Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Der Zer­fall des Atoms – tex­tu­eller Suizid eines Nihi­listen auf Gottessuche

Raspad atoma (dt. Der Zer­fall des Atoms) – hinter diesem Titel ver­birgt sich ein Stück rus­si­scher Exil­li­te­ratur, das hier­zu­lande bisher ebenso unbe­kannt geblieben ist, wie dessen Autor. Es han­delt sich um Georgij Vla­di­mi­rovič Ivanov, einen Petro­grader Lyriker, der vor seinem Ein­tritt in die akmeis­ti­sche ‘Dich­ter­zunft’ den Ego-Futu­risten nahe­stand, und 1922 wie viele andere Mit­glieder der rus­si­schen Intel­li­gen­zija infolge des Bür­ger­kriegs sein Hei­mat­land ver­ließ. Im Pariser Exil als erfolg­loser Dichter ein ärm­li­ches Dasein fris­tend, zuneh­mend in Depres­sion und Alko­ho­lismus ver­sunken, ver­fasste Ivanov 1937 das besagte Werk, das seinen eigenen geis­tigen Ver­fall wider­zu­spie­geln scheint. Tiefer Zynismus und Lebens­ekel ange­sichts der “unmensch­li­chen Anmut und beseelten Gräss­lich­keit der Welt”, abge­löst von trüb­se­ligem Schwelgen in lichten und schmerz­vollen Erin­ne­rungen an eine ver­gan­gene Liebe; infantil-mär­chen­hafte Tier­ge­schichten neben fie­ber­haften Ver­ge­wal­ti­gungs- und Mord­ge­lüsten; Fragen nach der Daseins­be­rech­ti­gung von Kunst und Lite­ratur sowie voy­eu­ris­ti­sche Schil­de­rungen von Szenen in Pariser Pis­soirs – all dies und einiges mehr fügt sich zusammen zu einem ver­stö­rend-fas­zi­nie­renden Panoptikum.

In Form eines gera­dezu bekennt­nis­haften Mono­logs, dessen Duktus an Gogol’s Auf­zeich­nungen eines Wahn­sin­nigen und Dostoevs­kijs Auf­zeich­nungen aus dem Kel­ler­loch erin­nert, ent­hüllt der Erzähler die fatale Wider­sprüch­lich­keit mensch­li­cher Exis­tenz in einer von Ent­frem­dung und Sinn­ver­lust heim­ge­suchten Welt. Wenn­gleich er die Entität einer ‘ewigen Wahr­heit’ kei­nes­falls anzwei­felt, ver­neint er nicht nur die Mög­lich­keit einer wahr­haf­tigen Abbil­dung der Rea­lität durch Lite­ratur und Foto­grafie, son­dern dar­über hinaus die Ver­läss­lich­keit der Rea­lität schlechthin. Die damit ver­bun­dene Unsi­cher­heit gegen­über der eigenen sub­jek­tiven Wahr­neh­mung äußert sich in einer Gleich­zei­tig­keit gegen­sätz­li­cher Wirk­lich­keiten. So über­la­gern sich inner­halb der Nar­ra­tion oft­mals ver­schie­dene zeit­liche Rahmen, Traum- und All­tags­er­leben, als auch real-his­to­ri­sche und fik­tive Ereig­nisse. Dieses vom Dichter selbst zeit­le­bens als „Talent des dop­pelten Sehens“ bezeich­nete Prinzip wird ebenso in Iva­novs später Lyrik ein zen­trales Motiv bilden. Zudem lässt sich jener janus­köp­fige Blick auf die Wirk­lich­keit vor einem wis­sen­schafts­ge­schicht­li­chen Hin­ter­grund betrachten. Infolge bahn­bre­chender Erkennt­nisse inner­halb der Quan­ten­theorie sieht sich die Physik in den 1930er Jahren vor das Pro­blem gestellt, dass in einem mikro­phy­si­ka­li­schen System Phä­no­mene gemessen werden können, die auf die Makro­welt über­tragen undenkbar sind. Die para­doxe Ein­sicht, dass den Atomen sowohl eine Teil­chen- als auch eine Wel­len­ei­gen­schaft inne­wohne, dass die kleinsten Bau­steine der Materie im Zer­fall begriffen seien, führt zu einem radi­kalen Wandel im dama­ligen Realitätsverständnis.

Durch das Ver­wirr­spiel wider­sprüch­li­cher Wahr­neh­mungen täuscht Ivanov äußerst raf­fi­niert dar­über hinweg, dass sein Werk, wel­ches er selbst als „lyri­sches Prosa-Poem“ bezeichnet, in seiner Kom­po­si­tion sehr wohl auf Gesetz­mä­ßig­keiten beruht, die auf­grund ihrer Kom­ple­xität erst bei genauerer Lek­türe augen­fällig werden. Obgleich nicht metrisch orga­ni­siert, lässt der Text doch einige lyri­sche Struk­turen erkennen. Auch domi­niert hin­sicht­lich der Per­sonen eine für die Lyrik cha­rak­te­ris­ti­sche Poly­se­mantik. So wird das ‘Du’, dessen Abwe­sen­heit für den Erzähler das Drama seines ‘Ichs’ dar­stellt, in ver­schie­dener Gestalt her­auf­be­schworen – in Gestalt der ehe­ma­ligen Geliebten, der mytho­lo­gi­schen Figur der Psyche, der eines toten ver­ge­wal­tigten Mäd­chens, in Gestalt der Kunst, des Lebens, Gottes oder des Sinns der Existenz.

Ein beson­deres Merkmal der ideellen und emo­tio­nalen ‘Orches­trie­rung’ des Erzäh­lens ist wie­derum das dyna­mi­sche Wech­sel­spiel ver­schie­dener Text­mo­tive, eine  Technik, die an ein musi­ka­li­sches Ver­fahren der Sym­phonik, die so genannte ‘moti­visch-the­ma­ti­sche Arbeit’ erin­nert: Auf die dra­ma­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung zweier kon­tras­tie­render Motive folgt deren Inein­an­der­fließen, aus dem sich schließ­lich ein gänz­lich neues Motiv formt.

Ähn­li­ches voll­zieht sich, wenn Ivanov in Form von Zitaten und Para­phra­sie­rungen Remi­nis­zenzen an Werke unter­schied­li­cher lite­ra­ri­scher Epo­chen gegen­ein­ander laufen lässt:

“Es scheint ihr (der Seele), als ver­dorre nach und nach alles, was ihr einst Leben spen­dete. Es scheint ihr, als ver­dorre sie selbst. Sie ist unfähig zu schweigen und hat ver­lernt zu spre­chen. Und krampf­ge­schüt­telt blökt sie, wie eine Taub­stumme, die anstö­ßige Fratzen schneidet. ‘Geor­giens Hügel ruh’n in schum­me­riger Nacht’ – will sie klang­voll, fei­er­lich aus­spre­chen, dem Schöpfer und sich selbst zum Preise. Und mit einem Wider­willen, der dem Ent­zü­cken gleicht, mur­melt sie flu­chend hinter dem meta­phy­si­schen Git­ter­zaun irgendein ‚dyr bul ščyl ubešščur’.”

Zwei rus­si­sche Dichter, deren lite­ra­ri­sches Wirken zwei­hun­dert Jahre trennen, erscheinen hier als Ver­treter kon­trärer phi­lo­so­phisch-ästhe­ti­scher Kon­zep­tionen: Puškin als Symbol für dich­te­ri­sche Har­monie und Anmut auf der unzu­gäng­li­chen Seite des ‘meta­phy­si­schen Git­ter­zauns’, auf der anderen Kruče­nych, Sinn­bild für das ‘trans­men­tale Chaos’ der futu­ris­ti­schen ‘Anti­kunst’.

Die Ent­ste­hungs­zeit des Werks fällt in ein Jahr, das die Welt mit ange­hal­tenem Atem erlebt.: 1937. In der Sowjet­union hat der Terror seinen Höhe­punkt erreicht, in Europa beob­achtet man mit großer Besorgnis die welt­po­li­ti­sche Ent­wick­lung. Immer deut­li­cher werden die Anzei­chen für einen neuen Krieg von unab­seh­barem Ausmaß. Ebenso wie die sich gegen­über ste­henden Motive des Lebens und des Traums sind im Bewusst­sein des Erzäh­lers „die Geschichte (s)einer Seele und die Geschichte der Welt“ untrennbar inein­ander ver­flochten, wodurch das Emp­finden der Absur­dität von der Ebene der eigenen Exis­tenz auf eine uni­ver­sale Ebene trans­po­niert wird. Der aus diesem Emp­finden gespeiste Lebens­ekel geht beim Erzähler immer wieder in ein des­il­lu­sio­niertes Sich-Auf­bäumen gegen die „alles ver­schlin­gende Gräss­lich­keit der Welt“ über, eine Hal­tung, die eine Nähe zu exis­ten­zia­lis­ti­schen Kon­zep­tionen erkennen lässt. Nicht umsonst bezeichnet der befreun­dete Schrift­steller Roman Gul’ Ivanov als „den ein­zigen exis­ten­zia­lis­ti­schen Dichter unserer [der rus­si­schen] Lite­ratur“. In Bezug auf den ‘Lebens­ekel’ fällt beson­ders eine the­ma­ti­sche Par­al­lele zu Jean-Paul Sar­tres Roman La nausée ins Auge. Im Gegen­satz zu Sar­tres Prot­ago­nist Antoine Roquentin glaubt Iva­novs lyri­sches Ich aller­dings nicht an einen „Trost durch erdich­tete Schön­heit“, son­dern reagiert mit zer­stö­re­ri­schem Zynismus, indem er – auch wenn sich dies ledig­lich in seiner Ima­gi­na­tion abzu­spielen scheint – einen besin­nungs­losen Mord an einer Pariser Pro­sti­tu­ierten begeht, und schließ­lich die mons­tröse Logik des Absurden an ihre abso­lute Grenze führt: Der Selbst­mord wird zum ein­zigen Mittel, um der Wider­sprüch­lich­keit des mensch­li­chen Dahin­däm­merns zu entkommen.

Eben­jene Wider­sprüch­lich­keit scheint sich auch im lite­ra­ri­schen Schaffen des Autors selbst nie­der­zu­schlagen: Wäh­rend er in Raspad atoma die mora­li­schen und phi­lo­so­phi­schen Suchen einer huma­nis­ti­schen Tra­di­tion der rus­si­schen Lite­ratur fort­führt, bricht er gleich­zeitig mit deren Illu­sionen und den „ver­welkten Ideen der Welt“. Trotz seines uner­bitt­li­chen Nihi­lismus emp­findet Ivanov seinen Schmerz als einen „Teil des gött­li­chen Wesens“, und unter­nimmt den ver­zwei­felten Ver­such „durch das Chaos des Wider­spruchs zur ewigen Wahr­heit vor­zu­dringen, wenn auch nur zu deren blassem Abglanz.“ In einem Brief an Vla­dimir Markov aus dem Jahre 1957 schreibt Ivanov gar, er betrachte den Inhalt seines Poems als zutiefst religiös.

Inter­es­san­ter­weise wird Raspad atoma im selben Jahr wie Sar­tres Roman publi­ziert, näm­lich 1938, wenn auch in einer erheb­lich gerin­geren Auf­lage von nur knapp 200 Exem­plaren. In rus­si­schen Exil­schrift­stel­ler­kreisen ruft Iva­novs Prosa-Poem zudem äußerst gegen­sätz­liche Reak­tionen hervor. Nur wenige zeit­ge­nös­si­sche Kri­tiker bemerken seine lite­ra­ri­sche Ori­gi­na­lität und Bedeut­sam­keit, wie etwa das sym­bo­lis­ti­sche ‘Drei­er­ge­spann’ Merež­kovskij – Gip­pius – Zlobin. So bezeichnet Merež­kovskij Iva­novs Werk als „genial“, Gip­pius betont, dieses wolle keine Lite­ratur sein, mehr noch gehe es über die Grenzen der Lite­ratur hinaus, und Zlobin kon­sta­tiert, Raspad atoma sei „sehr zeit­ge­nös­sisch und für uns, die Men­schen der 30er Jahre unseres Jahr­hun­derts, unend­lich wichtig.“
Mit beson­derer Gering­schät­zung hin­gegen reagiert ein gewisser Vla­dimir Sirin (alias Nabokov), der das Werk auf­grund seiner „dilet­tan­ti­schen Got­tes­suche und banalen Pis­soir­be­schrei­bungen“ als „schlichtweg schlecht“ bezeichnet, ja abschätzig hin­zu­fügt, „Ivanov hätte sich besser nie­mals an der Prosa ver­su­chen sollen“. Ähn­lich negativ fällt auch das Urteil des Schrift­stel­lers Vla­dislav Cho­da­sevič aus, dessen ver­nich­tende Kritik unter den emi­grierten Schrift­stel­lern letzt­lich eine “stille Über­ein­kunft des Schwei­gens“ zur Folge hat.

Dieses Schweigen soll denn auch mehr als ein halbes Jahr­hun­dert andauern. Erst 1994 wird Raspad atoma gemeinsam mit Iva­novs Gesamt­werk in Russ­land ver­öf­fent­licht. Die ein­zige Über­set­zung in eine andere euro­päi­sche Sprache erfolgt im Jahre 2004 durch den ita­lie­ni­schen Sla­wisten S. Guagnelli (La dis­in­te­gra­zione dell’atomo). 2005 erscheint auf dem rus­si­schen Fern­seh­sender Tele­kanal Kul’tura ein doku­men­ta­ri­scher Bei­trag von Il’ja Lajner, der sich erst­mals fil­misch dem Leben und dich­te­ri­schen Wirken Iva­novs widmet, und dessen Titel – Georgij Ivanov. Raspad atoma – sich auf das näm­liche Werk bezieht.

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Buch­cover U‑Faktorija, 2007.

Nicht nur um Raspad atoma in einem Zeit­geist-Kon­text zu ver­orten, son­dern vor allem, um den kaum bemerkten genialen Coup zu begreifen, der sich in Iva­novs umstrit­tenen Werk ver­birgt, lohnt es, fol­genden Hin­ter­grund zu betrachten:
1924 dia­gnos­ti­ziert der fran­zö­si­sche Lite­ra­tur­kri­tiker Marcel Arland eine “neue Krank­heit des Jahr­hun­derts”, an wel­cher der Nach­kriegs­in­tel­lek­tu­elle leide, eine Krank­heit, die von Paul Valery bereits 1919 als Phä­nomen des in einer geis­tigen Krise befind­li­chen “euro­päi­schen Ham­lets” benannt worden ist. Die Glaub­wür­dig­keit einer Lite­ratur, die Anspruch auf eine wahr­haf­tige Ver­bin­dung zur Wirk­lich­keit erhebt, scheint in Frage gestellt. Ange­sichts dieser Sinn­krise ent­wi­ckeln in den frühen 30er Jahren Georgij Ada­movič und andere Schrift­steller der ‘Pariser Note’ ein poe­to­lo­gi­sches Kon­zept, wel­ches ‘lite­ra­ri­sche Fik­tion’ durch eine Schreib­weise ersetzt, die das Ver­fassen eines in seiner Sub­jek­ti­vität evi­denten ‘mensch­li­chen Schrift­stücks’ ermög­li­chen soll. Dieses Kon­zept, das an die bereits in den 70er Jahren des 19. Jahr­hun­dert von Edmond de Gon­court geprägte Idee des ‘docu­ment humain’ anknüpft, for­dert eine Lite­ratur, die auf tra­di­tio­nelle ästhe­ti­sche Ideale zugunsten einer ehr­li­chen Reflek­tion der modernen con­ditio humana ver­zichtet. Der deut­liche Akzent auf Authen­ti­zität bedingt dabei eine Unter­ord­nung for­maler unter inhalt­liche Aspekte, und recht­fer­tigt sowohl ‘Unzu­läng­lich­keiten’ auf der sti­lis­ti­schen Ebene, als auch einen bei­zeiten ‘anti-lite­ra­ri­schen’ Sprach­ge­brauch, der vor obs­zönen und fäkalen Aus­drü­cken nicht zurück­schreckt. Eine „zuver­läs­sige lite­ra­ri­sche Form“ soll sich zudem aus­schließ­lich aus einer Beschrei­bung dessen kon­sti­tu­ieren, was inner­halb der Sphäre des vom Autor selbst Gese­henen, Wahr­ge­nom­menen, Erlebten liege. Hinter dieser sub­jektiv-doku­men­ta­ri­schen Moti­va­tion steht das Bedürfnis, den Ein­druck der Künst­lich­keit eines kon­stru­ierten Textes zu ver­meiden, und durch eine Annä­he­rung lite­ra­ri­scher Ver­fahren an das Wesen der Foto­grafie einen Effekt von ‘Wahr­haf­tig­keit zu erreichen.

Eben­dieser Dis­kurs ist es, der sich in Raspad atoma nie­der­schlägt. Da Ivanov, wäh­rend er ver­meint­lich an poe­to­lo­gi­schen Ver­fahren des ‘mensch­li­chen Schrift­stücks’ im Sinne der ‘Pariser Note’ fest­hält, das vom näm­li­chen Kon­zept ange­strebte Ideal der ‘Wahr­haf­tig­keit’ vehe­ment negiert, ist der Duktus in Raspad atoma als der eines ‘agent pro­vo­ca­teur’ zu sehen. Indem Ivanov dar­über hinaus jene Puškin’sche Ästhetik, der er sich vor­mals ver­schrieben hatte, in den Schmutz zieht, gibt er sich selbst, sowie seinem gesamten vor­he­rigen lite­ra­ri­schen Schaffen buch­stäb­lich ‘die Kugel’. In Iva­novs Erzähler mani­fes­tiert sich der geis­tige Ver­fall eines ‘euro­päi­schen Ham­lets’, der ange­sichts des inneren Wider­spruchs der Idee einer ‘wahr­haf­tigen Lite­ratur’ in teuf­li­sches Gelächter ausbricht.

 

Иванов, Георгий: Собрание сочинений в 3  томах. Том 2: проза. Из-во: “Согласие”.  Москва, 1994.
Dieses Buch wird mitt­ler­weile nicht mehr für den Buch­handel gedruckt, ein­zelne Drucke können beim Verlag bestellt werden.

Иванов, Георгий: Стихи, Проза. Из-во: “У- Фактория”. Серия: “Русская поэзия”.  Екатеринбург, 2007.