Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

“Auch für einen Russen über­haupt nicht klar ”

Ein Inter­view mit Doro­thea Trottenberg

 

Doro­thea Trot­ten­berg ist die aktu­elle Preis­trä­gerin des Paul-Celan-Preises für her­aus­ra­gende Über­set­zung ins Deut­sche. Neben dem aus­ge­zeich­neten Durst von Andrej Gel­asimov hat die Ost­eu­ropa-Fach­re­fe­rentin und Rus­sisch­über­set­zerin vor kurzem die Urfas­sung von Tol­s­tojs Krieg und Frieden ver­öf­fent­licht und arbeitet wei­terhin an der Gesamt­aus­gabe Ivan Bunins. Im Inter­view mit novinki erzählt Trot­ten­berg von den Freuden und Leiden des Kul­tur­trans­fers, von Ur- und anderen Fas­sungen und von indi­vi­du­ellen Ant­worten auf unlös­bare Fragen.

 

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novinki: Frau Trot­ten­berg, Sie über­setzen rus­si­sche Lite­ratur ins Deut­sche. Wie schätzen Sie die Lage der rus­si­schen Lite­ratur auf dem deut­schen Buch­markt ein? Zeichnet sich hier eine Krise ab, wie man sie sonst im Buch­handel spürt?

 

Doro­thea Trot­ten­berg: Die rus­si­sche Lite­ratur hat es gene­rell nicht so ein­fach, wenn man von spe­zi­ellen Genres wie Klas­si­kern oder dem Krimi absieht. Da ist in den ver­gan­genen Jahren einiges ins Rollen gekommen, was sich auch in Ver­kaufs­zahlen aus­drückt. Ansonsten krankt rus­si­sche Lite­ratur an ihrem Ruf als gute, aber schwie­rige Lite­ratur. Sie hat ein­fach dieses Label. Als Russ­land 2003 Gast­land an der Frank­furter Buch­messe war, wurde viel über­setzt. In der Folge aber, so scheint mir, ist es nicht wie bei anderen Län­dern bei einer kon­ti­nu­ier­li­chen Stei­ge­rung oder Bei­be­hal­tung der Über­set­zungs­menge geblieben. Als Polen Gast­land war, gab es nachher einen regel­rechten Boom pol­ni­scher Lite­ratur. Bei Ungarn auch. Aber bei Russ­land war das nicht der Fall.

 

n.: Warum boomt gerade der rus­siche Krimi?

 

D.T.: Boom ist viel­leicht über­trieben. Im Ver­gleich zu Krimis von Stieg Larsson oder anderen ist es kein Boom. Aber den­noch liegen rus­si­sche Kri­mi­au­toren, zum Bei­spiel Boris Akunin mit seinen his­to­ri­schen Krimis, Alek­sandra Mari­nina oder Polina Daš­kova, von den Ver­kaufs­zahlen her ganz ein­deutig über dem Niveau der anderen lite­ra­ri­schen Texte. Aller­dings ver­kaufen sich Krimis all­ge­mein besser als andere Literatur.

 

n.: Wie kamen Sie über­haupt dazu, lite­ra­ri­sche Texte zu übersetzen?

 

D.T.: Mich hat von Anfang an die Arbeit mit der Sprache fas­zi­niert. Der Ver­such, einen Kul­tur­kreis mit Hilfe der Lite­ratur und Sprache in einen anderen zu trans­por­tieren. Ich habe wäh­rend des Stu­diums auch viele Über­set­zungen gelesen, weil ich am Anfang das Rus­si­sche noch nicht so gut beherrscht habe.

 

n.: Sie haben Sla­vistik studiert?

 

D.T.: Ich habe Sla­vistik im Haupt­fach stu­diert und ost­eu­ro­päi­sche Geschichte und Politik im Nebenfach.

 

n.: Können Sie sich noch an Ihr erstes über­setztes Buch erinnern?

 

D.T.: Ja, jaja klar! (lacht) Das war eine Zusam­men­ar­beit mit einer Freundin, mit der ich auch zusammen stu­diert habe. Sie ist heute in Tübingen Pro­fes­sorin, Schamma Schahadat. Es war eine Bio­gra­phie über Marina Cve­taeva, über ihre letzten beiden Lebens­jahre. Das war das erste, im Insel-Verlag publi­zierte Buch, das wir damals zusammen gemacht haben. Ich habe nur einen klei­neren Teil davon über­setzt. Das war 1991.

 

n.: Das Buch haben Sie in Eigen­regie über­setzt, oder haben Sie einen Auf­trag bekommen?

 

D.T.: Das war in der Tat so, dass wir das dem Verlag vor­ge­schlagen haben. Wir hätten es aber ver­mut­lich als Über­set­zungs­auf­trag nicht bekommen, wenn wir nicht die Lek­torin gekannt hätten.

 

n.: Wie ist es danach wei­ter­ge­gangen? Haben Sie im glei­chen Verlag wieder etwas über­setzt oder im glei­chen Genre..?

 

D.T.: Ich habe die ersten Jahre relativ wenig gemacht. Es ist gar nicht so ein­fach, ins Geschäft zu kommen, wenn man noch keinen Namen hat. Eigent­lich fing das regel­mäs­sige Über­setzen erst Ende der neun­ziger Jahre an.

 

n.: Sie sagten, Sie seien beim Über­setzen an einem Kul­tur­transfer inter­es­siert. Können Sie das bitte etwas ausführen?

 

D.T.: Zum einen gefällt mir die Arbeit mit Sprache an sich. Sowohl mit der Aus­gangs- als auch mit der Ziel­sprache. Es ist ja beim Über­setzen oft so: Erst mal liest man ein Buch auf Rus­sisch, dann meint man alles zu ver­stehen, und wenn man dann anfängt zu über­setzen, Wort für Wort, Satz für Satz, merkt man erst, wo die eigent­liche Crux an diesem Text liegt. Man muss aber ver­su­chen, den Text in einer Form wie­der­zu­geben, dass ihn auch ein poten­zi­eller Leser ver­steht. So ist jede Über­set­zung auch eine Ent­de­ckung. Gerade jetzt arbeite ich an der Gesamt­aus­gabe von Ivan Bunin, eine Über­set­zung, die mir eher zufällig zuge­flogen ist, die sich aber als sehr schönes Pro­jekt schon über viele Jahre hin­zieht. Bunin war für mich selbst wie auch für den deutsch­spra­chigen Leser eine Ent­de­ckung. Obwohl er der erste Lite­ra­tur­no­bel­preis­träger war, ist er völlig in Ver­ges­sen­heit geraten. Einen Autor mit dem Verlag zusammen auf dem deutsch­spra­chigen Markt neu zu posi­tio­nieren, finde ich eine schöne Aufgabe.

 

n.: Sie über­setzen das Rus­si­sche ins Deut­sche. Ist es nicht mehr ein Spiel mit der deut­schen Sprache als mit der russischen?

 

D.T.: Ja sicher, weil mir das Instru­ment trotz Stu­dium und relativ guter Rus­sisch­kennt­nisse immer noch besser zur Ver­fü­gung steht. Rus­sisch ist für mich eine Bil­dungs­sprache und nicht die Mut­ter­sprache. Natür­lich bin ich in den Instru­menten meiner Mut­ter­sprache sicherer als in denen der Aus­gangs­sprache. Es ist auch kein Zufall, dass man in der Regel in die Mut­ter­sprache über­setzt. Man arbeitet stärker mit der Ziel­sprache. Zum Bei­spiel in der Über­ar­bei­tungs­phase, wenn man einen Text über­setzt. Ich mache jeweils zwei bis drei Über­ar­bei­tungs­phasen. Gerade in der letzten Phase oder im Lek­torat und beim Fahnen lesen, da geht es vor allen Dingen um den Umgang mit der deut­schen Sprache.

 

n.: Muss ein Text ein gewisses Merkmal tragen, damit er sich zur Über­set­zung eignet? Gerade sprach­liche Beson­der­heiten lassen sich nur schwer über­setzen. Geht nicht der Rhythmus auf Kosten des Inhalts verloren?

 

D.T.: Der Rhythmus geht ver­loren, Alli­te­ra­tionen gehen oft ver­loren aus seman­ti­schen oder lexi­ka­li­schen Gründen, das ist klar. Ich ver­suche wirk­lich das zu trans­por­tieren, was ich auch trans­por­tieren kann und mich nicht so sehr darauf zu fokus­sieren, was ver­loren geht. Natür­lich ver­suche ich, mög­lichst viel bei­zu­be­halten, aber wenn man jedes Mal alles mit rein­pa­cken will, dann schei­tert man wohl zwangs­läufig, man kann ein­fach nicht wei­ter­ma­chen. Manchmal bin ich zwar ver­sucht, etwas auf­zu­geben, aber ich ver­suche, dar­über hin­weg­zu­kommen. Das geht einem mit wis­sen­schaft­li­cher Arbeit auch manchmal so.

 

n.: Inwie­fern ver­su­chen Sie, in Ihren Über­set­zungen die Eigen­schaften des Rus­si­schen bei­zu­be­halten? Sie haben im Gespräch an der Buch­Basel erwähnt, dass Sie zum Bei­spiel die typi­schen langen tol­s­to­j­schen Sätze als solche langen Sätze zu über­setzen ver­sucht haben. Wo hört das Rus­si­sche auf, und wo fängt das Deut­sche an?

 

D.T.: Das ist sehr schwierig und bei jedem Text ein neues Aus­ta­rieren. Für mich ist es abhängig von dem Text, den ich über­setze. Ich ver­suche, gene­rell eher nah am Text zu arbeiten, was aber nicht heisst, dass ich die rus­si­sche Syntax bei­be­halte oder rus­si­schen Par­ti­zi­pi­al­kon­struk­tionen, die auf Deutsch ja oft sehr sperrig wirken. Das Rus­si­sche ist da viel unemp­find­li­cher, auch was Wie­der­ho­lungen angeht. Wenn man hun­dert­tau­send Mal „on skazal“ sagt, vari­iere ich das auf Deutsch. Es kommt aber auch darauf an. Ich habe einmal in meinem Leben einen Krimi über­setzt. Da geht es darum, dass der Text sich liest, ohne dass der Leser ständig dar­über stol­pert oder dar­über reflek­tiert, warum der Text nun so kom­pli­ziert ist. Wenn es aber ein Autor ist, der formal ganz streng arbeitet, dann ist es mir wichtig, zum Bei­spiel die langen Satz­pe­ri­oden bei­zu­be­halten. Das­selbe gilt, wenn der Text eine gewisse Fremd­heit hat, sei es durch Exo­tismen oder Fremdwörter.

 

n.: Wenn Sie schon von Fremd­heit spre­chen – haben Sie manchmal das Gefühl, dass Ihnen eine Text­stelle fremd vor­kommt und Sie nicht sicher sind, ob das für rus­si­sche Mut­ter­sprachler auch so ist?

 

D.T.: Ständig (lacht). Das habe ich ganz oft. Man kann eine Sprache bis zu einem gewissen Punkt lernen, aber man kann eigent­lich nie sagen, wie es für einen Mut­ter­sprachler ist. Ich frage dann meis­tens Mut­ter­sprachler. Ich habe aber auch schon die Erfah­rung gemacht, dass mir ver­schie­dene Mut­ter­sprachler unter­schied­liche Aus­kunft geben. Ich habe bei­spiels­weise das Buch von Elena Čižova, die auch an der Buch­Basel war, über­setzt. Das Buch heisst auf Deutsch Die stille Macht der Frauen. Es geht um die Lenin­grader Blo­cka­de­zeit im Zweiten Welt­krieg und die Nach­kriegs­zeit. Mir hat die Autorin gesagt, als ich sie zu vielen Stellen fragte: „das ist für jeden Russen sofort klar, was das heisst“. Ich habe dann eine etwa 15 Jahre jün­gere rus­si­sche Kol­legin gefragt, und die sagte, dass das für einen Russen über­haupt nicht klar sei. Auch Mut­ter­sprachler können oft nicht ein­deutig Aus­kunft geben. Auf jeden Fall ver­suche ich bei allen Stellen, bei denen ich unsi­cher bin, nach­zu­fragen. Im Ide­al­fall ist es der Autor selbst, wie zum Bei­spiel jetzt bei Pelevin. Ich habe ihm alle Stellen per E‑Mail geschrieben und mir Erklä­rungen erbeten. Es könnte aber auch sein, wenn ich sie jemand anderem schicke, dass ich ganz andere Ant­worten erhalte.

 

n.: Und wie gehen Sie mit ver­schie­denen Schreib­stilen von Autorinnen oder Autoren um? Kommt Ihnen dabei manchmal Ihr eigener Schreib­stil in die Quere?

 

D.T.: Ich hoffe nicht zu sehr. Ich weiss nicht, ob man sich da ganz frei machen kann davon. Des­wegen ver­suche ich auch mög­lichst nahe am Text zu arbeiten. Für mich ist der Text schon mass­geb­lich als Haupt­rahmen für das, was ich wie­der­geben will. Ich würde nicht auf die Idee kommen, einen Autor zu kor­ri­gieren oder ein­fach etwas weg­zu­lassen. Kürz­lich hat mir ein Über­set­zer­kol­lege gesagt, wenn ein Autor sich wie­der­holt, würde er die zweite Stelle weg­lassen, weil die dann nicht nötig sei. Das ist für mich per­sön­lich eine unge­wöhn­liche Vor­ge­hens­weise. Das würde ich nicht machen.

 

n.: Gibt es Autoren, die Ihnen zum Über­setzen besser gefallen oder näher stehen?

 

D.T.: Wer für mich wirk­lich eine Ent­de­ckung war, ist Ivan Bunin. Ich kannte ihn vorher kaum – nur die Texte, die man so kennt, wenn man mal Sla­vistik stu­diert hat. Der Herr aus San Fran­cisco, Mitjas Liebe und diese Dinge. Ich wusste wirk­lich nicht, was für ein gross­ar­tiger Autor er ist. Das Dorf kannte ich natür­lich, aber diese vielen klei­neren Texte, Erzäh­lungen, oder auch die Texte, die wir in dem Band Der Son­nen­tempel publi­ziert haben, lite­ra­ri­sche Rei­se­texte, von denen hatte ich noch nie gehört. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich mit dieser Aus­gabe wei­ter­ma­chen kann. Es werden wahr­schein­lich neun oder zehn Bände, ich bin jetzt gerade am fünften. Ich finde es schön, weil ich mich mit Bunin ange­freundet habe. Meis­tens ent­deckt man, wenn man sich auf einen Autor ein­lässt, viele Dinge bei der nahen Beschäf­ti­gung mit dem Text. Diese Dinge sind es, die einen die Schwie­rig­keiten ver­gessen lassen oder den Autor oder den Text sym­pa­thisch machen.

 

n.: Wenn Sie eine Über­set­zung beginnen, fangen Sie am Anfang an oder suchen Sie sich spe­zi­elle Schlüs­sel­szenen heraus?

 

D.T.: Nein, ich fange immer am Anfang an, ganz banal. Klar, ich lese den Text vorher, damit ich auch eine Idee habe, wie der Rhythmus ist und was über­haupt noch pas­siert. Ich lese den Text durch und mache ein paar Pro­be­seiten für mich. Dann mache ich eine Hoch­rech­nung, es gibt wirk­lich auch eine hand­werk­liche Seite. Ich rechne mir aus, wie­viele Zei­chen das Ori­ginal hat und rechne diese auf die soge­nannten Norm­seiten um. Wenn ich die Test­seiten mache, schaue ich, wie lange ich unge­fähr für die Roh­über­set­zung brauche. Dann mache ich mir einen Plan, bis wann ich unge­fähr fertig sein will oder muss.

 

n.: Wenn Sie auf eine schwie­rige Stelle stossen, nehmen Sie die manchmal raus und über­setzen sie erst am Schluss?

 

D.T.: Den ersten Durch­gang, die Roh­über­set­zung, mache ich ziem­lich zügig. Schwie­rige Stellen mar­kiere ich mir ein­fach, sowohl im rus­si­schen Text als auch in meiner Über­set­zung. Die Roh­über­set­zung mache ich nur mit einem Wör­ter­buch, damit ich weiss, was ich benutzt habe. In der Über­ar­bei­tungs­phase, in der ich einen Text-Text-Ver­gleich mache, benutze ich auch andere Wör­ter­bü­cher und ver­suche, einen grossen Teil dieser Fragen zu klären.

 

n.: Sie bezeichnen das Über­setzen als ein Hand­werk. Gibt es auch krea­tive, künst­le­ri­sche Momente?

 

D.T.: Es ist ein Hand­werk mit vielen krea­tiven Aspekten und nicht nicht nur Inspi­ra­tion oder vdoch­no­venie, wie Puškin sagen würde. Man muss die Instru­mente beherr­schen, die Spra­chen und die Hilfs­mittel. Und diese dann kreativ und phan­ta­sie­voll ein­setzen. Man muss wissen, wo man nach­schauen kann. Viel­leicht machen das andere Über­setzer anders, aber ich ver­suche, mir ein Bild vom Text zu machen und das beim Über­setzen beizubehalten.

 

n.: Eine Ihrer Über­set­zungen ist die Urfas­sung von Tol­s­tojs Krieg und Frieden. Was hat Sie an diesem Text interessiert?

 

D.T.: Ich wusste vorher gar nicht, dass es so etwas gab. Ich wusste schon, dass es ver­schie­dene Fas­sungen gab, aber nicht, dass es diese von Tol­stoj selbst vor­ge­se­hene End­fas­sung gab. Der Verlag Eich­born in Berlin hatte mich über eine Lek­torin ange­fragt, mit der ich schon zusam­men­ge­ar­beitet habe. Ich habe mir den Text dann ange­guckt und fand es fas­zi­nie­rend, dass es so ein erstaun­lich fer­tiges Buch gibt. Es unter­scheidet sich auch in vielem von den spä­teren Fas­sungen. Auf der kleinen Ebene, auf der Mikroebene, aber auch auf der Struk­tur­ebene des Textes. Der Text unter­scheidet sich auch inhalt­lich und von der poli­ti­schen Aus­rich­tung her in ganz vielen Dingen von den anderen Fas­sungen. Man kann den Autor beim Arbeiten beob­achten, wenn man ver­gleicht, was gestri­chen oder hin­zu­ge­fügt wurde.

 

n.: Es gibt auch zahl­reiche Über­set­zungen der spä­teren Fas­sung von Krieg und Frieden – wie­viele Fas­sungen braucht ein deutsch­spra­chiges Publikum?

 

D.T.: Fragen Sie fünf Über­setzer, und Sie bekommen zehn Ant­worten. Es gibt ja diese Theorie, dass ein Ori­ginal nicht ver­altet, dass aber jede Gene­ra­tion ihre neue Über­set­zung braucht. Ich weiss es nicht. Ich bin keine Freundin von Neu­über­set­zungen um jeden Preis. Es kommt darauf an. Bei Krieg und Frieden zum Bei­spiel habe ich das sehr genau ver­gli­chen. Es gibt eine Über­set­zung einer dieser End­fas­sungen von Werner Ber­gen­gruen, der ein bedeu­tender Autor war und den ich als Über­setzer sehr geschätzt habe. Ich habe ihn in anderen Über­set­zungen schon gelesen. Er hat zum Bei­spiel auch Had­schi Murat von Tol­stoj über­setzt. Ich finde, es sind wirk­lich gross­ar­tige Über­set­zungen, obwohl sie schon der letzten oder vor­letzten Gene­ra­tion ange­hören. Ich hätte da nicht so viel Ehr­geiz, dagegen an zu über­setzen. Bei Ivan Bunin waren die beiden ersten Bände über­haupt noch nie auf Deutsch erschienen. Bei dem letzten Ivan Bunin-Band, Das Dorf und Such­odol, haben wir zudem eine Fas­sung genommen, die noch nie über­setzt war. Sie ist ein Drittel länger als die bis­he­rigen Über­set­zungen von Das Dorf.

 

n.: Das heisst, die frü­heren Über­set­zungen von Das Dorf waren gekürzt, oder war es eine gekürzte Fas­sung, die über­setzt wurde?

 

D.T.: Genau. Es waren gekürzte Fas­sungen, die über­setzt wurden. Bei Das Dorf war es ganz inter­es­sant. Es gab, glaube ich, zwei DDR-Über­set­zungen. Beide beruhten auf einer sowje­ti­schen Aus­gabe, die offenbar noch Bunin selber redi­giert hatte. Das, was er raus­ge­nommen hat, waren zum Bei­spiel beson­ders bru­tale Szenen. Ver­mut­lich wollte er nicht als Steig­bü­gel­halter der Revo­lu­tion dastehen, die er abge­lehnt hat. Er hat sich also quasi selbst zen­siert. Für den deutsch­spra­chigen Markt fand ich es aber inter­es­sant, dass man auch die Ori­gi­nal­fas­sung hat, die poli­tisch oder sozio­lo­gisch einen ganz anderen Aspekt rein­bringt. Ich finde aber nicht, dass man ganz grosse Sachen unbe­dingt neu über­setzen muss, nur um der Neu­über­set­zung willen.

 

n.: Sie haben kürz­lich den Paul-Celan-Preis erhalten für Ihre Über­set­zungen. Was bedeutet Ihnen dieser Preis?

 

D.T.: Ich habe mich natür­lich sehr gefreut. Es war auch eine grosse Über­ra­schung, weil ich gar nicht wusste, dass ich da auf dieser Liste stand. Ich habe mich gefreut, aber es ist auch eine Ver­ant­wor­tung, weil dieser Preis für ein Buch, aber auch für ein Gesamt­werk ver­geben wird. Das hört sich schon so… fertig an. Für mich ist es eher eine Auf­for­de­rung, doch noch wei­ter­zu­ma­chen. Eine Ermun­te­rung. Das Schöne am Über­setzen ist ja, dass man wei­ter­ma­chen kann, solange man Auf­träge und Ideen hat.

 

n.: Frau Trot­ten­berg, vielen Dank für das Gespräch.

 

 

Illus­tra­tion von Nastasia Lou­veauDas Inter­view führte Nina Seiler.