Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Im Rausch des Ekels: Szc­zepan Twar­dochs Morphin

Fragt man Opiat-Abhän­gige, wie sie den Rausch­zu­stand nach dem Konsum der Droge erleben, erhält man meist schwer greif­bare und wirre Ant­worten. „Mor­phin“ ist ein sol­ches Opiat. Der auch auf Deutsch erschie­nene Roman des pol­ni­schen Autors Szc­zepan Twar­doch steht dem namen­ge­benden Sucht­mittel in Sachen Rausch­haf­tig­keit in nichts nach. Von der ersten bis zur letzten Seite wird der Leser hin­ein­ge­sogen ins War­schau des Jahres 1939, in eine Welt voll kalten Ekels, scho­nungs­loser Gewalt und fes­selnder Begierde.


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Polen ist von den Deut­schen besetzt. War­schau liegt am Boden. Angst herrscht in den kaputten Straßen und düster hängt die Stim­mung des ver­lo­renen Krieges über den Dächern der Stadt. All dem zu ent­kommen ver­sucht der Held des Romans, ein junger, von Erin­ne­rungen ver­folgter Reser­ve­of­fi­zier, indem er sich den Ver­lo­ckungen des Mor­phins, den Reizen der Frauen und dem Ver­spre­chen von Ruhm hingibt.

Der Lei­densweg des Roman­helden Kon­stanty Wil­leman beginnt mit einem Kater nach einer durch­zechten Nacht, eine weithin bekannte Erschei­nung, der Erzähler jedoch lässt den Leser diesen Zustand fast kör­per­lich erleben: „Schädel. Gestank. Der Schädel will platzen. Die Zunge eine dürre, tote Schnecke, rau. Der Gaumen ver­krustet von ange­trock­netem Schleim. Der Schädel will platzen. Wüste. Gestank.“ Das Dilemma Kon­stanty Wil­le­manns scheint darin zu bestehen, dass er seinen Kater nie richtig aus­schläft, nie los­wird, nie abstreift. Und Szc­zepan Twar­doch wird nicht müde, dar­über in aller Aus­führ­lich­keit zu berichten. Sein Held scheint allem und jedem ver­fallen zu sein. Der beleibten Hure Sala, in deren Bett er sich nicht nur den Ver­lo­ckungen ihres Kör­pers hin­gibt, son­dern auch dem Deli­rium des kleinen Fläsch­chens, dessen Inhalt er sich gemeinsam mit ihr in die Venen spritzt. Ver­fallen ist er auch seiner Frau Hela und seinem kleinen Sohn, die er abgöt­tisch liebt. Von seiner Mutter scheint er min­des­tens genauso abhängig zu sein wie von der Ekstase. Und wenn er von einem Exzess zum nächsten irrt, durch die zer­störten Straßen seiner Stadt, War­schau, ist er nie richtig bei sich, hal­lu­zi­niert und denkt weh­leidig an ver­gan­gene Zeiten.

 

Im Kampf gegen sich selbst und die deut­schen Besatzer

twardoch_morfina_coverDer Autor macht es sich hierbei zur Auf­gabe, den Selbst­hass und die Zer­ris­sen­heit des Helden wie eine klaf­fende, eit­rige Wunde vor dem Leser offen­zu­legen, in scho­nungs­losen Worten, die immer wieder in eine Welt hin­ein­führen, welche jen­seits der sicht­baren exis­tiert. Eine Welt, in der Kon­stanty Wil­le­mann besessen ist, von einem Wesen ver­folgt und geführt zugleich, das ihn aus­er­wählt hat. „Ich bin die schwarze Göttin. Ich spreche in der Zunge der Men­schen und der Engel.“ Als Kon­stanty, Sohn eines deut­schen Schle­siers und einer schle­si­schen Polin, die Auf­gabe bekommt, im pol­ni­schen Unter­grund gegen die Nazis zu kämpfen, ver­sucht er seine Zügel­lo­sig­keit und seine eska­pis­ti­sche Hal­tung abzu­legen. Doch diese Ver­än­de­rung wird von immer schmerz­haf­teren Erin­ne­rungen an die Ver­gan­gen­heit und immer här­teren Zusam­men­stößen mit der Gegen­wart begleitet. Er muss nun im Geheim­dienst des Unter­grunds die deut­sche Iden­tität annehmen, sein Land ver­leumden, damit man ihm glaubt. Inner­lich der kämp­fende Pole, äußer­lich der glän­zende Deut­sche in Uni­form, und er gefällt sich in beiden Rollen. Er findet seinen tot­ge­glaubten Vater, der, auf das Hef­tigste vom Krieg ent­stellt, ihm seine Hilfe anbietet. Er beginnt zu töten, der Sache wegen, um seinem Land zu dienen, wie er sich ein­redet. Und doch bleibt er, was er schon zu Beginn des Buches war – hilflos, des­ori­en­tiert und wahn­sinnig. Kein Held, son­dern ein selbst­zer­ris­senes Häuf­chen Elend, der ewig schönen Illu­sion ver­fallen, die der Rausch ihm einst ver­sprach. Eine Figur, die so wenig über sich selbst zu wissen scheint, immerzu ihre Iden­tität zu ergründen ver­sucht und doch immer wieder an Äußer­lich­keiten schei­tert: „Ich bin Kon­stanty Wil­le­mann und mag Frauen, Autos und Mor­phin, ich sitze gern mit bekannten Leuten im Café, ohne selbst bekannt zu sein…“

 

Szc­zepan Twar­doch, 1979 in Ober­schle­sien geboren, ist der neue Shoo­ting­star in Polens Lite­ra­tur­szene und gibt in der Öffent­lich­keit gern den her­aus­for­dernden Dandy. Er bezeichnet sich nicht als Pole, son­dern als Schle­sier, und schließt sich damit den Autoren und Fil­me­ma­chern an, die die kul­tu­relle wie auch his­to­risch-poli­ti­sche regio­nale Eigenart Schle­siens her­vor­heben. Mit Mor­phin hat er ein Werk geschaffen, das in seiner aggres­siven Sinn­lich­keit schon jetzt Lust auf mehr macht:
Pro­vo­kativ und rück­sichtslos, mit einer Vor­liebe für den Genuss, führt er den Leser in das düs­tere Ungetüm von Buch hinein und lässt ihn dort allein. Sobald die Augen sich an die Dun­kel­heit zu gewöhnen beginnen und feine Kon­turen aus dem Schwarz her­vor­treten, dann muss man ver­weilen, kann nicht auf­hören zu lesen und ver­fällt dem Rausch des Mor­phins.

 

Twar­doch, Szc­zepan: Mor­phin. Aus dem Pol­ni­schen von Olaf Kühl. Berlin: Rowohlt, 2014.
Twar­doch, Szc­zepan: Mor­fina. Kraków: Wydaw­nictwo Liter­ackie, 2013.