Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Von den Vor­zügen der Kanalisation

oder: Auf­zeich­nungen aus dem jugo­sla­wi­schen Untergrund

 

Vla­dimir Arse­ni­jević gehört zu den Kult­fi­guren in der heu­tigen ser­bi­schen Lite­ra­tur­szene, und er ver­dankt diesen Rang seinem phä­no­me­nalen Kar­rie­re­start. Für den 1994 erschienen Roman U pot­palu­blju (Im Unter­deck) erhielt Arse­ni­jević den NIN-Preis – die renom­mier­teste jugo­sla­wi­sche Lite­ra­tur­aus­zeich­nung. Arse­ni­jević war damit der jüngste Preis­träger aller Zeiten, und zum ersten Mal wurde ein Debut-Werk hono­riert. Solche Lor­beeren ver­pflichten. Dies traf auch für Arse­ni­jević zu, zumal er seinen Roman als ersten Teil einer Tetra­logie mit dem Titel Cloaca maxima auf den Markt gebracht hatte. Das Publikum war­tete mehr oder weniger geduldig auf die ver­blei­benden Bände, von denen Arse­ni­jević zwi­schen­zeit­lich nur einen voll­endet hat: Anđela (Angela) 1997. Mexico – ratni dnevnik (Mexico – ein Kriegs­ta­ge­buch) 2000, kann zwar auch als Rea­li­sa­tion der Cloaca maxima gelesen werden, ist als solche aber nicht eigens aus­ge­wiesen. In allen Fällen geht es frei­lich – wie der Hin­weis auf die römi­sche Kana­li­sa­tion nahe­legt – um den selbst­pro­du­zierten Schmutz einer Gesell­schaft, um den Unrat des Krieges, in dem Arse­ni­je­vićs Prot­ago­nisten wohl oder übel aus­harren. Mit Wider­willen und Geschick ent­ziehen sie sich der öffent­lich ange­kur­belten Kriegsmaschinerie.

Die eher schlep­pende Pro­duk­tion bel­le­tris­ti­scher Texte kom­pen­sierte Arse­ni­jević durch ein umfang­rei­ches publi­zis­ti­sches Enga­ge­ment. In dem für ihn so typi­schen, leicht iro­ni­schen Stil argu­men­tiert er gegen die Ver­wer­fungen der Krisen und Kriege, die in den 1990er Jahren zum Unter­gang Jugo­sla­wiens führten. Seine Artikel erschienen in den wich­tigsten euro­päi­schen Zei­tungen, schließ­lich sogar in Buch­form: Jugo­la­bo­ra­to­rija (Jugo­la­bo­ra­to­rium) 2009. Zusammen mit dem Comic-Zeichner Alek­sandar Zograf wagte er einen Aus­flug in das Genre des bebil­derten Romans. Išmail, das gemein­same Pro­dukt von 2004, erzählt von den Erleb­nissen eines 15-jäh­rigen Punk­fans im spät­ti­tois­ti­schen Jugo­sla­wien. Als Mit­glied der Band Los Amstrings brachte Arse­ni­jević mehr als ein Jahr in Mexico zu – das Album Wan­der­lust ging aus dieser Zusam­men­ar­beit hervor –, bevor er mit Pre­dator (Der Ver­räter) 2008 in die klas­sisch fik­tio­nale Lite­ratur und nach Bel­grad zurück­kehrte. Pre­dator gibt sich zunächst als eigen­stän­diger Text, bei näherem Hin­sehen ist aller­dings auch dieses Œuvre in der Cloaca maxima ver­wur­zelt (und könnte des­halb sogar als anar­chi­sche Fort­set­zung der Tetra­logie ange­sehen werden). Nur auf den ersten Blick wird ein ‚fremder‛ Krieg, der ira­kisch-kur­di­sche Kon­flikt, the­ma­ti­siert, alt­be­kannte Figuren, die jugo­sla­wi­schen Akteure aus Anđela, mischen sich jedoch erneut ins Geschehen ein. Arse­ni­jević kennt nichts Ein­ma­liges, Abge­schlos­senes, keine fest­stell­baren und fest­ste­henden Iden­ti­täten, am aller­we­nigsten – so scheint es – natio­nale. Und damit ist schon einiges über die Poetik und Phi­lo­so­phie des Ver­fas­sers aus­ge­sagt. Sie wird pro­gram­ma­tisch in U pot­palu­blju ent­wi­ckelt.

Thema dieser im Bel­grad des Jahres 1992 ange­sie­delten Sei­fen­oper (sapunska opera), so lautet der Untertitel,ist der Rückzug des Ich-Erzäh­lers aus der Öffent­lich­keit, seine anti-heroi­sche Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rung. Er steht hinter der Ein­gangstür seiner Woh­nung, schaut durch den Spion und ver­sucht seine Rekru­tie­rung durch gekonnte Beob­ach­tung des Geg­ners zu ver­meiden. Daneben flüchtet er in Tag­träume und in Drogen, manchmal auch in die Bezie­hung zu seiner Frau Anđela. Anđela erwartet ein Kind und hat ihre frü­here Tätig­keit als Dro­gen­dea­lerin ein­ge­stellt. Der müt­ter­liche Bauch und die Woh­nungstür, sogar T‑Shirts und Bett­de­cken, werden als mög­liche Abgren­zung, als Ver­steck und Schutz der Prot­ago­nisten vor der Außen­welt in Szene gesetzt. Arse­ni­je­vićs Bel­grader suchen dem Krieg aus dem Weg zu gehen, im Abwasser der Gesell­schaft hoffen sie, ganz dem über­ge­ord­neten Titel Cloaca maxima gemäß, auf bes­sere Zeiten. Das gilt sogar für die wenigen Freunde und Ver­wandte des Erzäh­lers, die eine vor­über­ge­hende Iden­tität im Kampf anstreben: Sie melden sich frei­willig, bieten sich aber für belie­bige mili­tä­ri­sche Seiten an: für die Serben ebenso wie für die Kroaten.

Schließ­lich zeigt sich das unter­ir­di­sche Abwas­ser­system, Symbol des Gestanks, aber auch der Flucht- und Rei­ni­gungs­mög­lich­keit in der Form des Textes. Und dies macht gerade den sub­ver­siven, anti­na­tio­na­lis­ti­schen Cha­rakter von Arse­ni­je­vićs Cloaca aus. Eine beson­dere Rolle spielen dabei die Fuß­noten, die meta­poe­ti­sche Anwei­sungen ent­halten und kom­po­si­to­risch besehen eine end­lose Ver­län­ge­rungs- und Ver­än­de­rungs­mög­lich­keit des Textes indi­zieren. Der Roman selbst hält sich damit an die Stra­tegie seines Anti-Helden: Er ver­wei­gert Iden­tität, Ein­heit und Sinn. Bei­spiel­haft für diesen Wider­stand sind auch die gezielten und mit­unter ver­stö­renden Stil­schwan­kungen, mit denen Arse­ni­jević ope­riert: Todes­nach­richten bre­chen in iro­ni­sche Text­pas­sagen ein, Pathos und Witz werden gemischt, die ver­zwei­felten Ver­suche des ehe­ma­ligen Schlag­zeu­gers Dejan – im Krieg hat er einen Arm ver­loren –, in der Gesell­schaft wieder Tritt zu fassen und ein Gewerbe auf die Beine zu stellen, werden mit den Leis­tungen sozia­lis­ti­scher Stoß­ar­beiter ver­gli­chen. Auch fehlt es nicht an pro­fa­nie­renden Situa­tionen: Auf Beer­di­gungen kommt es zu ero­ti­schen Aben­teuern, und wenn so weit noch alles im Rahmen kar­ne­va­lis­tisch vor­ge­tra­gener Obrig­keits­kritik ver­bleibt, so geht die post­mo­derne Auf­lö­sung der Fik­ti­ons­grenzen vor allem am Tex­tende noch einen Schritt weiter. Hier wird klar, dass sich die fik­tio­nalen Ereig­nisse auf anderen ‚wirk­li­cheren‛ Ebenen fort­setzen können. Denn die Appen­dices in Form von Todes- und Aus­wan­de­rungs­an­zeigen, mit denen Arse­ni­jević seine Sei­fen­oper aus­klingen lässt, schreiben gewis­ser­maßen Dejans Geschichte fort. Nach seiner Kriegs­ver­let­zung hatte sich der als Schlag­zeuger nutzlos gewor­dene Freak mit der Créa­tion von T‑Shirts beschäf­tigt. Die Aus­lie­fe­rung der ersten Pro­duk­tion findet jedoch erst nach seinem Selbst­mord statt. Die Appen­dices des Autors ähneln Dejans T‑Shirts, sie kommen zu spät und zer­stören – als Nach­las­sen­schaft aller Toten und Emi­granten – das beru­hi­gende Ende der Geschichte. Mit Der­rida gespro­chen mar­kiert dieses Sup­ple­ment den Abgrund des Seins und die Fra­gi­lität des Sei­enden. Arse­ni­jević, der sich hier als Agent seiner Figur betä­tigt, zer­stört die Ein­heit und Geschlos­sen­heit seines Textes, im Sup­ple­ment ver­weist er gerade auf die Schutz­lo­sig­keit der mensch­li­chen Körper und die Zer­stör­bar­keit ihrer viel­fäl­tigen Panzerungen.

Diese Dia­gnose lässt sich ohne wei­teres auf den nach­fol­genden Band von Arse­ni­je­vićs Cloaca-Tetra­logie über­tragen. Anđela wie­der­holt und prä­zi­siert die Geschichten, auf die uns U pot­palu­blju ein­ge­stimmt hatte. Erneut erscheint Dejan unter den Lebenden, erneut werden wir mit seinem Selbst­mord kon­fron­tiert, erneut wird er beer­digt. Der Krieg, der sich von den kroa­ti­schen Schau­plätzen nach Bos­nien ver­legt hat, flim­mert noch immer über die Fern­seh­schirme. Nach der Bom­bar­die­rung von Dubrovnik und der Zer­stö­rung von Vukovar können die Bel­grader nun fas­sungslos die Bela­ge­rung von Sara­jevo bestaunen.

Gleich­wohl nehmen die pri­vaten Ereig­nisse – und seien sie wie in dem Kapitel Oluja (Sturm) mit mili­tä­ri­schen Aktionen gleich­ge­setzt – in Anđela einen grö­ßeren Raum ein. Die Bezie­hung des Ich-Erzäh­lers zu seiner Frau gewinnt an Kon­turen, wofür nicht zuletzt die Schrei­krämpfe der neu­ge­bo­renen Hana ver­ant­wort­lich sind. Auch eine Lie­bes­ge­schichte zwi­schen Dejans altem Freund Vanja und Lela, einer ver­träumten Gale­rie­an­ge­stellten mit Tor­schluss­panik, wird minu­tiös ent­wi­ckelt. Arse­ni­jević zeigt sich als prä­ziser und sach­kun­diger Beob­achter der Bel­grader alter­na­tiven Szene, als span­nender Erzähler und vor allem als Meister des Stils. Er beherrscht Pathos so gut wie Ironie, wech­selt zwi­schen melan­cho­li­schen Pas­sagen, humor­vollen Anek­doten und obses­siven Auf­zäh­lungen sou­verän ab. Diese Erzähl­weise fas­zi­niert. Sie steht in der Tra­di­tion der ser­bi­schen Lite­ratur von Stevan Sremac bis Danilo Kiš, und ihre ver­meint­lich spie­le­ri­schen Eska­paden oder Lita­neien haben – ähn­lich wie die Wie­der­be­le­bung des öster­rei­chisch-unga­ri­schen Zug­fahr­plans in Kišs Fami­li­en­tri­logie – zum Ziel, die Toten (bei Kiš den in Ausch­witz ermor­deten Vater und ‚Autor‛ des Fahr­plans) nicht zu begraben, son­dern am Leben zu erhalten. Auch Arse­ni­je­vićs Texte mischen sich in Geschichts­schrei­bung und Politik ein.

Beein­dru­ckend ist sein Umgang mit dem „Vor­sit­zenden“ (im Ser­bi­schen immer mit Majuskel geschrieben). Iro­ni­siert, seiner Würde beraubt, den­noch aber auf­sässig dringt Milošević per Fern­seh­bild und dank den Pro­test­ak­tionen einer alternden Schau­spie­lerin namens Marija Pav­lović in den fik­tio­nalen Text ein. Arse­ni­jević nutzt die gezielte Ver­schrän­kung von Phan­tasie und Rea­lität, vor allem das Zitat und die Ekphrasis der (ver­meint­lich doku­men­tie­renden) Fern­seh­bilder zur Ver­un­si­che­rung seiner Leser­schaft. Denn die fik­tio­nale Ver­pa­ckung beraubt Milo­sević seiner Authen­ti­zität, obwohl nicht zu über­sehen ist, dass der „Vor­sit­zende“ zum Zeit­punkt der Text­ab­fas­sung ja noch im Amt war. Miloše­vićs Auf­tritt beraubt aber auch uns, die Leser, einer bequemen Rück­zugs­mög­lich­keit ins Reich des Erdachten. Milošević ist augen­schein­lich omni­pä­sent und Garant der mög­li­chen Rea­lität auch der irre­alsten Hand­lungen. So erzählt Anđela zwar primär von den Sorgen und Lei­den­schaften durch­schnitt­li­cher Bel­grader Bürger, den­noch han­delt es sich um ein ris­kantes, ein kri­ti­sches Buch, das – im Gegen­satz zu U pot­palu­blju –  nur wenige Über­set­zungen, dar­unter ins Däni­sche und Spa­ni­sche, erfahren hat.

In Mexico – ratni dnevnik, eben­falls in däni­scher und dar­über hinaus in alba­ni­scher Ver­sion erhält­lich, wird uns die dritte Phase der mili­tä­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zungen der 1990er Jahre ver­ge­gen­wär­tigt: Die Kämpfe im und um den Kosovo. Das erzäh­lende Ich tritt nun im Namen des Autors auf, als Schrift­steller Vla­dimir Arse­ni­jević, der das NATO-Bom­bar­de­ment von Bel­grad mit­er­lebt, Freund­schaft mit einem alba­ni­schen Autor schließt und auf die Aus­reise nach Mexiko wartet: Zu seinem phy­si­schen Schutz hat man ihm, dem bedrohten Kul­tur­schaf­fenden, ein Sti­pen­dium im Aus­land ver­spro­chen. Der größte Teil von Mexico han­delt also wei­terhin von Bel­grad bzw. von den ver­schie­denen Regionen des zer­fal­lenden Jugo­sla­wiens, durch die sich Vlado schließ­lich nach Mexico auf­macht, um dort den koso­va­risch-alba­ni­schen Schrift­steller Dževdet Bajraj kennen zu lernen. Anđela und Dejan, Marija und Vanja, die Prot­ago­nisten der bis­he­rigen Sei­fen­opern sind ver­schwunden, der gezielte Ein­satz des Autor-Ichs wirkt sich statt­dessen auf eine neue, weniger sei­fen­opern­hafte Form der Cloaca maxima aus. Arse­ni­jević hat ein Gat­tungs­ge­misch kon­stru­iert, das sich an diversen (pseudo-)authentischen Formen des Schrei­bens wie Tage­buch, Brief und emails anlehnt, das Stil­re­gister wird durch die Klage erwei­tert, sogar sar­kas­ti­sche Pas­sagen sind zu erkennen, und doch ist den viel­fa­chen „Doku­menten“ (dar­unter auch offi­zi­elle, wie Radio- und Fern­seh­nach­richten) nicht zu trauen. Wie immer bei Arse­ni­jević  geht es auch in Mexico um die Lite­r­a­ri­zität der Lite­ratur, um das Selbst­ver­ständnis des Schrift­stel­lers. Minu­tiös können wir den Kriegs­ver­lauf nach­lesen, fehl­ge­schla­gene und erfolg­reiche NATO-Manöver erin­nern, wir werden aber – zum Bei­spiel durch Vlados Beteue­rungen, sich dieses Mal par­tout nichts aus­denken zu wollen – ebenso unmiss­ver­ständ­lich an den fik­tio­nalen und roma­nesken Cha­rakter des Werks erin­nert. Nichts ist (wirk­lich) echt, und doch ist alles bedrü­ckend. Diese Irri­ta­tion macht – ähn­lich wie in den Cloaca-Bänden auch – den ‚poli­ti­schen‛ Cha­rakter von Mexico aus. Arse­ni­jević lässt seine Leser im Unklaren und damit in einer äußerst unbe­quemen Unsi­cher­heit zurück.

Sämt­liche Fähig­keiten seines Kön­nens stellt Arse­ni­jević in seinem jüngsten Werk Pre­dator unter Beweis. Die Mon­tage rückt nun stärker in den Vor­der­grund, nicht von unge­fähr wurde das Buch mit Robert Alt­mans Short Cuts ver­gli­chen. Pre­dator setzt sich aus ein­zelnen, zunächst unab­hängig wir­kenden Szenen mit unter­schied­li­chen Prot­ago­nisten zusammen. Bei näherem Hin­sehen zeigt der Text aber eine streng zykli­sche Struktur, und er ver­fügt über viele Quer­ver­bin­dungen. Zen­tral ist das Motiv des Durch- und Über­gangs, es ver­dichtet sich in einem däni­schen Heim für Asyl­be­werber, durch das die meisten Prot­ago­nisten geschleust werden. Die Figuren sind auf der Wan­de­rung, manche auf der Flucht, gejagt von Krieg, Polizei, oder ihren Lei­den­schaften. Ebenso wan­dern sie durch Arse­ni­je­vićs Texte. So treffen wir wieder einmal auf Vanja, den ehe­ma­ligen Sänger und Freund des Schlag­zeu­gers Dejan, den ein eher unge­müt­li­ches Schicksal ereilt. Auch Marija Pav­lović begegnet uns erneut. In der Erzäh­lung Neu­ko­ren­jenost (Wur­zel­lo­sig­keit), die geson­dert in Richard Švarc’ Antho­logie Drugi pored mene (Der andere nebenan) abge­druckt wurde, agiert sie in der Emi­gra­tion, wäh­rend der Ber­liner Mai-Kra­valle des Jahres 1999. Unab­sicht­lich – denn mit der Ber­liner auto­nomen Szene hat die ser­bi­sche Schau­spie­lerin nicht das Geringste zu tun – gerät sie dabei in die Rolle der christ­li­chen Got­tes­mutter. In ihrem Armen stirbt ein Kosovar, der kurz zuvor in einem äußerst rea­lis­tisch geschil­derten Tele­fonat vom Mord an seinem Vater erfahren hat. Marija füllt die gefor­derte Pose pro­fes­sio­nell aus. Das Foto, die neue Pietà, geht um die Welt.

Die Mischung aus Künst­lich­keit und Rea­lismus nimmt in Pre­dator aller­dings ein bestür­zendes Ausmaß an. Denn die post­mo­derne Durch­läs­sig­keit der Grenzen wird hier auch ganz phy­sio­lo­gisch ver­mit­telt: im kan­ni­ba­li­schen Akt. Von dieser (zunächst durch die Not moti­vierten) Lei­den­schaft ist der ira­ki­sche Kurde Nihil Musa Baksi getrieben, um den sich der Kern von Pre­dator – die gleich­na­mige Titel­er­zäh­lung – aber auch die erste und letzte Szene des Werks drehen. Zu Nihils Opfern gehört Vanja, und ob wir ihm im nächsten Buch von Arse­ni­jević wieder begegnen werden, bleibt vor­läufig offen. Fürs erste wird er jeden­falls ver­speist. Sein Gehirn erweist sich als beson­derer Leckerbissen.
Diese detail­lierte Beschrei­bung eines Tabu­bruchs kom­bi­niert mit barock anmu­tenden, augen­schein­lich der ori­en­ta­li­schen Her­kunft des Täters ange­passten Beschrei­bungen (Nihil Musa ist von rei­zendem Äußeren und hat „Augen­brauen wie zwei Halb­monde“), die Über­la­ge­rung von rea­lis­ti­scher Kriegs­do­ku­men­ta­tion und lite­ra­ri­schem Zitat – zwei­fellos hat Arse­ni­jević bei Mil­orad Pavić, dem Barock­spe­zia­listen, gelernt und seinem Pre­dator auch die Struktur von Ivo Andrićs Pro­keta avlija (Der ver­dammte Hof) ein­ver­leibt – wirkt ver­stö­rend. Die Ton­lage hat sich im Ver­gleich zu den ersten Bänden der Tetra­logie geän­dert, vor allem fehlt die Ironie, durch die Arse­ni­je­vićs Leser bis­lang vor den Gräueln des Krieges geschützt worden waren. Nur noch selten greift der Autor auf diese sub­tile Form der Distan­zie­rung zurück (die Erzäh­lung Neu­ko­ren­jenost gehört zu den Ausnahmen).

Vla­dimir Arse­ni­je­vićs schmales Œuvre ist von großer sti­lis­ti­scher Breite und gleich­zeitig: von erstaun­li­cher Kon­sis­tenz. Arse­ni­jević zeigt sich als Meister post­mo­derner Tech­niken, er zeigt vor allem, dass Ironie und Humor, dass Stil­schwan­kungen und Gat­tungs­mi­schungen nicht nur dem ästhe­ti­schen Genuss dienen, son­dern eine kri­ti­sche Funk­tion mit Blick auf die ver­gan­gene und gegen­wär­tige, nach wie vor poli­ti­sierte Wirk­lich­keit erfüllen können. Wie andere Autoren der post­ju­go­sla­wi­schen Lite­ra­tur­szene, die sich den Kriegen der 1990er Jahre widmen, übt sich auch Arse­ni­jević nicht in Schuld­zu­wei­sungen, und er schürt kein Mit­leid mit den Opfern. Gerade diese Hal­tung aber ver­hin­dert, dass die Toten begraben und die Kriege ver­gessen sind. In Arse­ni­je­vićs Cloaca maxima ist es heiter und unbe­quem zugleich.

 

Cloaca Maxima I. U pot­palu­blju. Beograd: RAD 1994. (dt: Cloaca Maxima. Eine Sei­fen­oper. Berlin: Rowohlt 1996.)

Cloaca Maxima II. Anđela. Sapunska opera. Beograd: Stu­bovi kul­ture 1997, Beograd: Vreme 1997.

Mek­siko. Ratni dnevnik. Beograd: Rende 2000.

Wan­der­lust. (zusammen mit Los Arm­strings). Novi Sad: UrbaNS 2000.

Išmail (zusammen mit Alek­sandar Zograf). Zagreb: Profil 2004.

Lek­sikon YU mitolo­gije. (Her­aus­geber, zusammen mit Iris Andrić und Đorđe Matić). Zagreb: Post­scriptum 2004. (2. erwei­terte Auf­lage Beograd: Rende, Zagreb: Post­scriptum 2005.)

Pre­dator. Beograd: Sami­zdat B92 2008.

(Aus­züge:
– Neu­ko­ren­jenost. In: Švarc, Ričard (ed.): Drugi pored mene. Anto­lo­gija priča i eseja pisaca jugo­is­točne Evrope. Lazar­evac: Sami­zdat B92 2007. S. 22–39.
– Wur­zel­lo­sig­keit. In: Swartz, Richard (Hg.): Der andere nebenan. Eine Antho­logie aus dem Süd­osten Europas. Frank­furt a. M.: Fischer 2007. S. 25–46. (in kür­zerer Fas­sung und anderer deut­scher Über­set­zung auch ver­fügbar als mp3-Dokument)
– Nihil’s Dream. In: Index on Cen­sor­ship. Vol. 38. Nr. 3. 2009, pp. 153–167.)

Jugo­la­bo­ra­to­rija. Beograd: Biblio­teka XX vek 2009.