Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Die Hähn­chen­hälf­ten­frau

Über die Unschuld der Wörter, Meta­phern und Por­traits in Olga Mar­ty­n­ovas neuem Roman Mörikes Schlüs­sel­bein

 

Das Fleisch der Lite­ratur sind die Worte. Jedes Buch besteht zunächst in einer Ansamm­lung von schönen, beson­deren oder auf beson­dere Weise ange­ord­neten Wör­tern. Bei Olga Mar­ty­nova finden wir zum Bei­spiel: “Pap­pel­wolle”, “Ein­falls­armut”, “Isa­bel­la­farbe”. Es sind lyri­sche Worte, die selbst schon aus Meta­phern gebaut sind. Mar­ty­n­ovas Vor­liebe für solche Worte ent­spricht dem Ein­druck, dass ihre Prosa uner­schro­cken an die Prä­zi­si­ons­kraft von Meta­phern glaubt: “ver­zwie­beltes Zwie­licht”, “Regen­jazz auf Bana­nen­blät­tern”, “Auf­zieh­zi­trone”. Manchmal sind es Worte, von denen man nicht wusste, dass es sie gibt, oft aber auch solche, die es tat­säch­lich nicht gibt oder die es erst von nun an geben wird:  “Mut­ter­spra­chen­milch”, “Ner­vo­si­täts­würm­chen”, “höh­len­men­schen­pri­mitiv”.

In diesem poe­ti­schen Bereich, wo kodi­fi­zierte Worte, Meta­phern und Neo­lo­gismen nahtlos inein­ander über­gehen, finden sich bei Mar­ty­nova auch eine Fülle wun­derbar ein­präg­samer, kon­zen­trierter Por­traits: Ken­nen­lernen darf man zum Bei­spiel die “Kran­ken­schwester, die kleine Russin mit Haar aus schwarzer Zucker­watte”. Oder ein “Streich­holz­mäd­chen, mit langem Körper und rundem dunklem Kopf; mit etwas her­ab­ge­lau­fenem Schwefel am Nacken seines Zünd­kopfs: das dunkle Haar stramm zum Nacken gezogen.” Manchmal han­delt es sich um stille, foto­gra­fi­sche Bilder: “Viel Gesicht, dessen weiß-rosa Fleisch durch lächelnde Augen beseelt ist, auch der kleine Mund ist so anmutig, dass er zwi­schen der groß­zü­gigen Peri­pherie von Wangen und Kinn nicht ver­loren geht.” Manchmal sind es Bilder gedank­li­cher Kon­zen­tra­tion: “Sein Gesicht war wie eine Win­ter­land­schaft, die man früher als Som­mer­wiese gekannt hatte: ver­traut, aber unzu­gäng­lich.” Und einmal beim Blick in den Spiegel: “ein noch nicht so alter Woody Allen, nur ohne Brille, eine trau­rige rot­haa­rige Tee­kanne.”  Dann wie­derum Por­traits geron­nener bio­gra­fi­scher Zeit: “Mr. White war einst ein Junge gewesen, der aus­schließ­lich aus weißen Zähnen und schwarzen Wim­pern zu bestehen schien. Die Zähne waren zwar immer noch weiß, die Wim­pern lang und die Augen sehn­süchtig, aber er hatte unebene Wangen, eine schiefe Nase und ein schwam­miges Kinn dazubekommen.”

Manchmal finden sich Neo­lo­gismen, Meta­phern und Men­schen in einem ein­zigen Bild wieder: Etwa im Fall der immer wie­der­keh­renden “Hähn­chen­hälf­ten­frau”, oder bei einer anderen mit “Vogel­kno­chen­körper”. Was zeigt sich in dem Zusam­men­spiel von Wör­tern, Meta­phern und Men­schen? Viel­leicht, dass Meta­phern etwas sehr Mensch­li­ches sind, zumin­dest bei Mar­ty­nova. Das wäre der uto­pi­sche Aspekt ihres Schrei­bens, das durch ihr bedin­gungs­loses Bekenntnis zum Lite­ra­ri­schen beein­druckt. Oder sind doch eher die Men­schen meta­pho­risch? Sie beziehen sich immer auf etwas anderes, das sie nicht sind und ohne wel­ches sie nichts wären. „Die Wörter sind unschuldig“ hat Mar­ty­nova in einem Inter­view kürz­lich einmal gesagt. „Wir sind schuldig, wenn wir sie falsch setzen“. Unschuldig sind die Wörter scheinbar nicht zuletzt in ihrem Meta­pho­risch-Sein, von dem sie zu bewahren nicht der lite­ra­ri­schen Ethik letzter Schluss sein kann. Gerade in ihrer unauf­hör­li­chen Unei­gent­lich­keit halten die Wörter den Men­schen scheinbar das Wesent­liche bereit. In Mar­ty­n­ovas neuem Roman Mörikes Schlüs­sel­bein ist einmal die Rede von der „Gefahr, dass der Gedanke in einen fal­schen Körper hin­ein­springt. Die fer­tigen Sätze sind jeder­zeit bereit, einen fri­schen Gedanken zu ver­schlingen. Und eben darin besteht die Arbeit eines Dich­ters, die ver­brauchten Schemen auf­zu­scheu­chen. Sonst würden wir Gedanken denken, die nicht unsere sind; uns Gedanken unter­werfen, die nicht unsere sind; Gefühle emp­finden, die nicht unsere sind.“ Durch die immer meta­pho­ri­schen Wörter Mensch zu werden – das ist die poe­ti­sche Vor­stel­lung vieler kleiner, sich selbst pro­du­zie­render homines fabri. Olga Mar­ty­n­ovas neuer Roman Mörikes Schlüs­sel­bein (Dro­schl, Graz/Wien 2013), der auch das Kapitel ent­hält, mit dem die Autorin im letzten Jahr den Bach­mann-Preis gewonnen hat, knüpft nicht nur in der Hin­wen­dung zur poe­ti­schen Kon­zen­tra­tion in der Prosa direkt an den vor­he­rigen Roman Sogar Papa­geien über­leben uns (Dro­schl, Graz 2010) an. Auch die auf­tre­tenden Per­sonen sind teil­weise die­selben, etwa der depres­sive Bücher­mensch Andreas, mit dem Marina nach 20 Jahren Funk­stille nun wieder zusam­men­lebt. Hinzu kommen zahl­reiche wei­tere, über den Erd­ball ver­teilte Per­sonen, unter anderem der junge Moritz, ein wer­dender Autor, der genauso wie der gerne trin­kende Lenin­grader Dichter Fjodor Stern zum Ko-Erzähler wird. Auch die Ton­lage ist ähn­lich: zugleich witzig und rüh­rend, eine gewisse Schärfe ver­trägt sich dabei gut mit einer außer­or­dent­li­chen Behut­sam­keit im Umgang mit den Cha­rak­teren. Und im Auf­stand gegen eine Geschichte als “Skalar” oder “Vektor” rückt der zwi­schen meh­reren Erzähl­welten hin- und her­sprin­gende Roman erneut ver­zweigte Zeiten ins Bild, die sich über­la­gern und auf­ein­ander ver­weisen. Viel­leicht sollte man also besser sagen: Mar­ty­nova hat ihren ersten Roman wei­ter­ge­schrieben, ein immer weiter aus­ufernder Fami­lien- und Künstler-Roman mit Fort­set­zungs­cha­rakter, der nicht zwi­schen zwei Buch­de­ckel passt. Man kann gespannt sein, ob sie in dieser Form weitermacht.

 

Mar­ty­nova, Olga: Mörikes Schlüs­sel­bein. Graz/Wien: Dro­schl, 2013