Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Der nur scheinbar naive Blick

„Viele spre­chen von der großen Rakete ohne ‚Schwanz‘. Man sagt, dort, wo sie liegt, ist die Strah­lung erhöht! […] Die Leute fahren zum Markt, um die Todes­ra­kete zu sehen. Ich bitte meine Mutter: ‚Über­rede die Nach­barn, mich dorthin mit­zu­nehmen! Ich will wissen, wie das schreck­liche Ding aus­sieht, das mir so viel Schmerz gebracht hat.‘ Von rus­si­scher Seite wird der Beschuss des Marktes nicht kom­men­tiert. Aber die Tsche­tschenen haben keine so großen Raketen. Die­je­nigen, die in der Nähe der Rakete waren, soll es in Stücke gerissen haben. Die Ange­hö­rigen können sie nur noch anhand von Details iden­ti­fi­zieren: Knöpfe, Haar­spangen und Klei­dungs­fetzen.“ (Žereb­cova, 2011, S.27, eigene Übersetzung)

 

Das Tage­buch der Polina Žereb­cova (Dnevnik Žereb­covoj Poliny, Moskau: Detektiv Press, 2011), in dem die Autorin ihre Jugend wäh­rend des zweiten Tsche­tsche­ni­en­krieges beschreibt, ist in Russ­land in einer über­schau­baren Auf­lage von 2000 Exem­plaren erschienen. Bisher exis­tiert ledig­lich eine Über­set­zung ins Fran­zö­si­sche. Den­noch hat das Buch in den unab­hän­gigen Medien in und außer­halb von Russ­land einige Auf­merk­sam­keit erregt und ist, nachdem zunächst an seiner Echt­heit gezwei­felt wurde, zu einer Art Geheim­tipp geworden. Vor Kurzem ist ein wei­terer, noch umfas­sen­derer Teil des Tage­buchs unter dem Titel „Ameise im Glas“ (Mur­avej v ste­kljannoj banke, Moskau: Corpus, 2014) erschienen.

 

Žereb­cova, die mit einem Thema an die Öffent­lich­keit drängte, das „der Macht“, wie es auf Rus­sisch so schön heißt, unbe­quem ist, lebt inzwi­schen in Finn­land im Exil. Die Ver­fas­serin sagt in Inter­views mit fran­zö­sisch- und eng­lisch­spra­chigen Medien, dass es ihr Ziel war, Zeugnis abzu­legen und von einem Krieg zu berichten, über den allzu lange geschwiegen wurde. Sie will mit ihrem Buch auf­rüt­teln; auf­zeigen, wie die rus­si­schen Macht­haber durch ihre Ent­schei­dungen unzäh­lige Men­schen­leben zer­stört haben. Sie sieht den Krieg nicht als eine Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen Völ­kern, son­dern zwi­schen kri­mi­nellen Grup­pie­rungen, die ihre Inter­essen gewaltsam durch­setzen wollen auf der einen und der schutz­losen Zivil­be­völ­ke­rung auf der anderen Seite.

 

Im Tage­buch, das die 1985 in Grozny gebo­rene Žereb­cova als Jugend­liche von 1999–2002 führte, wird scho­nungslos die Zer­stö­rung der Stadt und die Ver­ro­hung der Men­schen beschrieben. Ereig­nisse, Orte und Namen werden benannt und „für die Nach­welt“ fest­ge­halten. Žereb­cova doku­men­tiert, wie sämt­liche Sicher­heiten aus­ge­he­belt werden. Zer­störte Gebäude, Kran­ken­häuser ohne Strom, Bomben, die in Bussen explo­dieren, Hunger – das sind die Dinge, die ihren Alltag bestimmen. Es wird gestohlen, getötet, sich gegen­seitig beschul­digt und ver­leumdet. Dabei ver­schwimmen die Grenzen zwi­schen Krieg und Nicht-Krieg. Es scheint in einer End­los­schleife immer so wei­ter­zu­gehen, ohne Hoff­nung auf eine Ver­bes­se­rung der Lage.
Polina gehört einer Gene­ra­tion an, die im Krieg auf­ge­wachsen ist und kaum etwas anderes kennt als den Aus­nah­me­zu­stand. Den­noch scheint die Tage­buch­schrei­berin manchmal von ihrer Tätig­keit als Chro­nistin sich unauf­hör­lich wie­der­ho­lender Schre­ckens­er­eig­nisse erschöpft zu sein. An man­chen Tagen notiert sie nur lapidar, dass wieder grau­en­hafte Dinge pas­siert seien, sie aber keine Lust habe, dar­über zu schreiben. Die Welt, in der Polina lebt, wird immer wieder aufs Neue in Stücke gerissen und in Frage gestellt. Was übrig bleibt, sind im wahrsten Sinne des Wortes Fetzen, sodass selbst die Ange­hö­rigen ihre Toten oft­mals nicht mehr iden­ti­fi­zieren können.

 

Der Lebens­welt Polinas ent­spricht ihre frag­men­ta­ri­sche Schreib­weise. Auch ihr Text ist aus vielen kleinen „Fetzen“ zusam­men­ge­setzt. In die stich­wort­artig-nüch­terne „Chronik“ mischen sich alt­kluges Phi­lo­so­phieren, kind­lich-naives Staunen und schwüls­tige lyri­sche Geh­ver­suche. Die Tage­buch­schrei­berin beklagt immer wieder, keine „rich­tige“ Schrift­stel­lerin und nicht imstande zu sein, das Erlebte in eine Roman­hand­lung zu ver­wan­deln. Doch es ist gerade ihr ungeübt wir­kender Stil, der den Ein­druck von Authen­ti­zität erweckt und einen beim Lesen in seinen Bann zieht. Anmer­kungen wie „weiter sind die Auf­zeich­nungen unlesbar“ sowie der Umschlag und die Fotos vom hand­schrift­li­chen, kra­kelig-ver­schmierten Ori­gi­nal­ma­nu­skript in der Mitte des Buches tragen eben­falls dazu bei.

 

Der unschuldig-naive Blick und der Außen­sei­ter­status Polinas inner­halb der tsche­tsche­ni­schen Gesell­schaft scheinen sie zur idealen Beob­ach­terin zu machen: Sie ist einsam, denn sie fühlt sich weder als Russin noch als Tsche­tschenin, obwohl sie in Grozny auf­ge­wachsen ist, Kopf­tuch trägt und sich mit isla­mi­schen Fei­er­tagen aus­kennt. Im Gegen­satz zu ihren Altersgenoss/innen in anderen Regionen weiß Žereb­cova nichts von aktu­eller Pop­musik und Sit­coms, von Internet und Tur­bo­ka­pi­ta­lismus, son­dern führt mit Füller und Papier ein Tage­buch zu Kriegs­zeiten. Sie liest vor­wie­gend rus­sisch­spra­chige Lite­ratur aus dem 19. und 20. Jahr­hun­dert und hört sowje­ti­sche Musik von Viktor Coj und Bulat Oku­džava. Aber erstaun­li­cher­weise auch den in Russ­land wegen extre­mis­ti­scher Texte ver­bo­tenen tsche­tsche­ni­schen Barden Timur Mucu­raev – eine der vielen kleinen Wider­sprüch­lich­keiten, die sich durch das Tage­buch ziehen und Polinas „Dazwi­schen­stehen“ ein­dring­lich illustrieren.

 

Immer wieder fragt Polina: Warum? Warum beschießen die aus Pan­zern unser Haus? Warum wird der Markt­platz, auf dem wir ver­su­chen, unseren Lebens­un­ter­halt zu ver­dienen, aus der Luft bom­bar­diert? Doch es ist nur scheinbar ledig­lich der naive Blick einer Her­an­wach­senden, die ihre intimen Sorgen und Nöte einem pri­vaten Tage­buch anver­traut. Es ist nicht der erste Krieg, den Polina mit­er­leben muss und auch ihr Tage­buch ist nicht als rein pri­vate Samm­lung von Auf­zeich­nungen zu ver­stehen, auch wenn die frag­men­ta­ri­sche Form und der unge­lenke Stil dies ver­muten lassen. Polina Žereb­cova ver­folgt ein Ziel: Sie will publi­ziert werden. Sie will sich das Schreck­liche, was sie erlebt, nicht nur „von der Seele schreiben“, son­dern sie möchte Zeugin sein. Die Tage­buch­schrei­berin weiß um die Wir­kung, die das Geschrie­bene haben kann, obwohl es ihren eigenen schrift­stel­le­ri­schen Ansprü­chen nicht genügt. Sie glaubt, dass ihr Text ein Doku­ment ist und dass ihre Stimme eine Stimme ist, die ein Gegen­ge­wicht zur offi­zi­ellen Bericht­erstat­tung über den Krieg sein kann, den sie mit­er­lebt hat. Diese Span­nung zwi­schen der Form eines pri­vaten Tage­buchs und einer durchaus expli­ziten Adres­sie­rung an die Öffent­lich­keit zieht sich durch den gesamten Text – es ist nicht immer ein­deutig bestimmbar, ob wir es mit der ‚pri­vaten‘ Polina zu tun haben, die unglück­lich ver­liebt ist und Gra­nat­splitter im Bein hat, oder mit Polina in ihrer selbst­ge­wählten Rolle als Chro­nistin und Zeugin. Letz­tere tritt in den Vor­der­grund, wenn Polina Žereb­cova etwa die Situa­tion der Men­schen in Grozny mit der Bela­ge­rung Lenin­grads und den natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern ver­gleicht, wor­über sie Zeit­zeu­gen­be­richte gelesen hat, die ihr als Vor­bild dienen.

 

Und obwohl es sich um einen doku­men­ta­ri­schen Text han­delt, eröffnet er zusätz­lich noch eine ganz andere, uner­war­tete, mys­tisch-phan­tas­ti­sche Dimen­sion, die sich erst nach und nach ent­faltet. Polina begnügt sich nicht mit der Auf­lis­tung von Fakten und Gerüchten, die den Krieg betreffen, son­dern deutet Träume, sucht nach Zei­chen und kul­ti­viert eine seltsam anmu­tende Gegen­welt, die mit weisen Yogis, rus­si­schen Dichter/innen ver­gan­gener Epo­chen und sanften Außer­ir­di­schen bevöl­kert ist. Eine ver­geis­tigte Welt, in der es weder bewaff­nete Kon­flikte noch eth­ni­sche Zuge­hö­rig­keiten gibt. Diese Welt stellt für sie die ein­zige Alter­na­tive zur vom Krieg zer­störten Heimat und zum unbe­kannten und uner­reich­baren Russ­land dar.

 

Žereb­cova, Polina: Dnevnik Žereb­covoj Poliny. Moskau: Detektiv-Press, 2011.
Jerebtsova, Polina: Le Journal de Polina. Paris: Books Edi­tions, 2013.
Žereb­cova, Polina: Mur­avej v ste­kljannoj banke. Čečenskie dnev­niki 1994–2004. Moskau: Corpus, 2014.