Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

“Ter­ro­ristin in der Terra Inco­gnita der Zwischensprachlichkeit”

„Als ich vor fünf­zehn Jahren nach Deutsch­land kam“, schreibt die Bul­garin Tzveta Sofro­nieva über sich, „kannte ich vier Wörter: »gut«, »kaputt«, »heil« (von »Heil Hitler!«) aus rus­si­schen Kriegs­filmen und »das Sein«, wegen Kant“. Derart aus­ge­rüstet star­tete die 28-Jäh­rige in ihre fünfte Sprache, die sie spie­le­risch lernte, „da sie nicht beab­sich­tigte, im Deut­schen zu bleiben, wie Kinder nichts beabsichtigen“.
Ent­gegen ihrer Absicht ist sie geblieben und spä­tes­tens seit der Aus­zeich­nung durch den Adal­bert-von-Cha­misso-För­der­preis 2009 ist Tzveta Sofro­nieva keine Unbe­kannte im deut­schen Lite­ra­tur­be­trieb mehr. Die Ehrung erhielt die Autorin, die zuvor unter anderem Sti­pen­diatin beim Kul­tur­Kon­takt Wien und der Villa Aurora in Los Angeles war, für ihren 2008 erschie­nenen Gedicht­band Eine Hand voll Wasser, den sie als ersten kom­plett auf Deutsch schrieb.

Eigent­lich hätte das Deut­sche sie zunächst ver­führt, Kurz­ge­schichten zu schreiben, sagt Sofro­nieva in einem Inter­view mit der Süd­deut­schen Zei­tung. Gedichte kamen erst später und für sie selbst über­ra­schend dazu. Inzwi­schen machen Poe­sie­ver­öf­fent­li­chungen den größten Teil ihres Oeu­vres aus, das neben Gedichten auch Kurz­er­zäh­lungen, ein expe­ri­men­telles Thea­ter­stück sowie Essays, Rezen­sionen und Artikel zu den unter­schied­lichsten Themen umfasst. Sofro­nieva schreibt auf bul­ga­risch, eng­lisch und deutsch und über­trägt viele ihrer Texte selbst von der einen in die andere Sprache. Häufig wech­seln diese inner­halb eines Textes unver­mit­telt, was ihren Ruf als Grenz­gän­gerin begründet.
Dass es sich bei der Autorin um eine stu­dierte Phy­si­kerin han­delt, die eine Dis­ser­ta­tion über kul­tu­relle Ein­flüsse auf den Wis­sens­transfer ver­fasst hat, schlägt sich nicht nur in der Vor­liebe für Meta­phern aus dem Bereich der Natur­wissen-schaften nieder. Sofro­nievas Phi­lo­so­phie ist die einer Erklär­bar­keit der Welt, in der Mys­te­rien exis­tieren, jedoch des­halb noch lange nichts unaus­sprech­lich bleibt. „Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ver­bote lehne ich grund­sätz­lich ab“, lautet der unmiss­ver­ständ­liche Stand­punkt der Autorin, für die Schreiben vor allem Erfor­schen bedeutet.
Nur zu gern ver­lassen ihre Gedichte daher das Papier, um als Lite­ra­tur­instal­la­tionen den öffent­li­chen Raum zu bevöl­kern; wie das Gedicht „Zwi­schen“ in einen rie­sigen, begeh­baren Holz­stapel ein­gra­viert oder wie „Taufe“ im Rahmen eines Graf­fi­ti­wett­be­werbs an die Wand gebracht.

Viele von Tzveta Sofro­nievas Texten wurden in digi­talen Zeit­schriften wie der „Tran­script Review“ und auf der von ihr mit­in­iti­ierten Inter­net­platt­form „Kaka­nien revi­sited“ ver­öf­fent­licht. Auf ihrer Home­page stellt sie einen Groß­teil ihrer Texte, häufig in drei Spra­chen, zur Ver­fü­gung – bei Tzveta Sofro­nieva han­delt es sich um eine Autorin, für die das Internet keine Bedro­hung geis­tigen Eigen­tums, son­dern die Mög­lich­keit, Ent­fer­nungen zu über­brü­cken, darstellt.
Als Mit­glied von Auro­polis, einer Platt­form für Mul­ti­me­dia­künstler, expe­ri­men­tiert sie mit Web Strea­ming Poetry, die es ermög­licht, eine vir­tu­elle Gleich­zei­tig­keit von Ereig­nissen her­zu­stellen und den Aus­tausch zwi­schen Künst­lern unab­hängig von ihren tat­säch­li­chen räum­li­chen Ent­fer­nungen zu orga­ni­sieren. 2006 prä­sen­tierte Sofro­nieva ihren bul­ga­risch­spra­chigen Gedicht­band „Wahr/nehmungen“ zeit­gleich mit einem Kon­zert der Bel­grader Künst­lerin Manja Ristić und den Lesungen von vier wei­teren AutorInnen in London, Bel­grad, Sofia, Paris, Prag, Berlin und Washington DC – für den Zuschauer ein phan­tas­ti­sches Sich-Ergänzen von Kunst­formen und Künst­lern, die sich per­sön­lich noch nie getroffen hatten.

Das Über­winden von Ent­fer­nungen ist auch für Sofro­nievas Texte pro­gram­ma­tisch. Es wird gereist, gewan­dert, Berge werden erklommen und Meere durch­schwommen. Erzäh­lungen tragen die Namen „Berlin-Sofia-Berlin“ oder „Reise in die Ein­sam­keit“ – „Der Mensch geht und kommt, um wieder zu gehen.“, lautet ein Vers aus dem Gedicht „Ein unbe­kanntes Wort“.

Sofro­nievas genaue Beob­ach­tungs­gabe, die Radi­ka­lität, mit der sie weit aus­ein­ander lie­gende Sach­ver­halte eng­führt und ihr Sprach­witz finden in ihrer Lyrik ins­ge­samt einen prä­gnan­teren Aus­druck als in ihrer Prosa, die zum Teil sta­tisch wirkt.
Die Gedichte ver­sam­meln Reime aus bul­ga­ri­schen Kin­der­lie­dern und phy­si­ka­li­sche Fach­be­griffe; che­mi­sche Reak­tionen sind zugleich emo­tio­nale Expe­ri­mente und die Ver­wand­lung der Ele­mente inein­ander zielt auch auf die Über­setz­bar­keit von Spra­chen und Erfahrungen.

1992 erschien Chi­cago Blues im Sofioter SPO-Verlag, Sofro­nievas erster Gedicht-band, der bul­ga­ri­sche und eng­li­sche Gedichte ver­sam­melt. Unter den wei­teren fünf Gedicht­bänden befindet sich mit dem 1999 erschie­nenen Gefangen im Licht, erneut eine zwei­spra­chige Publi­ka­tion, die diesmal den bul­ga­ri­schen Gedichten ihre deut­sche Über­set­zung gegen­über­stellt. Eine Hand voll Wasser, 2008 im Unartig-Verlag her­aus­ge­geben, ist Sofro­nievas erster, kom­plett auf Deutsch geschrie­bener Gedichtband.
Dieser ver­sam­melt 21 Gedichte, von denen einige wenige Zeilen lang sind, wäh­rend andere meh­rere Seiten füllen. Das Wasser, bereits im Titel des Gedicht­bandes prä­sent, taucht leit­mo­ti­visch in fast jedem Gedicht, sei es als Was­ser­glas oder als Ozean, auf. Im Fließen und in seiner Gren­zen­lo­sig­keit wird es an vielen Stellen zum Sinn­bild für die Sprache selbst. Panta rhei scheint auch das Ent­ste­hungs­prinzip der Gedichte zu sein, die sich in selbst­re­fe­ren­ti­ellen Anspie­lungen kunst­voll auf­ein­ander beziehen und sich häufig mit einem Augen­zwin­kern gegen­seitig zitieren. In einem poe­ti­schen Uni­versum, in dem alles immer­fort in Bewe­gung ist, bilden sich wieder-holende For­meln wie die des „anderen Wortes“, der „Schatten der Worte“ und des „Lichts der Sprache“ – Fix­punkte, um die sich immer wieder neue Gedan­ken­ex­pe­ri­mente gruppieren.
Auch Sofro­nievas poe­ti­sche Sprache hat etwas Rast­loses, Unstetes. Mit Vor­liebe bewegt sie sich über Asso­zia­tionen fort, wobei sie mal äußerst exakt benennt, mal ins Unge­fähre abschweift.
Ein­zelne Silben werden sorg­fältig auf ihre sinn­liche Beschaf­fen­heit hin unter­sucht, pro­be­halber aus­ein­an­der­ge­rissen und zu neuen Worten zusam­men­ge­setzt. Witz und Ironie ihres Schrei­bens gründen sich wesent­lich in einer Unvor­ein­ge­nom­men­heit, die durch die Distanz der Autorin zum ver­wen­deten Sprach­ma­te­rial ermög­licht wird.

„Über das Glück nach der Lek­türe von Scho­pen­hauer, in Kali­for­nien 6.

Über das Glück – ach, wun­der­bares Wort!- lest bei Scho­pen­hauer nach.
Meine Ana­lyse ist laut­ver­glei­chend, nicht objektiv.
Es gibt viele Lücken im Glück, auch ver­rückt und bedrückt ste­cken im luck.
Im Bul­ga­ri­schen wird das Glück, schtastie, oft ver­schluckt, viel sch und t, viel scht,
Schweigen ist im Glück,
auch viel st, Angst, Steine, Stol­pern, Stolz, Stelle, Stop.
Das Phä­nomen schtastie und sein Ver­schlu­cken im Hals
sind so ange­nehm zu erforschen.
Nicht der quä­lende Wunsch nach Glück, son­dern ehr­li­ches Stottern
taucht in den anderen Spra­chen auf.
Hap­pi­ness stol­pert bei dem p.
Glück glu­ckert leise in der Kehle,kasmet, um genau zu sein,
kismet wird es richtig ausgesprochen,
gerinnt und wird sauer bei Auf­be­wah­rung außer­halb des Kühlschranks,
du willst es nicht schlu­cken und fängst an, kon­vul­si­visch zu stottern
bei dem a, ent­spre­chend bei dem i.
Die Behält­nisse zur Auf­be­wah­rung des Glücks sind offenbar von Bedeutung.“

Die Stimme des lyri­schen Ichs ist zumeist weib­lich. Auch in den schrei­benden Frauen und Wis­sen­schaft­le­rinnen der Erzäh­lungen erkennt man häufig Alter Ego der Dich­terin, die in einem Café ihre alte Freundin Frau T. zu sehen glaubt oder eine Poetik der Küsse an einen Fahr­rad­händler schreibt („Von ihrem Kuss kann ich mich noch nicht erholen. Und auch zu dichten nutzt hier wenig.“). Die Liste weib­li­cher Attri­bute: Höhe der Absätze, Farbe der Bett­wä­sche, Blumen in der Vase. Das klingt zunächst ein­fach, doch bei genauerem Hin­sehen wird hier mit durchaus femi­nis­ti­schen Unter­tönen um Recht und Gleich­be­rech­ti­gung gekämpft; ist es bei Sofro­nieva Pene­lope, die über die Meere fährt: „Das Ioni­sche Meer erkennt mich,/ und alle Reisen von Odys­seus bin ich schon gereist, und habe den Zorn Posei­dons nicht geweckt,/ womit auch?-/ und keiner wartet auf mich in Ithaka,“. Häufig werden die klas­si­schen Rollen der Mutter, Ehe­frau und Geliebten in arche­ty­pisch klin­genden Kon­stel­la­tionen wie „Die Berge, ein Mann, eine Frau“ oder „Der alte Mann, das Meer, die Frau“ scheinbar affir­miert, um letzten Endes doch ad absurdum geführt zu werden. Die Frau und ihr Anders­sein sind stän­diger Stör­faktor im Män­ner­idyll, das poin­tiert und mit fast jelin­ek­scher Lakonie beschrieben wird: „Wer hat ihn beauf­tragt, die Berge zu durchwandern?/ Nie­mand. Und genau das macht das Recht des Mannes aus.“

Die Erfah­rungen, die Sofro­nieva beim Dichten in fremden Spra­chen machte, führten zur Grün­dung des Netz­werkes „Ver­bo­tene Worte“, das lite­ra­ri­sche und wis­sen­schaft­liche Pro­jekte ver­eint, die sich mit dem Gedächtnis der Worte, der Macht der Erin­ne­rung in der Sprache bei inter­kul­tu­rellen Begeg­nungen und mit der Mehr­spra­chig­keit auseinandersetzen.
Der kon­krete Aus­löser war für Sofro­nieva, wie sie im Vor­wort der Antho­logie Ver­bo­tene Worte schreibt, dass eines ihrer Gedichte über Sprache mit dem bul­ga­ri­schen Titel „Heimat“ in der deut­schen Über­set­zung nicht so heißen durfte. „‚Seele’ und sogar ein Wort wie ‚Groß­mutter’ stießen auf Skepsis und Ableh­nung, ‚Gott’ wurde aus­schließ­lich der christ­li­chen Reli­gion zuge­ordnet; ‚Trost’, ‚Sehn­sucht’, ‚Elite’, ‚Bega­bung’ klangen suspekt“, erin­nert sich die Autorin. Aus Gesprä­chen mit befreun­deten AutorInnen über dieses Phä­nomen, ergaben sich bald erste Texte, die schließ­lich in der Antho­logie Ver­bo­tene Worte ver­sam­melt wurden. Diese Publi­ka­tion wurde zum Aus­löser wei­terer Ver­öf­fent­li­chungen, Sym­po­sien und Work­shops, die sich mit der Frage aus­ein­an­der­setzten, inwie­fern Worte in Ost- wie West­eu­ropa poli­tisch und ideo­lo­gisch belastet sind und was beim Zusam-men­treffen von sprach­li­chen Bil­dern in der Mehr­spra­chig­keit passiert.

Mit der Über­setz­bar­keit von Worten, aber auch von den Erfah­rungen und Gefühlen, die dahinter stehen, ist man indes zum Kern von Sofro­nievas poe­ti­schem Nach­denken gelangt. Wenn Worte für bestimmte Gefühle in einer fremden Sprache nicht zur Ver­fü­gung stehen, stellt sich die Frage, ob die ent­spre­chenden Gefühle exis­tieren. „Sprache hat viel mit Grenzen zu tun“, schreibt Sofro­nieva in ihrem Essay „andere (W)Orte“: „Spra­chen haben auch eine beson­dere Eigen­schaft: einer­seits kennen sie keine Grenzen, sind gren­zenlos, sowohl in der Suche nach Benen­nung, als auch, weil sie flie­ßend inein­ander über­gehen; ande­rer­seits können sie gerade Grenzen setzen, schaffen.“ Die Sprache kann kul­tu­relle Kluft und Brücke zugleich sein, es gibt eine flie­ßende Grenze zwi­schen dem „Nicht-Ver­stehen-Können“ und dem „Nicht-Ver­stehen-Wollen“. Ein Ausweg aus diesem Dilemma ist die Zwi­schen­sprach­lich­keit, die einen „Zustand der Frei­heit“ dar­stellen kann, wie Ilma Rakusa in ihrer Lau­datio zur Ver­lei­hung des Cha­misso-Preises formulierte.
Die Rolle der Ver­mitt­lerin zwi­schen den Spra­chen und Kul­turen, wie es in der Aus­schrei­bung des Preises heißt, der ja selbst zuneh­mend kon­tro­vers dis­ku­tiert wird, weist Sofro­nieva jedoch von sich, vor allem den Zwang von außen, eine lite­ra­ri­sche Brü­cken­funk­tion zu über­nehmen. Als Ant­wort auf jeg­liche poli­ti­sche Ver­ein­nah­mungs­ver­suche würde die Autorin ver­mut­lich ein­fach auf ihre Lyrik ver­weisen, wo es unmiss­ver­ständ­lich heißt:

„Und
lasst es in Frieden weiterziehen,
das Wasser,
und lasst sie in Frieden wei­ter­ziehen und wandern,
die Sprache,
und lasst mich in Frieden
weiter
ziehen,

lasst mich in Frieden weiterziehen,
in Frieden wei­ter­ziehen und wandern.“

 

Illus­tra­tion von Nastasia Louveau