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Andrej Gelasimov – ein „neuer sibirischer Salinger“

Posted on 5. März 2010 by Nina Weller
Noch in den 2010er Jahren gehörten Viktor Pelevin, Vladimir Sorokin und Viktor Erofeev sicherlich zu den bekanntesten russischen Gegenwartsschriftstellern im deutschsprachigen Raum. Autoren wie Andrej Gelasimov, die sich bewusst jenseits der legendären literarischen Postmoderne positionierten und eher eine realistische Schreibweise pflegen, wurden erst im Laufe der letzten Jahre für das deutschsprachige Publikum entdeckt.

In letzter Zeit hört man hier zu Landen immer wieder Klagen über die schlechte Lage der russischen Gegenwartsprosa, oder vielmehr darüber, dass weit und breit kein neuer Stern am Himmel der aktuellen russischen Literaturlandschaft zu finden sei, dem man eine – durch den literaturwissenschaftlichen Zugriff oder durch Übersetzungen ins Deutsche geadelte – literarische Qualität von Bestand zusprechen könnte. Und tatsächlich, es ist etwas stiller geworden um die Diskussion aktueller russischer Literatur in Deutschland. Keine neue Ulickaja, kein neuer Akunin, kein neuer Pelevin, ja nicht mal ein neuer Sorokin weit und breit, geschweige denn ein Autor vom Schlage Andruchovičs, der durch sein geo-poetisches Konzept Slawisten- und Lektorenherzen gleichermaßen und erstaunlich langanhaltend höher schlagen lässt? Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass gerade die Repräsentanz einer neuen, nennen wir sie „post-postsowjetischen“ russischen Autorengeneration, in deutschen Übersetzungen zu wünschen übriglässt. Das mag zum einen daran liegen, dass russische Verlage eine für unsere Maßstäbe wenig qualitative Lektorierung der Texte durchgehen lassen und nicht wenige Texte, gerade auch jüngerer Autor_innen, bisweilen eine recht fragwürdige ideologische Ausrichtung haben. Das mag zum anderen aber vor allem auch daran liegen, dass viele Texte zu russlandspezifischen Themen transportieren, die die deutschsprachigen Leser_innen schlicht und ergreifend nicht großartig interessieren werden.

 

Es verwundert allerdings, dass ausgerechnet die Prosatexte von Andrej Gelasimov, bis auf eine Erzählung, in der von Galina Dursthoff herausgegebenen Erzählsammlung Russland. 21 neue Erzähler (Deutscher Taschenbuchverlag, München 2003) bisher in alle möglichen Sprachen, aber noch nicht ins Deutsche übersetzt wurden und überhaupt der Autor hier bisher kaum wahrgenommen wird. Denn gerade die für Gelasimovs Texte typische Mischung von vermeintlich anspruchsloser Unterhaltung und gesellschaftspolitisch kritischer Sensibilität würde hier sicherlich auf eine größere Leser_innenschaft und auf Gefallen des Feuilletons stoßen. Seine Prosatexte sind charakterisiert durch romantische aber gänzlich unpathetische, ironisch-fatalistische Geschichten und durch eine besondere Vorliebe für situationszentrierte, episodische, nahezu filmische Erzählstrukturen mit besonderer Aufmerksamkeit für die zwischenmenschlichen Realitäten des Alltags. Gelasimovs Helden sind durchschnittliche, meist vom gesellschaftlichen Treiben zurückgezogene Menschen im besten Jugendalter, deren Geschichten und Charaktere durch einfache Stilistik, hintergründigen Humor und durch kurze, dialogische Szenen umrissen sind, ohne dass es je in Banalitäten abdriften würde. Im Gegenteil: „Bei Gelasimov ist der Humor weniger eine zweite Natur als vielmehr eine Waffe, eine Form des Widerstands, um überleben zu können“ beschrieb die Zeitschrift Le Monde des livres (2005) sehr treffend Gelasimovs Schreiben.

 

Bei den eher wenigen öffentlichen Auftritten gibt sich der promovierte Anglist und studierte Regisseur Gelasimov – soweit ich das aufgrund von youtube-geschalteten Interview-Mittschnitten beurteilen kann – mürrisch und leicht blasiert, ganz im Gegensatz zu einem allzeit publikumsschmeichelnden, medial überpräsenten Autor wie Evgenij Griškovec. Das macht ihn als Gesprächspartner vielleicht nicht gerade zugänglich, lenkt aber das Interesse mehr auf seine Texte als auf seine Person und das ist dann doch allemal sympathischer: Bereits nach Erscheinen seines dünnen Erzählbandes Foks Malder pochož na svin’ju (Fox Mulder sieht aus wie ein Schwein) bejubelte die russische Kritik den 1966 in Irkutsk geborenen Autor als „neuen sibirischen Salinger“. Und spätestens mit seinem 2002 erschienenen zweiten Buch Žažda (Durst) über einen jungen Mann, der entstellt aus dem Tschetschenienkrieg in den banalen Moskauer Alltag zurückkehrt, galt er als zwar umstrittener, aber aufsteigender Stern der „jüngeren“ russischen Literatur. Es folgten dann in kurzen Abständen weitere Publikationen und mit jedem Buch bewegte er sich zusehends von der Kurzform weg zu immer umfangreicheren Romanen: 2003 erschien der Roman God obmana (Jahr der Lüge) um eine Dreiecks-Liebesgeschichte aus der Perspektive eines Vertreters der neuen urbanen 1990er-Jahre-Mittelschicht, ebenfalls 2003 folgte der zwischen den 1960er und den 1990er Jahren spielende Roman Rachil’ (Rahel) über einen erfolglosen, halbjüdischen Literaturwissenschaftler und die Erinnerungen an seine drei Ex-Frauen. Einige Jahre später, 2008 erschien der mit dem "Nacional’nyj bestseller" 2009 ausgezeichnete Roman Stepnyje bogi (Steppengötter), in dem es um die in das Jahr 1945 in die russisch-transbaikalische Steppe verlagerte Freundschaft zwischen einem Teenager und einem Häftling, einem japanischen Arzt, kurz vor dem Einfall der sowjetischen Truppen in Japan und den Bombardierungen Hiroshimas und Nagasakis geht. Ende 2009, also fast noch als Neuerscheinung zu rechnen, erschien schließlich der wieder gegenwartszugewandte Roman Dom na Osernoj (Das Haus an der Osernastraße) über eine provinzielle Großfamilie, die sich in ungünstige Finanzgeschäfte verstrickt. Ungesicherten Quellen zufolge arbeitet Gelasimov derzeit bereits an einem weiteren, im äußersten Norden Russlands spielenden Roman mit dem treffenden Titel Cholod (Kälte).

Andrej Gelasimov – ein „neuer sibirischer Salinger“ - novinki
Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Andrej Gel­asimov – ein „neuer sibi­ri­scher Salinger“

In letzter Zeit hört man hier zu Landen immer wieder Klagen über die schlechte Lage der rus­si­schen Gegen­warts­prosa, oder viel­mehr dar­über, dass weit und breit kein neuer Stern am Himmel der aktu­ellen rus­si­schen Lite­ra­tur­land­schaft zu finden sei, dem man eine – durch den lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chen Zugriff oder durch Über­set­zungen ins Deut­sche geadelte – lite­ra­ri­sche Qua­lität von Bestand zuspre­chen könnte. Und tat­säch­lich, es ist etwas stiller geworden um die Dis­kus­sion aktu­eller rus­si­scher Lite­ratur in Deutsch­land. Keine neue Ulickaja, kein neuer Akunin, kein neuer Pelevin, ja nicht mal ein neuer Sor­okin weit und breit, geschweige denn ein Autor vom Schlage Andrucho­vičs, der durch sein geo-poe­ti­sches Kon­zept Sla­wisten- und Lek­to­ren­herzen glei­cher­maßen und erstaun­lich lang­an­hal­tend höher schlagen lässt? Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass gerade die Reprä­sen­tanz einer neuen, nennen wir sie „post-post­so­wje­ti­schen“ rus­si­schen Autoren­ge­ne­ra­tion, in deut­schen Über­set­zungen zu wün­schen übrig­lässt. Das mag zum einen daran liegen, dass rus­si­sche Ver­lage eine für unsere Maß­stäbe wenig qua­li­ta­tive Lek­to­rie­rung der Texte durch­gehen lassen und nicht wenige Texte, gerade auch jün­gerer Autor_innen, bis­weilen eine recht frag­wür­dige ideo­lo­gi­sche Aus­rich­tung haben. Das mag zum anderen aber vor allem auch daran liegen, dass viele Texte zu russ­land­spe­zi­fi­schen Themen trans­por­tieren, die die deutsch­spra­chigen Leser_innen schlicht und ergrei­fend nicht groß­artig inter­es­sieren werden.

 

Es ver­wun­dert aller­dings, dass aus­ge­rechnet die Pro­sa­texte von Andrej Gel­asimov, bis auf eine Erzäh­lung, in der von Galina Durst­hoff her­aus­ge­ge­benen Erzähl­samm­lung Russ­land. 21 neue Erzähler (Deut­scher Taschen­buch­verlag, Mün­chen 2003) bisher in alle mög­li­chen Spra­chen, aber noch nicht ins Deut­sche über­setzt wurden und über­haupt der Autor hier bisher kaum wahr­ge­nommen wird. Denn gerade die für Gel­asi­movs Texte typi­sche Mischung von ver­meint­lich anspruchs­loser Unter­hal­tung und gesell­schafts­po­li­tisch kri­ti­scher Sen­si­bi­lität würde hier sicher­lich auf eine grö­ßere Leser_innenschaft und auf Gefallen des Feuil­le­tons stoßen. Seine Pro­sa­texte sind cha­rak­te­ri­siert durch roman­ti­sche aber gänz­lich unpa­the­ti­sche, iro­nisch-fata­lis­ti­sche Geschichten und durch eine beson­dere Vor­liebe für situa­ti­ons­zen­trierte, epi­so­dische, nahezu fil­mi­sche Erzähl­struk­turen mit beson­derer Auf­merk­sam­keit für die zwi­schen­mensch­li­chen Rea­li­täten des All­tags. Gel­asi­movs Helden sind durch­schnitt­liche, meist vom gesell­schaft­li­chen Treiben zurück­ge­zo­gene Men­schen im besten Jugend­alter, deren Geschichten und Cha­rak­tere durch ein­fache Sti­listik, hin­ter­grün­digen Humor und durch kurze, dia­lo­gi­sche Szenen umrissen sind, ohne dass es je in Bana­li­täten abdriften würde. Im Gegen­teil: „Bei Gel­asimov ist der Humor weniger eine zweite Natur als viel­mehr eine Waffe, eine Form des Wider­stands, um über­leben zu können“ beschrieb die Zeit­schrift Le Monde des livres (2005) sehr tref­fend Gel­asi­movs Schreiben.

 

Bei den eher wenigen öffent­li­chen Auf­tritten gibt sich der pro­mo­vierte Anglist und stu­dierte Regis­seur Gel­asimov – soweit ich das auf­grund von you­tube-geschal­teten Inter­view-Mitt­schnitten beur­teilen kann – mür­risch und leicht bla­siert, ganz im Gegen­satz zu einem all­zeit publi­kums­schmei­chelnden, medial über­prä­senten Autor wie Evgenij Griš­kovec. Das macht ihn als Gesprächs­partner viel­leicht nicht gerade zugäng­lich, lenkt aber das Inter­esse mehr auf seine Texte als auf seine Person und das ist dann doch allemal sym­pa­thi­scher: Bereits nach Erscheinen seines dünnen Erzähl­bandes Foks Malder pochož na svin’ju (Fox Mulder sieht aus wie ein Schwein) beju­belte die rus­si­sche Kritik den 1966 in Irkutsk gebo­renen Autor als „neuen sibi­ri­schen Salinger“. Und spä­tes­tens mit seinem 2002 erschie­nenen zweiten Buch Žažda (Durst) über einen jungen Mann, der ent­stellt aus dem Tsche­tsche­ni­en­krieg in den banalen Mos­kauer Alltag zurück­kehrt, galt er als zwar umstrit­tener, aber auf­stei­gender Stern der „jün­geren“ rus­si­schen Lite­ratur. Es folgten dann in kurzen Abständen wei­tere Publi­ka­tionen und mit jedem Buch bewegte er sich zuse­hends von der Kurz­form weg zu immer umfang­rei­cheren Romanen: 2003 erschien der Roman God obmana (Jahr der Lüge) um eine Drei­ecks-Lie­bes­ge­schichte aus der Per­spek­tive eines Ver­tre­ters der neuen urbanen 1990er-Jahre-Mit­tel­schicht, eben­falls 2003 folgte der zwi­schen den 1960er und den 1990er Jahren spie­lende Roman Rachil’ (Rahel) über einen erfolg­losen, halb­jü­di­schen Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler und die Erin­ne­rungen an seine drei Ex-Frauen. Einige Jahre später, 2008 erschien der mit dem “Nacional’nyj best­seller” 2009 aus­ge­zeich­nete Roman Step­nyje bogi (Step­pen­götter), in dem es um die in das Jahr 1945 in die rus­sisch-trans­bai­ka­li­sche Steppe ver­la­gerte Freund­schaft zwi­schen einem Teen­ager und einem Häft­ling, einem japa­ni­schen Arzt, kurz vor dem Ein­fall der sowje­ti­schen Truppen in Japan und den Bom­bar­die­rungen Hiro­shimas und Naga­sakis geht. Ende 2009, also fast noch als Neu­erschei­nung zu rechnen, erschien schließ­lich der wieder gegen­warts­zu­ge­wandte Roman Dom na Osernoj (Das Haus an der Osern­a­straße) über eine pro­vin­zi­elle Groß­fa­milie, die sich in ungüns­tige Finanz­ge­schäfte ver­strickt. Unge­si­cherten Quellen zufolge arbeitet Gel­asimov der­zeit bereits an einem wei­teren, im äußersten Norden Russ­lands spie­lenden Roman mit dem tref­fenden Titel Cholod (Kälte).