Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Svet­lana Alek­si­jevič liest und spricht beim ilb über die Afghanistankriege

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Svet­lana Alek­si­jevič kommt aus Weiß­russ­land, jenem Land, in dem sie schon länger nicht mehr leben will und in dem die Men­schen in den letzten Wochen und Monaten im Pro­test gegen das auto­ri­täre Regime Lukaschenkos zu selt­samen Aktionen zusammen gekommen sind: um in die Hände zu klat­schen zum Bei­spiel oder um ihre Handys gemeinsam klin­geln zu lassen. Viel­leicht ist dies auch ein Grund dafür, dass sie seit über zehn Jahren kein neues Buch mehr geschrieben hat. Für ihre Lesung auf dem Inter­na­tio­nalen Lite­ra­tur­fes­tival Berlin, das in diesen Tagen über die Bühne geht, hatte sie so im Gegen­satz zu anderen Ver­an­stal­tungen jedoch den Vor­teil, nicht ihre neu­este Publi­ka­tion ver­markten zu müssen.

Svet­lana Alek­si­jevič, die 1998 den Leip­ziger Buch­preis für Euro­päi­sche Ver­stän­di­gung erhielt, hat sich durch ihre Uner­bitt­lich­keit als Kri­ti­kerin des Krieges einen Namen gemacht. Ihre doku­men­ta­ri­schen Bücher wagen sich an die Front der Erin­ne­rung und lassen Hun­derte von Stimmen in mög­lichst unver­fälschter Form zu Wort kommen. Das fing bereits zu Sowjet­zeiten an. Ihr erstes Buch Der Krieg hat kein weib­li­ches Gesicht (dt. 1987, russ. U vojny ne ženskoe lico, 1985) wurde noch in der DDR ver­öf­fent­licht und als Teil des „anti­fa­schis­ti­schen Wider­stands“ ver­standen: „Die Frau klagt den Faschismus an.“ (1987, S. 16). Sie doku­men­tiert darin den 2. Welt­krieg als ersten Krieg mit mas­sen­hafter weib­li­cher Betei­li­gung und ver­sucht diesen weib­li­chen Kampf in einem männ­li­chen Krieg in die kol­lek­tive Erin­ne­rung ein­zu­schreiben. Sie doku­men­tiert den uner­hörten Wunsch junger Mäd­chen, zu kämpfen, ver­lo­rene Väter und Ehe­männer zu rächen: „Die Wahl zwi­schen Leben und Tod erwies sich für viele als so ein­fach wie das Atmen.“ (1987, S. 33). Alek­si­jevič könnte das geis­tige Ober­haupt der „Sol­da­ten­mütter von St. Peters­burg“ sein, die in Russ­land schon lange zu den wich­tigsten zivil­ge­sell­schaft­li­chen Orga­ni­sa­tionen des Landes gehören: die Mutter der Mütter. Die Beschäf­ti­gung mit dem 2. Welt­krieg setzte sie fort in Die letzten Zeugen (dt. 1989, russ. Pos­lednie svi­de­teli, 1985), einem Buch, das den Kriegs­kin­dern gewidmet ist, jenen, die im 2. Welt­krieg noch Kinder und schon in den 1980er Jahren die „letzten Zeugen“ waren. Die Unmit­tel­bar­keit der im Kin­des­alter gespei­cherten Ein­drücke soll das im Alter Erin­nerte und Erzählte zu einem „Ori­gi­nal­do­ku­ment“ machen. Dabei sind es Men­schen, die im Rück­blick sagen müssen: „Ich bin immer erwachsen gewesen.“ (1989, S. 16)

Nicht zuletzt gegen den Mythos der Kame­rad­schaft kommen in erzählten Erin­ne­rungen nicht nur die vielen kleinen Asso­zia­tionen zur Sprache, die sym­bo­lisch für das Ganze der Kriegs­gräuel stehen, son­dern auch die nicht aus­zu­mer­zenden psy­chi­schen und kör­per­li­chen Folgen: Schlaf­lo­sig­keit, Herz­klopfen, Schweiß­aus­brüche, Schwindel, Gefühl­lo­sig­keit, nicht zuletzt Schuld­ge­fühle. Das Töten, so erklärt uns Alek­si­jevič, sei eigent­lich ein meta­phy­si­sches Pro­blem: Es inter­es­siere sie, wie Men­schen es recht­fer­tigen, das zu über­nehmen, was eigent­lich Gott oder irgend­einem höheren Prinzip vor­be­halten ist. Ihre para­doxe Auf­gabe könne man also auf einen Nenner bringen: mensch­liche Worte für unmensch­liche Taten finden.
Die Viel­zahl der ange­führten Stimmen braucht es – wie sie im Gespräch sagt –, um ein „epi­sches Bild“, eine „Sym­phonie“ zu erschaffen, die einzig der Kom­ple­xität der Geschichte gerecht werden könne. Diese Sym­phonie oder Poly­phonie führt zur Kürze der Erzäh­lungen; es sind Minia­turen. Alek­si­jevič schreibt eine Prosa der Erschüt­te­rung, die ihr Ziel aber nicht immer erreicht. Der Krieg gene­riert erstaun­liche Bilder, welche von der Erzäh­lerin nur gesam­melt, selek­tiert und geordnet werden müssen. Doch darin liegt auch eine Gefahr. In ihrem Erschüt­te­rungs­willen balan­ciert Alek­si­jevič eben auch an der Grenze zur Lust am Spek­takel, spielt mit dem Rea­lismus des Krieges. Wäh­rend der Lesung zumin­dest ist im Gesicht der Dol­met­scherin eine Betrof­fen­heit zu erkennen, die den anderen Gesich­tern fehlt – dem Mode­rator, der Vor­le­serin der deut­schen Ver­sion, im Publikum. Viel­leicht wusste die Dol­met­scherin ein­fach nicht genau, was sie hier erwartet, wofür sie enga­giert wurde. In ihrem Gesicht, so scheint es zumin­dest, ist die Erschüt­te­rung, auf die Alek­si­jevič zielt, offen sichtbar. Bei anderen aber ver­fehlt sie ihre Absicht sicher­lich auch des­halb, weil sie den Leser von der ersten Seite an abhärtet, vor­warnt, immunisiert.

Alek­si­jevič schreibt Bücher über den Alltag des Krieges, die für uns heute erneut Aktua­lität besitzen, weil der Krieg leider wieder all­täg­li­cher geworden ist – auch mit euro­päi­scher Betei­li­gung. Des­halb ist es kein Zufall, dass sie in Berlin gerade aus dem Buch Zink­jungen. Afgha­ni­stan und die Folgen (dt. 1992, russ. Cin­kovye mal’čiki, 1991) über den sowje­ti­schen Afgha­ni­stan­krieg (1979–1989) liest. Für dieses Buch arbeitet Alek­si­jevič gerade an einer Neu­aus­gabe, in der nicht nur die alten Stimmen, auf denen noch der Druck der Behörden las­tete, son­dern auch „neue freie Men­schen“ zu Wort kommen sollen. Daneben arbeitet sie an einem neuen Buch über das „Ende des roten Men­schen“. Bei den Zink­jungen kommt die Sprache aber natür­lich schnell auf den heute nur offi­ziell für beendet erklärten Afgha­ni­stan­krieg. Die Frage, ob es nicht gut sei, dass die Deut­schen dort heute Straßen, Schulen und Kran­ken­häuser bauen würden, kann Alek­si­jevič nicht beant­worten, stellt aber klar: Das eben sei schon damals das Selt­same eines sol­chen Krieges in den Augen der dort lebenden Men­schen gewesen – sie kommen, töten Frauen und Kinder, zer­stören Brü­cken, Schulen und Häuser, und wenn sie damit fertig sind, dann bauen sie die Straßen wieder auf, errichten neue Häuser, neue Schulen und Kran­ken­häuser. Das sei heute nicht anders. Es handle sich um eine radi­kale „Par­al­lel­welt“, in der es uns nicht gelingen kann, „Ord­nung zu schaffen“. Und dann kommt aus dem Publikum eine span­nende Frage: War der Afgha­ni­stan­krieg zusammen mit Tscher­nobyl (auch hier­über schrieb Alek­si­jevič in Tscher­nobyl. Eine Chronik der Zukunft, dt. 1998, russ. Černobyl’skaja molitva: chro­nika buduščego, 1997)  nicht der Anfang des Zer­falls der Sowjet­union? Natür­lich, ant­wortet Alek­si­jevič, und ich denke, man könnte weiter fragen: Was sagt uns das über unseren heu­tigen Afgha­ni­stan­krieg, zehn Jahre nach seinem Beginn und mitten in einer hand­festen Sys­tem­krise? An dieser Stelle aber ist das Zeit­limit der Ver­an­stal­tung über­schritten und das Gespräch muss abge­bro­chen werden.

 von Roman Widder

 

Aus­ge­wählte Literatur:
Swet­lana Ale­xi­je­witsch. Tscher­nobyl. Eine Chronik der  Zukunft. Ber­liner Taschen­buch Verlag, Berlin. 2011.

Swet­lana Ale­xi­je­witsch. Der Krieg hat kein weib­li­ches Gesicht. Ber­liner Taschen­buch Verlag, Berlin. 2004.

Swet­lana Ale­xi­je­witsch. Seht mal, wie ihr lebt. Rus­si­sche Schick­sale nach dem Umbruch. Aufbau Taschen­buch Verlag, Berlin. 1999.

Swet­lana Ale­xi­je­witsch. Zink­jungen. S.Fischer Verlag, Frank­furt am Main. 1992.

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