Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Lite­ra­tur­wis­sen­schaft, Demo­kra­ti­sie­rung und Kochen: Der Blick einer Autorin

Ein Inter­view mit Tat­jana Tol­staja, Sieg­fried-Unseld-Gast­pro­fes­sorin an der Humboldt-Universität

 

Foto: Bert Brechmann

Foto: Bert Brechmann

novinki: Frau Tol­staja, in Ihren Vor­le­sungen und Semi­naren betonen Sie immer wieder, dass Sie weder Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lerin noch Päd­agogin sind. Letztes Semester [im SoSe 2011] boten Sie als Sieg­fried- Unseld-Gast­pro­fes­sorin Semi­nare am Institut für Sla­wistik der Hum­boldt-Uni­ver­sität an. Was genau wollten Sie den Stu­die­renden näher bringen?

 

Tat­jana Tol­staja: Steht man als Nicht-Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler vor einer lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chen Auf­gabe, ist es wichtig, diese zu erläu­tern und zu dis­ku­tieren. Mich inter­es­siert vor allem, die Dinge mit Men­schen, die an der Dis­kus­sion teil­nehmen wollen, gemeinsam zu besprechen.

 

n.: Welche lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Auf­gabe meinen Sie, wenn es kein Geheimnis ist?

 

T.T.: Das Wich­tigste ist ein ver­ständ­nis­volles Lesen von Erzäh­lungen, vor allem der­je­nigen von Čechov. Das ist eine äußerst schwie­rige Auf­gabe und eine Fili­gran­ar­beit. Ich wollte schon immer in Umstände gebracht werden, in denen ich dazu gezwungen werde, seine Erzäh­lungen zu lesen und dann jede Woche eine Erzäh­lung gründ­lich zu ana­ly­sieren. Alleine würde ich mich nie dazu zwingen, weil ich in andere Arbeit ver­tieft bin.

 

n.: Das heißt, die Auf­gabe besteht ledig­lich darin, selbst zu lesen und gleich­zeitig das Lesen den Stu­die­renden beizubringen?

 

T.T.: Ja, genau, und zwar des­halb, weil ich mich mit Lite­ra­tur­theorie nicht aus­kenne und der Mei­nung bin, dass lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Kennt­nisse für mich sogar schäd­lich sind. Lite­ra­tur­theorie bzw. ‑ana­lyse ist das Gegen­teil von künst­le­ri­scher Tätig­keit. Künst­le­ri­sches Schaffen ist eine höchst selt­same Sache. Der krea­tive Pro­zess steht in keinem Ver­hältnis zur Ana­lyse, dem Prinzip der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft. Das Instru­men­ta­rium des Ver­standes, d.h. intel­lek­tu­elle Methoden und Ver­fahren erscheinen mir für das künst­le­ri­sche Schaffen als hin­der­lich. Alle Ärzte, beson­ders aber die Patho­logen und Chir­urgen werden irgend­wann zu Zyni­kern, weil sie im Men­schen nur das Fleisch sehen. Je besser sie ihre Tätig­keit als Ärzte aus­üben, desto klarer ver­stehen sie die Funk­tionen des Flei­sches, jedoch nicht die Beschaf­fen­heit des Menschen.

 

n.: Ist das eine Par­al­lele zur Literaturwissenschaft?

 

T.T.: Absolut. Die Ana­lyse stört bekannt­lich die Har­monie. Das ist eine Wahrheit.

 

n.: Kann des­halb ange­nommen werden, dass Schrift­steller eine beson­dere Spe­zies sind? Wenn ja, was für Men­schen sind sie und wie sollten ihre Werke am besten gelesen werden, um ver­standen zu werden?

 

T.T.: Nein, sie sind keine spe­zi­elle Art von Men­schen. Ich denke, dass alle Men­schen sich durch ihre Fähig­keit zum künst­le­ri­schen Schaffen von den Tieren unter­scheiden und mit dieser Tätig­keit Gott nach­ahmen. Win­zige, nur sehr beschränkte Mög­lich­keiten des Schaf­fens wurden auch Tieren zuteil. Dagegen hat jeder Mensch unbe­schränkte künst­le­ri­sche Mög­lich­keiten, was man beson­ders gut an Kin­dern beob­achten kann. Aus der Per­spek­tive des Erwach­senen erscheinen diese Fähig­keiten als Talente. Durch die äußeren Umstände können Talente erstarren, die Fähig­keit zum künst­le­ri­schen Schaffen ver­schwindet dann.
Kunst bedeutet die Trans­for­ma­tion des schöp­fe­ri­schen Flusses in ver­schie­dene Formen. Dichter formen den künst­le­ri­schen Fluss in Worte um, Maler in Farben. Gra­pho­manen dagegen haben keine Kon­trolle über den künst­le­ri­schen Fluss, sie sind glück­liche und unglück­liche Men­schen: Aus ihnen fließt das Lied nur so heraus und sie ver­stehen nicht, dass nicht jedes Lied wie Wasser aus der Lei­tung fließen soll.

 

n.: Nehmen Sie in den Gesprä­chen mit den Stu­die­renden, die in unserer post­mo­dernen Gegen­wart auf­ge­wachsen sind, einen Unter­schied bei der Her­an­ge­hens­weise an Lite­ratur wahr?

 

T.T.: Beschäf­tigt sich ein Mensch mit Phi­lo­logie bzw. mit Lite­ra­tur­wis­sen­schaft, so bedient er sich ver­schie­dener Methoden, die sich nicht zwangs­läufig im Wege stehen – wie im Sport­un­ter­richt, wo man Sprinten und Hoch­sprung neben­ein­ander prak­ti­zieren kann. Es gibt Men­schen, die nicht fähig sind, weiter zu bli­cken als zu dem, was man ihnen gezeigt hat. Junge Men­schen sollten in der Lage sein, unter­schied­liche Dinge zu tun, weil jede Auf­gabe aus ver­schie­denen Blick­win­keln betrachtet werden kann. Ich könnte mich auch mit der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft befassen, das hin­dert mich jedoch am Schreiben, an und für sich ist es jedoch eine sehr amü­sante Beschäf­ti­gung, die eine große Band­breite an Schulen, jedoch auch an Blöd­sinn umfasst. Das kommt vor. Manchmal lese ich, was Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler so schreiben. Sobald eine kalte, sinn­ent­leerte Ana­lyse anfängt, sehe ich sofort, dass dieser Mensch nicht lesen kann und es nicht mag. Es ist ihm gleich, wor­über geschrieben wird. Die Hal­tung, die hier durch­scheint und die ich sowohl bei den deut­schen Stu­die­renden als auch in Ame­rika beob­achtet habe, ist erschreckend.

 

n.: In Ihrem Roman Kys (2000) finden wir Ele­mente, die cha­rak­te­ris­tisch für die post­mo­derne Lite­ratur sind: Inter­tex­tua­lität, eine künst­lich kon­stru­ierte Sprache…

 

T.T.: Man kann es als Post­mo­der­nismus bezeichnen, muss aber nicht. Als ich den Roman schrieb, hatte ich keine Vor­stel­lungen davon, dass in dieser Zeit so etwas wie eine Post­mo­derne erfunden wurde. Ich erin­nere mich genau an ein Ereignis im Jahre 1988, als ich in Ame­rika an einem Sla­wis­ten­kon­gress teil­nahm. Jemand erwähnte das Wort Post­mo­der­nismus, der Rest der Betei­ligten konnte damit nichts anfangen. Und ich habe kurz davor dar­über gelesen, so hatte ich eine vage Vor­stel­lung dar­über und musste es erklären. Heute ver­wenden alle ame­ri­ka­ni­schen Sla­wisten diesen Ter­minus. Es ist wie bei dem Prot­ago­nisten aus 3 Männer im Boot von Jerome K. Jerome, der ein Medi­zin­le­xikon gelesen hat und sofort sämt­liche Krank­heiten an sich ent­deckte. Post­mo­der­nismus kann man überall finden, selbst in einem antiken Text. Die Kultur ist durch das peri­odi­sche Auf­tau­chen von Rast und Pause gekenn­zeichnet, man setzt sich hin und erin­nert sich, wel­chen Weg man gegangen ist. So ent­steht ein Post­mo­der­nismus. Solange die Bewe­gung statt­findet, ent­steht auch eine Art natür­li­ches Fließen…

 

n.: Ein gesunder lite­ra­ri­scher Prozess?

 

T.T.: Ja, solange man sich in einem schöp­fe­ri­schen und krea­tiven Zustand befindet.

 

n.: Kys ist eine Anti­utopie, in der Ereig­nisse nach einer ato­maren Kata­strophe geschil­dert werden. Sie betonten in Ihren Inter­views, dass mit dieser die Okto­ber­re­vo­lu­tion gemeint ist. Die sowje­ti­sche Ver­fas­sung war, wenn wir uns nicht irren, die demo­kra­tischste über­haupt. Ist Ihrer Mei­nung nach die Staats­form Demo­kratie utopisch?

 

T.T.: Ja, mit der ato­maren Kata­strophe ist die Revo­lu­tion, jeg­li­ches revo­lu­tio­näre Geschehen gemeint. Was bedeutet Demo­kratie? In Russ­land gab es nie­mals eine Demo­kratie und es wird sie dort nie­mals geben. Russ­land lebt nach dem Prinzip „der Affe und die Brille“. Der Affe ist zwar im Besitz der Brille, er trägt sie jedoch auf seinem Schwanz. Bei einem Regime, wo der Par­la­ments­spre­cher Boris Gryzlov sich streng dar­über äußert, dass das Par­la­ment kein Ort für Dis­kus­sionen sei und dann über lange Jahre der Vor­sit­zende bleibt… da weiß ich nicht, an wel­chem Ort der Affe seine Brille trägt. Russ­land ist ein sol­ches Nest, eine Banja, eine Sauna, wo man sitzen und dar­über dis­ku­tieren kann, wo und bei wem Demo­kratie, Fort­schritt, Kor­rup­tion und Bil­dung exis­tieren. Die einen liegen im warmen Wasser, die anderen klap­pern mit den Zähnen im kalten. Aber in Wirk­lich­keit ist alles ganz anders beschaffen. Im Grunde gibt es doch über­haupt keinen Ort, an dem Demo­kratie nach heu­tigem west­li­chen Ver­ständnis in Rein­form exis­tiert. Wenn Demo­katie nur all­ge­meine Gleich­stel­lung oder ein­fach Chaos bedeutet, dann darf es sie nicht geben. Was die Mensch­heit heut­zu­tage ver­sucht, ist, der in der Natur ange­legten furcht­baren – und heute für unge­recht gehal­tenen – Ungleich­heit ent­ge­gen­zu­wirken. Dieser Pro­zess ist demo­kra­tisch. Man ver­sucht, die Men­schen ein­ander weit­ge­hend gleich­zu­stellen. Aber auch wenn dieses Prinzip immer wieder ange­wendet wird, so kann es doch nie voll­ständig rea­li­siert werden. Als Bewe­gung ist Demo­kra­ti­sie­rung sinn­voll und ver­nünftig, und zwar einzig und allein des­halb, weil jede Gegen­be­we­gung gro­tesk wäre.

 

n.: Also ist die nega­tive Seite dieses im All­ge­meinen posi­tiven demo­kra­ti­schen Pro­zesses die Gleich­stel­lung in allen Sphären. Warum wäre das schlecht?

 

T.T.: Es gibt ein Mär­chen: „Wie der Fuchs den Käse teilte“. In diesem Mär­chen fanden zwei Bären ein rundes Stück Käse und beschlossen diesen in zwei Hälften zu teilen. Sie haben es geschafft, aber ein Stück war größer als das andere. Sie wollten jedoch zwei gleiche Stücke. Und da kam zufällig der Fuchs und bot seine Hilfe an. Und diese Dumm­köpfe waren ein­ver­standen. Und der Fuchs teilte so: Mal biss er von einem Stück ab, mal von anderen. Bis er beide auf­ge­gessen hatte. Und des­wegen ist die all­ge­meine Gleich­stel­lung schlecht. Jedes Mal wenn die Men­schen anfangen, dafür zu kämpfen, alles im glei­chen Anteil zu bekommen, kommt immer irgendein Fuchs von der Seite und nutzt das aus. Der Fuchs kann alles Mög­liche sein. Zum Bei­spiel die Zeit, die ein­fach jeden Sinn der Gleich­stel­lung ver­nichtet. Die Men­schen sollen im Grunde nicht gleich sein: Es exis­tieren ver­schie­dene Bedürf­nisse und Nöte. Als Ideal gilt nicht die Gleich­stel­lung, son­dern die Befrie­di­gung der Bedürf­nisse der Men­schen, was aber auch unmög­lich ist. Ich könnte auch das Bedürfnis haben, den ganzen Reichtum der Welt zu besitzen. Gebt es mir, aber nicht den anderen. Ich habe halt diesen Wunsch. Ihn befrie­digen sollte man aber nicht. Der Mensch spricht von Gleich­heit, wenn er auf den Nach­barn schaut. Wenn er alleine sitzt, ist von Gleich­heit keine Rede.

 

n.: Können Sie die Gefahren für die Kultur konkretisieren?

 

T.T.: Bei­spiels­weise poli­ti­sche Kor­rekt­heit. Die Scheu, bestimmte Worte zu ver­wenden und bestimmte Dinge zu erör­tern. Ges­tern nannte ein Stu­dent meines Semi­nars das Wort, helfen Sie mir auf die Sprünge…

 

n.: Ent­ar­tung.

 

T.T.: Er sagte dieses Wort, hatte aber die Scheu, es ins Eng­li­sche zu über­setzen, so erschro­cken war er dar­über, dass es schlechte Wörter gibt, die besser nicht aus­ge­spro­chen werden sollten.
Die Grenze zwi­schen dem Wort als Vor­stel­lung und dem Wort als Ausruf zum Han­deln, zum Töten, zum Ver­nichten ist ver­wischt. Hier zeigt sich die nega­tive Seite von poli­ti­scher Kor­rekt­heit. Wie soll über die schreck­li­chen Kon­se­quenzen des Gebrauchs von Wör­tern in einer bestimmten Epoche gespro­chen werden, wenn die Angst vor­herrscht, bestimmte Wörter auszusprechen?
Im Großen und Ganzen ist es gleich, welche Prin­zi­pien für den Aufbau der Gesell­schaft gelten sollen, weil so oder so das Gegen­teil raus­kommt. Anstatt im Osten, zeigt sich das Gegen­teil im Süden. Nicht im Süden, dann im Westen, nicht auf dem Tisch, so unter dem Bett. Dem kann man nicht ent­fliehen, weil man nicht alle Inter­essen gleich­zeitig berück­sich­tigen kann. Und so sitzen wir hier und haben ein Dach über dem Kopf, Nah­rung und Geld. Aber Mil­li­arden von Men­schen leben unter fürch­ter­li­chen Bedin­gungen. Wir werden jetzt nicht los­rennen, um die Mil­li­arden zu retten, nicht wahr? Warum? Sind wir etwa Bösewichte?

 

n.: Kehren wir zu unserem Fach, der Lite­ratur, zurück. Zur­zeit schreiben Sie an Ihren Memoiren?

 

T.T.: Ja, ich ver­suche es.

 

n.: Was ist die Beson­der­heit dieser Memoiren?

 

T.T.: Im Pro­zess des Schrei­bens darf dar­über nicht geredet werden. Des­halb mache ich das nicht.

 

n.: Frau Tol­staja, Sie mögen das Genre Inter­view nicht, stimmt das?

 

T.T.: Ja, ich mag dieses Genre aus dem Grund nicht, weil die münd­liche Rede in der Regel nicht mit der schrift­li­chen über­ein­stimmt und sie in ihrer ver­schrift­lichten Form einen schreck­li­chen Anblick bietet.

 

n.: Wir wissen aber, dass Sie es lieben zu kochen…

 

T.T.: Ehr­lich gesagt, nein. Kochen ist eine Art das Publikum zu amü­sieren, ich mag es nicht. Ich kann einige Dinge zube­reiten, aber die Auf­gabe, die mir am besten gelingt, ist die Zube­rei­tung von Gerichten in kür­zester Zeit. Des­wegen habe ich mich auf solche Gerichte spe­zia­li­siert, deren Her­stel­lungs­pro­zess nicht länger als zehn Minuten dauert. So etwas ist sicher­lich nicht das, was man eine Liebe zum Kochen nennt.

 

n.: Kochen Sie gerne für sich oder für andere?

 

T.T.: Für andere natür­lich. Für mich sehr selten.

 

n.: Könnten Sie uns ein Rezept geben, das Sie den Sla­wisten unbe­dingt emp­fehlen würden?

 

T.T.: Etwas Unkom­pli­ziertes, nicht wahr? Ich gebe euch ein von mir selbst erfun­denes Rezept. Ein Autoren­re­zept, wie ich finde:
Man nehme einen Lachs, in Scheiben geschnitten und lege diese Scheiben auf eine Platte. Als nächstes kauft man Fen­chel. Die Hälfte des Fen­chels wird wie eine Zwiebel geschnitten und in Wasser gekocht, bis sie auf­weicht. In dieses Wasser gebe man zuerst etwas Salz und Zitro­nen­saft, danach Schlag­sahne. Fette Sahne ver­klumpt nicht vom Zitro­nen­saft. Die ent­stan­dene Sauce schmeckt sahnig-zitronig und riecht nach Anis. Anschlie­ßend begießt man die Platte, auf der sich der Lachs befindet, mit der Sauce und schiebt alles in den Ofen, bis der Lachs fertig ist. Das ganze dauert ca. 15–20 Minuten, die übliche Zube­rei­tungs­zeit für Fisch. Es schmeckt sehr gut, aber beson­ders köst­lich ist es am nächsten Tag kalt zu genießen.

 

n.: Damit kann uns nichts pas­sieren. Danke!