Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Zwi­schen Traum und Rausch – Erzäh­lungen aus der Tiefe der Imagination

De pro­fundis ist der Titel, unter dem zwölf Erzäh­lungen Viktor Ero­feevs [Viktor Jero­fejew] in deut­scher Über­set­zung erschienen sind. Die von Ero­feev selbst aus­ge­wählten Erzäh­lungen wurden für den Band neu zusam­men­ge­stellt. Der  Groß­teil von ihnen ent­stammt dem 2002 erschie­nenen Erzähl­band Pupok. Rass­kazy kras­nogo čer­v­jaka (Der Bauch­nabel. Erzäh­lungen des roten Wurms), jeweils eine Erzäh­lung der Antho­logie Russkie cvety zla (Die rus­si­schen Blumen des Bösen, Moskau 1998) sowie Šaro­vaja mol­nija. Malen’kie ėsse (Kugel­blitz. Kleine Essays, Moskau 2002). Die Erzäh­lung Mütter und Töchter wird das erste Mal veröffentlicht.

Ero­feev ist auf dem deut­schen Buch­markt längst nicht mehr unbe­kannt. Auf Deutsch sind bis­lang vier Romane von ihm erschienen: Die Mos­kauer Schön­heit (1993), Das jüngste Gericht (1997), Fluß (1998) und Der gute Stalin (2004). De pro­fundis ist nach Leben mit einem Idioten (1991), diese Erzäh­lung wurde sogar als Oper des deutsch-rus­si­schen Pia­nisten und Kom­po­nisten Alfred Schnittke auf­ge­führt, der zweite Erzähl­band, der in Über­set­zung ver­legt wird. Außerdem sind zwei Essay­bände Ero­feevs zugäng­lich, Im Laby­rinth der ver­fluchten Fragen (1993) und Männer: ein Nachruf (2000). Die Über­set­zung der Erzäh­lungen hat auch dieses Mal Beate Rausch besorgt, mit der Ero­feev schon seit 1991 zusam­men­ar­beitet. Seither hat sie alle Über­set­zungen seiner auf Deutsch ver­öf­fent­lichten Werke ange­fer­tigt. Und das nicht ohne Grund. Sie ver­steht es, den von poe­tisch bis frivol geschmacklos chan­gie­renden Ton­fall der Erzäh­lungen im Deut­schen wie­der­zu­geben und ihren pro­vo­kanten Cha­rakter zu erhalten.

 

Teaserbild-Erofeev

De pro­fundisaus der Tiefe – lautet der Titel des Erzähl­bandes, der sich damit auf Psalm 130 des Alten Tes­ta­ments bezieht. Im Wall­fahrts­lied der Bibel ist es ein Ruf aus der Tiefe nach Ver­ge­bung der began­genen Sünden. Wofür, fragt man sich, wird hier um Ver­ge­bung gebeten, und wer bittet wen?
Nach Ero­feevs eigener Dar­stel­lung auf dem 6. Inter­na­tio­nalen Lite­ra­tur­fes­tival in Berlin, sind die zwölf Erzäh­lungen in De pro­fundis einem  Labo­ra­to­rium ver­gleichbar, einem Ver­suchs­feld, auf dem die unter­schied­lichsten Texte zusam­men­ge­kommen sind. Das stimmt inso­fern, als dass Schau­plätze, Per­sonen und der Zeit­punkt der geschil­derten Hand­lungen von Erzäh­lung zu Erzäh­lung wech­seln, was in einem Erzähl­band aller­dings keine Beson­der­heit dar­stellt. Es trifft auch auf die Struktur der Texte zu, die sich durchaus deut­lich von ein­ander unter­scheidet. Meis­tens jedoch trifft man auf einen Ich-Erzähler, der seine Gedanken frei schweifen lässt, was sich auf der Ebene des Textes in scheinbar zusam­men­hangs­losen Anein­an­der­rei­hungen von Themen und einer auf­zäh­lenden oder seri­ellen Struktur wider­spie­gelt. Man gewinnt den Ein­druck, dass die Erzäh­lungen sich trotz ihrer Unter­schied­lich­keit zu einem gewissen Grad durch etwas ähneln: durch ihre Sur­rea­lität und Skur­ri­lität. Die Skur­ri­lität wird vor allem durch die irri­tie­rende Struktur der Erzäh­lungen her­vor­ge­rufen. Auf­fällig ist jedoch auch ihre The­matik. Ähn­lich wie in Leben mit einem Idioten oder Die Mos­kauer Schön­heit findet sich in den Erzäh­lungen neben den Schil­de­rungen sexu­eller Phan­ta­sien und Vor­lieben eine teil­weise stark sexua­li­sierte Sprache. Als Meta­phern zu ver­ste­hende For­mu­lie­rungen wie „deine kind­liche Fotze“ ver­leihen den Texten jedoch keinen ero­ti­schen, son­dern eher einen plumpen Charakter.

Waren die rus­si­schen Buch­cover der bei Zebra E in Moskau ver­legten Bände Šaro­vaja mol­nija und Pupok noch durch pla­ka­tive Umschlag­ge­stal­tungen wie eine bar­bu­sige Frau mit Laser­ka­none oder einen scham­haar­un­ter­legten Bauch­nabel gekenn­zeichnet, fällt die deut­sche Aus­gabe des Berlin Ver­lags wesent­lich zurück­hal­tender aus. Die Erzäh­lungen dagegen haben dank der detail­ge­treuen Über­set­zung ihren Cha­rakter behalten. Nicht selten bewegen sie sich an der Grenze zum Traum oder zum Rausch.

 

Vom Traum zum Rausch

Die titel­ge­bende Erzäh­lung De pro­fundis beginnt mit ein­ge­henden Betrach­tungen der Stadt­pläne Mos­kaus und dem Plä­doyer an einen unbe­kannten Adres­saten, die Stadt besser kennen zu lernen und sich durch eigene Beob­ach­tungen anzu­eignen. Sie wech­selt jedoch schnell in einen kon­kreten Erzähl­strang, die Erleb­nisse eines Bewoh­ners der Stadt. Eben jener wird durch die Laune eines Taxi­fah­rers und eine unvor­her­seh­bare Rei­fen­panne in eine unbe­kannte Gegend ver­schlagen, die in ihrer Wun­der­lich­keit an die Bilder eines Traums erin­nert. „Es gibt in unserer Stadt so etwas wie ver­ges­sene Stadt­teile mit her­un­ter­ge­kom­menen, halb tot aus­se­henden Häu­sern, die nichts­des­to­we­niger reich­lich bevöl­kert sind. Was das für Bewohner sind, wel­cher Art ihre Tätig­keiten, ist schwer zu sagen; ich ver­kehre nicht in sol­chen Häu­sern. Aller­dings ist mir bekannt, dass sich in den Trep­pen­häu­sern Jahre alte Gerüche halten und über dem ganzen Gebiet eine unbe­schä­digt geblie­bene, von einer wun­der­li­chen Feu­er­spitze gekrönte Feu­er­warte thront.“ Die Ent­de­ckungs­reise des nun zu Fuß die Stadt erkun­denden Ich-Erzäh­lers führt ihn an den Aus­lagen im Schau­fenster eines Bestat­tungs­in­sti­tuts vorbei, in wel­chem zwei täu­schend echt aus­se­hende Kin­der­puppen in Holz­särgen um Kund­schaft werben. Seine Stim­mung beim  Beob­ach­tung dieser regel­recht fleisch­li­chen „Todes­pro­pa­ganda“ ver­än­dert sich in dem Moment, als sich der Erzähler seinen Voy­eu­rismus an den Puppen ein­ge­steht und ihm die feh­lende Moral des Beob­ach­teten wie seines eigenen Beob­ach­tens zu schaffen macht. Gleich­zeitig kann er sich jedoch nicht von seiner „Lei­den­schaft“ frei­ma­chen und wertet seinen Voye­rismus positiv als „Cha­rak­ter­merkmal der schöp­fe­ri­schen Per­sön­lich­keit“ auf. Auf der Straße begegnet ihm kurz darauf eine wirk­liche Tote, und hier schlägt der Traum zum Alb­traum um. In eine Woll­decke gewi­ckelt trägt eine Mutter ihre ver­stor­bene Tochter, der jede Ähn­lich­keit mit den bezau­bernden Kin­der­puppen im Schau­fenster fehlt, durch die herbst­li­chen Straßen. Ver­lo­rene Nerven, offene Angst und eine atem­lose Flucht sind seine Reak­tion. Trotz seines Schrecks findet der Erzähler zu seiner ursprüng­li­chen For­de­rung zurück und resü­miert: „Die Stadt ist im Großen und Ganzen sauber und adrett. Es wäre schön, den Kin­dern doch noch das Spa­zie­ren­gehen bei­zu­bringen. Sonst tun sie das nicht. Das ist nicht gut. Darum wirken Tou­risten in den Straßen unserer Stadt ja auch so bizarr.“

In der Erzäh­lung Der Bauch­nabel ist der Ich-Erzähler ein Rei­sender, zu Gast in Tibet, der zutiefst davon über­zeugt ist, in einen Gully gefallen zu sein und dabei eine rät­sel­hafte Krank­heit davon­ge­tragen zu haben. Die Erzäh­lung han­delt von seinem Auf­ent­halt in Tibet und seiner Krank­heit – wie er sie wahr­nimmt. Dass die ihn umge­benden Per­sonen ständig von Höhen­krank­heit und Blau­sucht spre­chen, ist für ihn nicht mehr als eine von vielen unver­ständ­li­chen Beläs­ti­gungen. Für den Leser dagegen ist der Hin­weis durchaus hilf­reich, lässt er doch das poe­ti­sche Kon­zept nicht nur dieser Erzäh­lung erahnen. Brüche und Dis­kon­ti­nui­täten in Gegen­stand und Struktur der Erzäh­lungen sind nicht bloß will­kür­li­ches ästhe­ti­sches Moment son­dern ent­spre­chen der Wahr­neh­mungs­per­spek­tive eines Erzäh­lers, in anderen Erzäh­lungen dem Cha­rak­te­ris­tikum eines Ortes oder dem Ver­hal­tens­codex bestimmter Men­schen. Im Falle des Rei­senden in Tibet ist die Form der Erzäh­lung jeden­falls sym­pto­ma­tisch, her­vor­ge­rufen durch die Höhen­krank­heit. Eine ver­min­derte Sau­er­stoff­sät­ti­gung des Blutes führt zu rausch­haften Wahr­neh­mungs­zu­ständen und Bewusst­seins­stö­rungen, die sich in den alo­gi­schen Zusam­men­hängen und ins leere lau­fenden Gesprä­chen des Textes wider­spie­geln: „Einer feind­li­chen Luft­lan­de­truppe dürfte es nicht leicht fallen, die Stadt von den Chi­nesen zu befreien. Wenn sich tie­ri­sche Laute der Kehle ent­ringen, wenn unten der Urin her­aus­läuft und nachts die Kör­per­tem­pe­ratur sinkt, dann bedeutet dass, ich werde im nächsten Leben ein Tier sein. Eine Seil­winde beför­derte mich unter dem ein­mü­tigen Gelächter der tibe­ti­schen Ver­käufer und Ver­käu­fe­rinnen von Sil­ber­sa­chen an die Erd­ober­fläche – sie hatten allen Grund zur Belustigung.
‚Mit wel­cher Absicht sind sie nach Tibet gekommen?’
‚Um die Wahr­heit zu schreiben. Die Wahr­heit aber ist, das ein­zige tibe­ti­sche Wort, das ich gelernt habe, ist Momo, was auf Rus­sisch Pel­meni bedeutet.’
‚Haben Sie Momo mit Yak­fleisch probiert?’
‚Woher können Sie Russisch?’
‚Sie sind der erste Russe, dem ich bisher in meinem Leben begegnet bin.’”

Ähn­lich sprung­haft und frag­men­ta­risch ist auch die Erzäh­lung Die Macht des Richt­platzes. Die Erzäh­lung setzt sich aus Kind­heits­er­in­ne­rungen eines männ­li­chen Ich-Erzäh­lers, den Bezie­hungs­kon­stel­la­tionen zweier bise­xu­eller Künst­le­rinnen und ver­schie­densten Gedanken über Moskau zusammen, die Absatz für Absatz durch­ein­ander gewür­felt sind. Wäh­rend in der rus­si­schen Aus­gabe der Erzäh­lung von 1998 jeder Absatz mit einer Jah­res­zahl von 1947 bis 1996 ein­ge­leitet wird, fehlt diese Glie­de­rung in der deut­schen Aus­gabe gänz­lich. Der Ein­druck einer scheinbar unmo­ti­vierten Kom­bi­na­tion von Text­frag­menten wird dadurch um einiges ver­stärkt. In De pro­fundis finden sich jedoch auch rea­lis­ti­schere Texte. In einem Gespräch zwi­schen Zug­rei­senden in der Erzäh­lung Im Vor­bei­fahren, ist die Des­ori­en­tie­rung so wohl­do­siert ein­ge­setzt, dass sie gerade noch nicht die Wirk­lich­keits­il­lu­sion des Lesers stört, wohl aber das Gespräch der Rei­senden cha­rak­te­ri­siert. Die Men­schen reden zwar mit­ein­ander, viel stärker jedoch reden sie an ein­ander vorbei, wobei es Ero­feev gelingt, die Situa­ti­ons­komik eines Gesprächs ein­zu­fangen, das durch skur­rile Wie­der­ho­lungen und ein domi­nantes Mit­tei­lungs­be­dürfnis der vier Rei­senden im glei­chen Zug­ab­teil geprägt ist.

 

Moskau und rus­si­scher Alltag – ein fik­tio­naler Bericht

„Für mich ist nicht die Stadt an sich wichtig“, lässt Ero­feev die Prot­ago­nistin in der  Erzäh­lung Mütter und Töchtersagen, „son­dern die Leute um mich rum. Und weil alle Leute, die ich mag, in Moskau leben, ver­än­dert sich für mich die Stadt, je nachdem, was gerade pas­siert.“ Es ist auch ein Bild Mos­kaus, das Ero­feev in seinen Erzäh­lungen als Ver­satz­stück aus den Bil­dern ver­schie­denster Men­schen ent­wirft. Doch besteht kein Zweifel daran, dass es sich um fik­tio­nale Texte han­delt. Also weder um einen Bericht über das all­täg­liche rus­si­sche Leben, noch über eine wie auch immer gear­tete „rus­si­sche Seele“, als was die Erzäh­lungen im Klap­pen­text des Buches vom Verlag ange­priesen werden. Es ist, als ob Ero­feev dies hätte vor­aus­sehen können. So heißt es in Die Macht des Richt­platzes, dem Leser mit dem Zaun­pfahl win­kend: „Moscou, au con­traire, a grand besoin de vous pour aquérire quelque réa­lité. Son seul archi­tecte, c’est vous, même si vous n’êtes pas un pro­fes­si­onnel!“ So sind und bleiben Ero­feevs Erzäh­lungen auf Pro­vo­ka­tion aus­ge­rich­tete ästhe­ti­sche Texte, deren zweiter, nicht minder wich­tiger Archi­tekt im Leser und seiner Ima­gi­na­tion zu suchen ist, wel­cher sich aus einem wirren Sam­mel­su­rium an Ein­drü­cken sein Bild zusam­men­klauben muss.

Am tref­fendsten lässt sich wohl Ero­feev selbst in seiner Zwei­deu­tig­keit para­phra­sieren: Es wäre schön, den Lesern doch noch das Ima­gi­nieren bei­zu­bringen. Sonst tun sie das nicht. Das ist nicht gut. Darum wirken Ero­feevs Texte ja auch so bizarr.

 

Ero­feev, Viktor: De pro­fundis. Aus dem Rus­si­schen von Beate Rausch. Berlin Verlag. Berlin 2006.
Ero­feev, Viktor: Sila lob­nogo mesta. In: Ero­feev, Viktor (Hg.): Russkie cvety zla. Izdatel’skij Dom Pod­kova. Moskva 1998, S. 471–485.
Ero­feev, Viktor: Pupok. Rass­kazy kras­nogo čer­v­jaka. Zebra E. Moskva 2002.
Ero­feev, Viktor: Šaro­vaja mol­nija. Malen’kie ėsse. Zebra E. Moskva 2002.
Ero­feev, Viktor: Leben mit einem Idioten: Erzäh­lungen. Aus dem Rus­si­schen von Beate Rausch und Rüdiger Weh­ling-Raspé. S. Fischer. Frank­furt am Main 1991.
Ero­feev, Viktor: Die Mos­kauer Schön­heit. Aus dem Rus­si­schen von Beate Rausch. Fischer Taschen­buch Verlag. Frank­furt am Main 1993.
Ero­feev, Viktor: Im Laby­rinth der ver­fluchten Fragen: Essays. Aus dem Rus­si­schen von Beate Rausch. Fischer. Frank­furt am Main 1993.
Ero­veef, Viktor: Schenkas The­saurus. In: Ero­feev, Viktor (Hg.): Tiger­liebe. Rus­si­sche Erzähler am Ende des 20. Jahr­hun­derts. Aus dem Rus­si­schen von Beate Rausch. Berlin Verlag. Berlin 1995, S. 321–343.
Ero­feev, Viktor: Das jüngste Gericht. Aus dem Rus­si­schen von Beate Rausch. Berlin Verlag. Berlin 1997.
Ero­feev, Viktor: Fluß. Aus dem Rus­si­schen von Beate Rausch. Aufbau Verlag. Berlin 1998.
Ero­feev, Viktor: Männer: ein Nachruf. Aus dem Rus­si­schen von Beate Rausch. Kie­pen­heuer & Witsch. Köln 2000.
Ero­feev, Viktor: Der gute Stalin. Aus dem Rus­si­schen von Beate Rausch. Berlin Verlag. Berlin 2004.