Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Ein Tor­nado aus Wałbrzych

Joanna Bator eröffnet den Figuren in Wol­ken­fern die Welt außer­halb Polens

 

Domi­nika Chmura wird vom Wind in die Welt hin­aus­ge­blasen. Nach einem Auto­un­fall wacht sie 1990 in einer Klinik in Mün­chen aus dem Koma auf, doch die Rück­kehr nach Wał­brzych, in ihre Hei­mat­stadt in Nie­der­schle­sien, erscheint ihr unmög­lich. So steigt ihre Mutter Jadzia alleine in den Bus Rich­tung Polen, wäh­rend Domi­nika mit der – zum Schre­cken Jad­zias – schwarzen Kran­ken­schwester Sara auf Reisen geht. Mit sich nimmt sie kaum mehr als den Geruch ver­brannten Flei­sches, den Ver­lust ihres mathe­ma­ti­schen Talents sowie eine neue Foto­ka­mera, und sie wird sich in den nächsten Jahren vom Wind treiben lassen, der alle Figuren in diesem Roman mal stür­mi­scher, mal zärt­li­cher umweht. Ganz beson­ders heftig tobt der Wind aller­dings nach wie vor in Wał­brzych, „vor allem im Durch­gang zwi­schen dem Babel und dem nächsten, ganz ähn­li­chen Block, in diesem Durch­gang führt das mys­te­riöse Zusam­men­treffen bestimmter Umstände dazu, dass hier immer, unab­hängig von Tem­pe­ratur und Jah­res­zeit, ein Tor­nado tobt. Jadzia hat den Ein­druck, es sei jetzt sogar noch zugiger als früher im Sozia­lismus, die Frauen halten sich an ihren schweren Ein­kaufs­netzen fest, die Hun­de­be­sitzer klemmen sich die klei­neren Exem­plare unter den Arm, Mütter stopfen die Decke fester um ihre Kinder, und trotzdem ist es vor­ge­kommen, dass der Wind einen ganzen Kin­der­wagen mit einem Früh­chen drin und zwei Cocker­spa­niels in die Lüfte gerissen hat, so eine Tra­gödie, und das direkt vor den Fei­er­tagen.“ Und den­noch vermag der Wind die langsam vor sich hin schrum­pelnde, neue und doch schon abge­nutzte nach­so­zia­lis­ti­sche Rea­lität nur selten zu durch­bre­chen. Bekannt­lich herrscht im Auge des Tor­nados ja Windstille.

 

Joanna Bator legt mit Wol­ken­fern (Chmurd­alia) ihren zweiten Roman vor, in dem sie an die Erzäh­lung aus ihrem Erst­ling Sand­berg (Pias­kowa Góra) anknüpft. Die 46-Jäh­rige kon­zen­triert sich seit 2011 aus­schließ­lich auf ihre schrift­stel­le­ri­sche Tätig­keit, die sie 2002 mit der auto­fik­tio­nalen Erzäh­lung Kobieta (Frau) begonnen hatte. Die mitt­ler­weile nie­der­ge­legte Beschäf­ti­gung in den Geis­tes­wis­sen­schaften schim­mert aber noch durch, und so kann der geneigte Leser Anleihen femi­nis­ti­scher und post­ko­lo­nialer Kritik oder Ent­würfe eines post­mo­dernen Lebens in ihrem Roman aus­ma­chen. Bator ist jedoch zugute zu halten, dass sie diesen Hin­ter­grund der Erzäh­lung nicht im Sinne einer Beleh­rung oder Demons­tra­tion ihres Wis­sens über­stülpt, son­dern spie­le­risch und kreativ mit den Kon­zepten umgeht. Man ist ihr dankbar dafür, dass man wäh­rend der Lek­türe kein Lexikon der Dekon­struk­tion neben sich liegen haben muss. Esther Kinsky bringt den ange­regten Erzähl­fluss in Wol­ken­fern leicht­füßig ins Deut­sche und schafft es, die Sozio­lekte der Figuren anzu­deuten, ohne sie ins Extrem zu verzerren.

 

Wol­ken­fern ist eine Art Gene­ra­tio­nen­ge­schichte, die den Bogen der Erzäh­lung bis vor den Zweiten Welt­krieg spannt. Wie Olga Tok­ar­czuk trägt Bator die Schichten der Ver­gan­gen­heit ab und lackiert die Funde mit ihrer Erzähl­kunst neu. Auch sie bedient sich eines magi­schen Rea­lismus, denkt Rea­lität und Mythos zusammen. Es ist aller­dings weniger die Magie eines bestimmten Ortes als das Netz von per­sön­li­chem Aus­tausch und odyss­ei­scher Bewe­gung, das der Erzäh­lung Struktur gibt. Nach der Eltern­ge­nera­tion in Sand­berg widmet sich Wol­ken­fern der Tochter Domi­nika, die die poröse Klammer um das Geschehen bildet. Es kann aber keine Rede von einem kon­ven­tio­nellen Fami­li­en­epos sein. Schon allein des­halb, weil die „Familie“ aus lauter Bruch­stü­cken besteht, Fin­del­kin­dern, Ange­hei­ra­teten, Hin­zu­ge­dich­teten, Nach­barn, Geis­tern oder den Tee­tanten, diesen zwei Schwes­tern, denen man die Ver­wandt­schaft nicht ganz abkauft, die so ganz ohne Mann aus­kommen und doch ein Kind auf­ziehen. Aber für solche Lebens­weisen gibt es im Kamieńsk der 1930er Jahre keine Bezeich­nung, und so nennt man die angeb­li­chen Schwes­tern ein­fach Tee­tanten und akzep­tiert sie als solche. Immer wieder tau­chen Men­schen auf, die sich nicht so ganz in das in Polen stark ver­an­kerte und von vielen Figuren explizit gepflegte tra­di­tio­nelle Ver­ständnis der Geschlech­ter­rollen ein­fügen lassen. Domi­nikas Mutter, Jadzia Chmura, etwa findet im „Homo­dings­bums“ Jere­miasz Mucha, ihrem ehe­ma­ligen Nach­barn, einen will­kom­menen Gesprächs­partner, und plötz­lich ist es nicht mehr wichtig, dass dieser nicht als Wit­wen­tröster in Frage kommt. Auch Domi­nika selbst, die alle neuen Bekannten an irgend­je­manden erin­nert und so, wie der eben­falls durch die Welt rei­sende Nacht­topf Napo­leons, ein leeres Gefäß dar­stellt, das jeder nach Belieben füllen kann – auch Domi­nika erweckt bei ihrem Ange­trauten, einem homo­se­xu­ellen ame­ri­ka­ni­schen Kon­ditor, schon mal das Gefühl, dass sie der lange her­bei­ge­sehnte „süß­mäu­lige Junge“ sein könnte. Trotz dieser zeit­wei­ligen Ver­wi­schungen zwi­schen den Geschlech­tern spielen doch die weib­li­chen Figuren in diesem Roman die erste Geige, womit Bator wie­derum eine ähn­liche Erzähl­per­spek­tive vor­gibt wie in Sand­berg.

 

Die pol­ni­schen Männer, arbeitslos geworden durch Schlie­ßung der schle­si­schen Berg­werke, sitzen depressiv zuhause vor dem Fern­seher, betrinken sich oder sind ohnehin schon tot. In Ame­rika ist es kaum anders, da tau­chen die Männer einmal monat­lich auf, um das even­tuell liegen gelas­sene Lohn­ku­vert ihrer Frauen mit­gehen zu lassen. Die Frauen sind Haupt­fokus des Erzäh­lens, und dass viele davon als ver­schroben oder „spin­nert-spleenig“ gelten, liegt vor allem an der Betrach­tungs­weise ihrer Umwelt. Denn was exzen­trisch ist, das ist es vor allem für die Anderen; und so gibt Bator allen das Recht, ihre Geschichte zu erzählen. Diese Frauen sind herr­lich eigen­willig, ohne rück­sichtslos zu sein. In diesem Sinne ist Wol­ken­fern ein Plä­doyer für eine selbst­be­stimmte Lebens­weise, die sich nicht an haltlos gewor­denen Normen ori­en­tiert; die die ver­gan­gene und die zukünf­tige Welt umarmt, ohne sich ihr zu ergeben. Und den­noch ist diese Lebens­weise immer unab­ge­schlossen, eine stete Suche in einer unsteten Rea­lität, die immer weiter von Wał­brzych weg­führt und doch seltsam zen­triert ist. Die Odyssee, die sich wie der napo­leo­ni­sche Nacht­topf oder die Refe­renzen auf Haare und Fri­suren leit­mo­ti­visch durch das Buch zieht, ist hier das Sich-treiben-lassen hin zu einer ima­gi­nierten Heimat, einem Wol­ken­fern, Chmurd­alia, das wie der Hori­zont uner­reichbar bleibt.

Obwohl die Welt von Wol­ken­fern tief in der Rea­lität ver­wur­zelt ist und die Wid­rig­keiten des Lebens kaum beschö­nigt, wird die ganze Erzäh­lung von einem Hauch von Magie beschwingt. Viel­leicht ist es der unbe­stimmte Glaube an Wol­ken­fern, der es ermög­licht, dass eine Gruppe pol­ni­scher Aus­flügler in ihrem Auto unbe­schadet an einen Hügel von Wał­brzych gespült wird, als die Flut aus einem gebors­tenen Stau­damm sie mit­reißt. Oder dass die ertrun­kenen Tee­tanten nicht etwa auf den Grund des Flusses sinken, son­dern als Nixen die Fan­tasie des Dorfsäu­fers beflü­geln. Doch die Magie bewirkt nicht nur Erfreu­li­ches. Dem jüdi­schen Foto­grafen Ludek Borowic aus Kamieńsk ent­hüllt sie Pro­phe­zei­ungen des Todes, wenn die abge­lich­teten Per­sonen uner­klär­li­cher­weise ver­schwommen, wie von Nebel umhüllt auf dem Abzug erscheinen. Am Vor­abend des Holo­caust erfüllt ihn dies mit einer grau­samen Ahnung.

 

Doch Foto­gra­fien sind nicht nur Vor­boten des Todes. Domi­nika zer­legt mit ihrer Foto­ka­mera New York, London oder die grie­chi­sche Insel Kar­pa­thos in Ein­zel­teile, und wäh­rend sie ihre Mit­men­schen und ihre Umge­bung frag­men­ta­risch fest­hält, ent­deckt sie im Foto­gra­fieren ihre Beru­fung. Alte Auf­nahmen wie­derum dienen den Prot­ago­nisten dazu, in die Ver­gan­gen­heit ein­zu­dringen, Erin­ne­rungen wach werden zu lassen. Ganz zen­tral sind Bilder als Aus­gangs­punkt einer Geschichte. Und so ist dieser Roman auch eine Geschichte vom Erzählen, vom Aus­graben, Nach­for­schen, vom Wieder- und Wei­ter­geben, vom Aus­schmü­cken oder frei Erfinden. Jeder erzählt seine – manchmal auch eine fremde – Geschichte nach Gut­dünken, und über diese Erzähl­fäden und ‑netze bildet sich ein welt­um­span­nender Tep­pich von Bezie­hungen, Quer­ver­bin­dungen, Sehn­süchten und nie ganz spur­losem Ver­schwinden. Die Figuren, allen voran die Kris­tal­li­sa­ti­ons­figur Grażynka, an deren Haut Neid und Begehren wie Blasen zer­platzen, bewegen sich unum­gäng­lich in diesem Span­nungs­feld, das einem das Gefühl gibt, nie ganz einsam zu sein, und das von unzäh­ligen Erin­ne­rungen getragen wird. Grażynka, die sich einer dau­er­haften Fest­le­gung sanft, aber bestimmt ent­zieht, bildet eine Art Nähr­boden dieses Geflechts. „Keine Erzäh­lungen kommen aus ihrem Mund, nur ein besänf­ti­gender Strom von Worten, die wie Musik sind, doch man kann nicht behaupten, dass sie von nichts redet, es ist viel­mehr, als könnte sie die Worte finden, die das Leben selbst zum Aus­druck bringen.“

 

Inzwi­schen ist ein wei­teres Werk Bators erschienen, Ciemno, prawie noc (Dunkel, fast Nacht), das 2013 den bedeu­tendsten pol­ni­schen Lite­ra­tur­preis Nike gewann. Wie­derum geht es darin um Bators Hei­mat­stadt Wał­brzych, doch im Mit­tel­punkt steht nicht mehr die Familie Chmura, son­dern eine Repor­terin, die den mys­te­riösen Vor­gängen um eine Reihe ver­schwun­dener Kinder in der Stadt auf den Grund gehen will. Man kann dem deutsch­spra­chigen Publikum nur wün­schen, dass Esther Kinsky bereits an der Über­set­zung arbeitet.

 

Bator, Joanna: Chmurd­alia. Wars­zawa: Wydaw­nictwo W.A.B., 2010.
Bator, Joanna: Wol­ken­fern. Aus dem Pol­ni­schen von Esther Kinsky. Berlin: Suhr­kamp Verlag, 2013.

 

Wei­tere im Text erwähnte Werke Bators: 
Bator, Joanna: Kobieta. Wars­zawa: Wydaw­nictwo Twój Styl, 2002.
Bator, Joanna: Pias­kowa Góra. Wars­zawa: Wydaw­nictwo W.A.B., 2009.
Bator, Joanna: Sand­berg. Aus dem Pol­ni­schen von Esther Kinsky. Berlin: Suhr­kamp Verlag, 2011.
Bator, Joanna: Ciemno, prawie noc. Wars­zawa: Wydaw­nictwo W.A.B., 2012.

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