­reiche Zeich­nung der Frau­en­welt war bei der Autorin zu erwarten, zur großen posi­tiven Über­ra­schung gerät aber ihr umge­kehrter, anderer Blick auf die poli­ti­sche Situa­tion der Nach­kriegs­ge­schichte. Wir haben keine uner­bitt­liche Abrech­nung mit der sozia­lis­ti­schen Geschichte Polens vor uns, wie sie für die Soli­dar­ność-Gene­ra­tion, zu der die Autorin mit Jahr­gang 1963 noch knapp gehört, typisch ist.

 

Bei der neuen und vor allem auch jungen Gesell­schaft von Zuwan­de­rern aus ver­schie­denen Regionen des ehe­ma­ligen Polens treffen sich Über­le­bens­wille, Ver­suche des wirt­schaft­li­chen Auf­stiegs, des sog. sozia­lis­ti­schen ‚Awans‘, mit der neuen poli­ti­schen Ord­nung in einem zwar wenig ideo­lo­gie­festen, aber umso lang­le­bi­geren Prag­ma­tismus. Bam­bino ist kein Ort des Dis­senses, und die ver­drängten Seiten der deut­schen wie der pol­ni­schen jüngsten Geschichte sind Sache der Väter, Brüder und Ehe­männer. Die Frauen sind eher der, für die Zeit der Tei­lungen so typisch gewor­denen, pol­ni­schen Frau­en­rolle der ‚Nati­ons­bil­dung aus dem Hin­ter­grund‘ ent­wachsen, genauer gesagt wissen sie nichts mehr von ihr. Anna ver­bindet ihr lang­sames und sich selber abge­run­genes ‚Awans‘ mit Par­tei­zu­ge­hö­rig­keit und heim­li­chen Kir­chen­gängen, ohne bei beiden eine Iden­tität zu finden. Sie bleibt trotz all ihren klein­bür­ger­li­chen Ver­su­chen, sich ein­zu­richten, hei­misch zu werden, sich und den anderen eine Fremde.
Die für die pol­ni­sche Wider­stands­ge­sell­schaft seit Jahr­hun­derten ein­ge­übte Dicho­tomie von Ver­rä­tern und Patrioten, guten und schlechten Polen ist in diesem Nah­blick wie auf­ge­hoben. In Bam­bino wird uns ohne Nost­algie und Kryp­to­kom­mu­nismus der reale Sozia­lismus rekon­stru­iert, die kleine Sta­bi­li­sie­rung unter Gomułka und Gierek und die sozia­lis­ti­sche Ver­gan­gen­heit in ihrem All­tags­ge­sicht ver­ständ­lich gemacht und nahe gerückt. Es wird uns der Teil der pol­ni­schen Geschichte ver­ge­gen­wär­tigt, der nach 1989 in der öffent­li­chen Erin­ne­rung wie aus­ge­löscht wurde und der bereits in der Mas­sen­be­we­gung der Soli­dar­ność erst­mals von der Mehr­heit bekämpft und abge­lehnt wurde, darum muss his­to­risch richtig die Geschichte von Bam­bino bereits 1981 enden, weil danach nur mehr das zu lange Warten auf das offi­zi­elle Ende des realen Sozia­lismus kommt, das bereits 1980 voll­zogen war. In dieser Erin­ne­rungs­ar­beit und fik­tio­nalen Rekon­struk­tion einer ver­drängten Zeit, die der Autorin für die Zeit nach 1956 deut­lich besser gelingt, d.h. wo sich erin­nerte Zeit und eigene Zeit immer mehr decken, als für die ersten Jahre nach 1945, liegt die viel­leicht wich­tigste und nicht zu über­schät­zende Leis­tung dieses Romans.

 

Viel­leicht gerade wegen dieser Offen­heit bzw. der inneren Nähe gegen­über dem realen Sozia­lismus wird dieser his­to­ri­sche Rück­blick alles andere als ein patrio­ti­scher oder gar natio­na­lis­ti­scher. Iwa­siów kann selbst den pol­ni­schen Katho­li­zismus ohne Pathos, aber auch ohne Ironie zeichnen.
Ver­gleichs­weise schwä­cher gelingt Iwa­siów die Dar­stel­lung der über die gewal­tigen Umsied­lungen ent­wur­zelten Bevöl­ke­rung, genauer die Erin­ne­rungs­ar­beit ihrer Helden an die ehe­ma­ligen Ost­ge­biete, die in der Kresy-Lite­ratur nach 1956 zum wenn auch ver­kürzten großen Thema und zur großen erzäh­le­ri­schen Her­aus­for­de­rung wurde. Das Ukraine­bild, das in der Erin­ne­rung und in den Rück­kehr­ver­su­chen Mary­sias gezeichnet wird, ist in Bam­bino kor­rekter und damit auch ein wenig ste­reo­typer als authen­tisch gefasst und fällt weit hinter die von ihr in ihrer Dis­ser­ta­tion einst polo­nis­tisch bear­bei­tete Erin­ne­rungs­welt Odo­jew­skis zurück. Wenn der Blick in die andere Welt der Ukraine Iwa­siów nicht gleich gelingt, hat das weniger mit dem Polo­no­zen­trismus der Nach­kriegs­zeit als mit der Grenze der Poetik zu tun. Der ‚kleine’ Blick kann sich in der unmit­tel­baren und eigenen Welt ent­wi­ckeln und die Ukraine ist in der pol­ni­schen Lite­ratur seit je her unend­li­cher Raum und weite Per­spek­tive. Iwa­siów, Kind der zweiten Gene­ra­tion, ist deut­lich in Stettin angekommen.

 

Die pol­ni­sche Prosa hat nach 1956 lange ihre Auto­nomie gegen­über dem ‚fremden’ Staat vor allem in der Frei­heit der Form und im lite­ra­ri­schen Expe­ri­ment gesucht und hat sich für diese ästhe­ti­sche Unab­hän­gig­keit in einen Elfen­bein­turm sperren lassen, der ihre Ver­bin­dung zur Wirk­lich­keit kappte oder zumin­dest ver­kürzte. Die neue Prosa nach 1989 hat sich sehr rasch des Bal­lasts des eins­tigen, nicht immer authen­ti­schen lite­ra­ri­schen, Expe­ri­ments ent­le­digt. Die neuen Zwänge, und sie werden sich bald als ebenso große ent­puppen, werden ihr aus dem freien (Literatur)markt ent­stehen. 20 Jahre nach der Wende fällt auf, dass gerade die pol­ni­sche Prosa ihren Leser sehr ernst nimmt und seiner Iden­ti­täts­suche deut­lich ent­ge­gen­kommt. Der in den 60er und 70er Jahren von der Lite­ra­tur­kritik ver­geb­lich gefor­derte Gesell­schafts- oder Zeit­roman wird erst jetzt geschrieben, viel­leicht nicht in der alten Form eines großen Ein­zel­wurfs, son­dern demo­kra­tisch in vielen Ein­zel­teilen. Iwa­siów hat ein sol­ches Ein­zel­teil gelie­fert. Die Form, die sie dafür ver­wendet, ist nicht neu, erhält auch nicht den Selbst­wert der 60er Jahre, aber die Authen­ti­zität der eigenen fast pri­vaten Anwendung.

 

Bolecka kommt aus Warschau,dem Zen­trum, Iwa­siów aus Stettin, der Stadt an der Grenze. Bolecka macht sich auf die Suche nach der all­ge­meinen euro­päi­schen, aber auch ein Stück weit fremden Geschichte, Iwa­siów nach der kleinen Geschichte, der Geschichte der eigenen Stadt. Bole­ckas Erzähl­form bleibt in ihrer Erkun­dung des Fremden in den engen und erprobten Grenzen einer tra­di­tio­nellen Erzähl­form, die den sub­jek­tiven Stand­punkt fast ängst­lich meidet. Iwa­siów findet in Stettin nicht nur ihre eigene Geschichte, son­dern auch ihre eigene Form. Die Regionen sind offen­sicht­lich auch heute noch Nähr­boden der pol­ni­schen Literatur.

 

Bolecka, Anna: Uwied­zeni. Jacek San­torski, Wars­zawa 2009.
Iwa­siów, Inga: Bam­bino. Świat Ksiąki, Wars­zawa 2008.