Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Vom Drei­fach­mord zur Embryonalstellung

MESS Fes­tival Sara­jevo, 29.09.2019. Bobo Jelčić insze­niert „Warum läuft Herr R. Amok?“ von Michael Fengler und Rainer Werner Fass­binder und lässt in der gleich­na­migen Büh­nen­ad­ap­tion des Film­klas­si­kers (“Zašto je poludeo gos­podin R.?”) tief in die intime Welt fra­giler Männ­lich­keit bli­cken, die im post­ju­go­sla­wi­schen Raum von neo­li­be­ralen, markt­wirt­schaft­li­chen Prin­zi­pien bestimmt wird und daran zerbricht.

 

Zu Beginn bereits Irritationen

Die trü­ge­ri­sche Beharr­lich­keit der bür­ger­li­chen Klein­fa­milie bringt Bobo Jelčić gleich am Anfang der Insze­nie­rung gekonnt auf die Bühne: Herr R., seine Ehe­frau und sein Sohn sitzen nah an der Büh­nen­rampe in einem karg arran­gierten und durch den geschlos­senen Thea­ter­vor­hang beengt wir­kenden Büh­nen­raum auf der Couch. Sie bli­cken minu­ten­lang still­schwei­gend in den Publi­kums­saal und lösen mit ihrer schein­baren Geruh­sam­keit Irri­ta­tionen aus. Eine dra­ma­ti­sche Hand­lung mit solch einer Szene der Untä­tig­keit ein­zu­leiten, lässt beim Publikum Fragen auf­kommen und ent­faltet zugleich eine Span­nung, die sich im Thea­ter­saal bemerkbar macht. Dieser minu­ten­lange Still­stand auf der Bühne erzeugt eine selt­same Stim­mung und man ist sich nach einer Weile nicht mehr so sicher, wer hier eigent­lich wen anschaut. Die dadurch evo­zierte und gro­tesk wir­kende Komik zu Beginn der Auf­füh­rung ent­lockt dem Publikum zunächst ein schweres Raunen, bis es zu herben Lachern übergeht.

 

Per­si­flage hege­mo­nialer Männlichkeit

Die Geschichte des Herrn R., gespielt vom ser­bi­schen Theater- und Film­schau­spieler Boris Isa­ković, lässt sich in wenigen Sätzen nach­er­zählen: Der patri­ar­chale Allein­ver­sorger sieht sich unter Druck gesetzt, den Wohl­stand seiner Familie auf­recht­zu­er­halten. Seiner Arbeit als tech­ni­scher Zeichner in einem Archi­tek­tur­büro geht er gerne nach, doch der lang­ersehnte beruf­liche Auf­stieg bleibt ihm ver­wehrt. Sein Chef schürt leere Hoff­nungen, seine Frau macht ihm daraus Vor­würfe und sein Sohn ver­sagt absicht­lich in der Schule, wodurch Herrn R.s väter­lich auto­ri­täre Rolle reni­tent unter­graben wird.

Schnell wird deut­lich, unter wel­cher Dynamik Herr R. leidet: seine uner­füllten Hoff­nungen, seine Aus­tausch­bar­keit und sein sinn­loses Bemühen um ein bes­seres Leben, wel­ches Herr R. in einen Zustand elen­diger Rühr­se­lig­keit ver­küm­mern lässt. Doch Jelčić zeigt durch die Figur des Herrn R. nicht nur, wie die Zer­set­zung eines gesell­schaft­li­chen Sub­jekts durch das neo­li­be­rale Diktat erfolgen kann, son­dern zeichnet par­allel dazu eine fra­gile Männ­lich­keit nach, die an den eigenen Erwar­tungen zerbricht.

 

 

Dis­so­ziale Glanzleistungen

Herr R.s gene­relle soziale Unfä­hig­keit erschließt sich unter anderem auch durch seine Unge­schick­lich­keit im zwi­schen­mensch­li­chen Kon­takt: Wenn die Familie Besuch bekommt, wird Herr R. vom Palaver seiner Nach­barin oder der Freundin seiner Ehe­frau über­tönt. Die Her­ren­witze seiner jün­geren Kol­legen bringen ihn in Ver­le­gen­heit. Herr R.s soziales Schat­ten­da­sein in den dar­ge­bo­tenen ober­fläch­li­chen und lieb­losen Szenen sozialer Inter­ak­tion lassen ihn zunächst in ein vor­teil­haftes Däm­mer­licht rücken, bis man erkennt, dass er gerne Teil dieses sozialen Zusam­men­spiels wäre, jedoch nur durch seine Unbe­hol­fen­heit und Befan­gen­heit nicht in der Lage ist, am infe­rioren Treiben der anderen teilzuhaben.

Die lar­moy­ante Figur des Herrn R. sucht indes zusam­men­ge­kauert auf der Couch Trost in den Reden des amtie­renden ser­bi­schen Prä­si­denten Alek­sandar Vučić, welche aus dem Fern­seher im Wohn­zimmer dröhnen. Sofern Vučić dem Publikum in seiner selbst­ge­rechten Rhe­torik und seinem ver­küm­merten Machismus bekannt ist, erkennt es sofort die Ana­logie zwi­schen dem Poli­tiker und dem Prot­ago­nisten, die Jelčić ful­mi­nant zum Ein­satz bringt. Beide geben leere Ver­spre­chen und werden ihren eigenen Ansprü­chen nicht gerecht. Vučić ver­spricht in seiner Rede aus dem Jahr 2017 bis dato nicht umge­setzte Gehalts­er­hö­hungen, Herr R. den sozialen Auf­stieg seiner Familie.

Herrn R.s jäm­mer­lich erschei­nende Gestalt, mit seiner Unbe­hol­fen­heit und sozialen Unfä­hig­keit, evo­ziert somit viel­mehr Aver­sionen als Mit­leid und man fühlt sich als Rezi­pi­entin dieses Stü­ckes dazu gedrängt, ihn zu dis­kre­di­tieren, anstatt ihn in seinem neo­li­be­ralem Sisy­phus-Dasein zu bemitleiden.

 

His­to­ri­sche Ver­flech­tungen und trans­na­tio­nale Kohärenzen 

Die von Fengler und Fass­binder Anfang der 1970er Jahre dar­ge­stellte Ver­kom­men­heit des gesell­schaft­li­chen Sub­jekts bringt Jelčić mit einem Anspruch trans­na­tio­naler und his­to­ri­scher Ver­flech­tungen auf die Thea­ter­bühne. Die gesell­schafts­po­li­ti­sche Dynamik Deutsch­lands nach dem Zweiten Welt­krieg, die Sta­gna­tion nach dem Wirt­schafts­wunder, und die gespal­tene Gesell­schaft Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre, aus­ge­löst durch soziale Pro­teste, der neuen Ost­po­litik oder den dama­ligen Gene­ra­tionen-Kon­flikten, lässt Jelčić auch für das gegen­wär­tige Ser­bien gelten. Ersicht­lich wird dies vor allem dann, wenn Elvis-Pres­leys „A Little Less Con­ver­sa­tion“ aus den Laut­spre­chern ertönt und sich der Thea­ter­vor­hang öffnet, um eine Iko­no­gra­phie des ehe­ma­ligen Jugo­sla­wiens zu offen­baren: in einem Arran­ge­ment, zusam­men­ge­setzt aus dem Por­trait Titos, einer zwei­spra­chigen über­di­men­sio­nalen Unter­schrift, dem Emblem des Jugo­slovensko Dramsko Pozorište (bei diesem Thea­ter­haus han­delt es sich heute um das Ein­zige in der gesamten Region des ehe­ma­ligen Jugo­sla­wien, wel­ches noch „süd­sla­wisch“ in seinem Namen trägt) und einem Wer­be­plakat für die „Haus­frau“ aus den 1970er Jahren. Die damit ver­bun­denen Erin­ne­rungen lassen an Erwar­tungen und uner­füllte Hoff­nungen auf eine sichere Zukunft denken, die sowohl damals als auch heute das Unver­mögen der poli­ti­schen Eliten aufzeigen.

Bespielt wird dieser Höhe­punkt zudem mit einer cho­reo­gra­phierten Tanz­ein­lage, in der sich alle Figuren auf der Bühne syn­chron zu Pres­leys Welthit bewegen. Aus­ge­lassen geht es auf der Arbeits­feier zu, bis Herr R. durch seine Töl­pel­haf­tig­keit und seinem grenz­über­schrei­tenden Ver­halten gegen­über seinem Chef die gute Stim­mung zu Nichte macht und sich die Fei­er­ge­sell­schaft ver­är­gert in alle Rich­tungen zer­streut. Herr R.s ver­zwei­feltes Agieren und uner­fülltes Streben nach sozialer Aner­ken­nung mündet schließ­lich in dem erup­tiven Drei­fach­mord an seiner Nach­barin, seiner Ehe­frau sowie an seinem Sohn. Trost sucht Herr R. nach dieser grau­samen Ver­zweif­lungstat erneut zusam­men­ge­kauert auf der Couch vor dem Fern­seher. Was am Ende bleibt, ist der lange Schatten von Herrn R.s ver­kom­mener Exis­tenz sowie die frag­men­tierte und mitt­ler­weile kom­mer­zia­li­sierte Iko­no­gra­phie der Sozia­lis­ti­schen Föde­ra­tiven Repu­blik Jugoslawiens.

Jelčić insze­niert den Text mit Ein­satz von starker Bild­sprache, bedeu­tungs­schwan­geren Pausen und direkter Inter­ak­tion mit dem Publikum. Die Glanz­leis­tung der Schau­spie­le­rinnen und Schau­spieler wurde zu Recht mit minu­ten­langen Stan­ding Ova­tions im aus­ver­kauften Natio­nal­theater Sara­jevos belohnt. Und es stellt sich heraus, dass Jelčićs Büh­nen­ad­ap­tion von „Warum läuft Herr R. Amok?“ in der Haupt­stadt Bos­nien und Her­ze­go­winas genauso gut funk­tio­niert wie in der Haupt­stadt Ser­biens – in beiden Län­dern hat die wirt­schaft­liche Trans­for­ma­tion vom Kom­mu­nismus zum Kapi­ta­lismus öko­no­mi­sche sowie soziale Tief­gräben hinterlassen.

 

Zašto je poludeo gos­podin R.? Nach dem Film „Warum läuft Herr R. Amok?“ von Michael Fengler und Rainer Werner Fass­binder, Jugo­slovensko Dramsko Pozorište Bel­grad, Über­set­zung: Jelena Kostić Tomović, Regie: Bobo Jelčić, Dra­ma­turgie: Nataša Gove­da­rica, Bühne: Alek­sandar Denić, Kostüm: Maja Mirković.

Mit: Boris Isa­ković, Nataša Tapuš­ković, Branko Cvejić, Dubravka Kov­janić, Milan Marić, Bojan Dimit­ri­jević, Jelena Stu­pljanin, Vesna Čipčić, Feđa Sto­ja­nović, Pavle Korać, Rade Stojiljković.

 

Wei­ter­füh­rende Links

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