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Ausstellungsvorstellung: "Rechtfertigung der Spaziergänge"

Posted on 16. Juli 2021 by Elisabeth Bauer
Im Rahmen der Gastprofessur der ukrainischen Künstlerin und Autorin Yevgenia Belorusets am Institut für Slawistik und Hungarologie (HU Berlin) entstand die Ausstellung „Rechtfertigung der Spaziergänge", die vom 23.04.2021 bis 25.04.2021 im Strandbad Tegelsee (Berlin) künstlerische Erzeugnisse der Studierenden präsentierte. Sie eint die praktische Leidenschaft für oder das theoretische Interesse an der Fotografie.

"Our vision is continually active, continually moving, continually holding things in a circle around itself, constituting what is present to us as we are." - John Berger

Was sehen wir in der kollektiven Distanzierung zur Welt, in der unsere Körper sich isoliert, unsere Bewegungs- und Wirklichkeitsräume sich zusammengezogen und zerfurcht haben? Wie sehen wir?

 

Dieser und anderer Fragestellungen nahmen sich Studierende der Humboldt-Universität im Rahmen der Gastprofessur der ukrainischen Künstlerin und Autorin Yevgenia Belorusets am Institut für Slawistik und Hungarologie an. Künstlerische Erzeugnisse wurden am 23.04.2021 bis 25.04.2021 im Rahmen der Ausstellung "Rechtfertigung der Spaziergänge" im Standbad Tegelsee (Berlin) präsentiert. Die Teilnehmer_innen je eines theoretischen und eines praktischen Fotoseminars kommen aus verschiedenen Fachrichtungen, sie eint die praktische Leidenschaft für oder das theoretische Interesse an der Fotografie. Im übrigen teilen sie einen transkulturellen, generationsabhängigen Erfahrungshorizont:

Als digital natives stehen sie in der Gunst, den Übergang vom analogen zum virtuellen Sehen physisch wie technologisch durchlebt zu haben, ersteres ständig mit letztgenanntem abgleichen zu können. Beflügelt wurde die Seminararbeit durch fototheoretische Impulse und das Motiv des Spaziergangs. Theoretische Reflexion und konkrete Foto-, Blick- und Spazierstudien befruchteten sich gegenseitig – und so wurde das virtuelle Semester durch den physisch-mechanischen Akt des realräumlichen Gehens, Sehens und Fotografierens maßgeblich aufgewertet.

Studierende mit Yevgenia Belorusets im Strandbad Tegelsee, 2021

Dimensionen des Spaziergangs

Bis vor einem Jahr schien die Welt ein Dorf und in greifbarer Reichweite zu liegen; physisch-raumzeitliche Bewegungsfreiheit wurde weithin als „selbstverständlich“ vorausgesetzt. Unter dem Eindruck der latenten Gefahr endlos mutierender Covid-19-Viren, nationaler Grenzschließungen, gesamtgesellschaftlich eingeforderter Solidaritätsversprechen sowie einer Corona-Politik, die keine Perspektiven zu schaffen imstande zu sein scheint, wirkt die Welt nicht mehr greifbar, sondern seltsam entrückt. Zurückgezogen in Dörfer, deren Ausdehnungen sich nunmehr auf Wohnung, Kiez und Umland minimiert haben, werden wir zurückgeworfen – wieder und wieder auf uns selbst, in eine virtuelle Dauerschleife. Wir blicken nicht länger als reisende Nomaden in die Welt, sondern sehen uns von einer sterilen, zerklüfteten „neuen“ Normalität umgeben, in der Ereignisse aus dem indexikalischen Referenzraum der urbanen Wirklichkeit getilgt zu sein scheinen und Erfahrungen zunehmend in der virtuellen Transgression gesucht werden.

Oder im Spaziergang, der in seiner freien Form an der frischen Luft alle temporär inaktiven Institutionen – soziale Treffpunkte, kulturelle Spielstätten und sonstige save spaces – zu absorbieren versucht, ohne jedoch die faktischen oder individuell empfundenen Leerstellen befrieden zu können. Der Spaziergang kann die an ihn gestellten Ansprüche nicht erfüllen.

Fotografisches „Trotzdem“

Trotzdem spazieren wir: Ohne uns ausruhen zu können, den Sicherheitsabstand wahrend, werden wir konfrontiert mit einer ihrer altbekannten Funktionen entledigten Wirklichkeit – einer Welt im paradoxalen historischen-aberzeitlosen Schwebezustand. Die Stadt funktioniert nicht mehr.
Es ist dieses rechtfertigende 'Trotzdem', das Spaziergang und Fotografie – wie auch die theoretisch-praktische Seminararbeit und die Ausstellungsrealisierung unter erschwerten pandemischen Bedingungen – miteinander verknüpft. Sich an ihrer eigenen technischen Bedingtheit stoßend, wird die Fotografie ihrem Anspruch, Wirklichkeitsnähe herzustellen und Objektivität zu bezeugen, nicht gerecht. Trotzdem fotografieren wir, blicken wir in eine Welt, deren Wirklichkeitsgrenzen unscharf geworden sind (oder es schon immer waren): disfunktional, sinnentfremdet, deterritorialisiert. Spaziergang wie Fotografie führen uns jene defekten Grenzverläufe vor Augen. In einem transgressiven Akt der „Rechtfertigung“ emanzipieren sie sich von jenem realräumlichen, aus neuen Verboten und alten Freiheiten (und vice versa) konstituierenden Referenzraum – kraft der Sprache, kraft der Imagination.

Kollektive Dokumentation: Eingriff in die Wirklichkeit

Das Mittel der Fotografie, das Verfahren des Spaziergangs erlauben es uns, in die Wirklichkeit einzugreifen und uns im selben Zuge selbst zu verorten. Den Wirklichkeitsanspruch der Fotografie hinterfragend, können unsere fototextlichen Projekte in ihrer Summe – in all ihrer perspektivischen Subjektivität – als kollektive Dokumentation jenes für das vergangene Jahr charakteristischen Zustands lavierender Haltlosigkeit gelesen werden. Sie erzählen von Zufluchten in imaginäre Traumlandschaften, von Rückfall bzw. Rückbesinnung auf die eigenen vier Wände, Nachbarschaft oder Natur sowie von der Sehnsucht nach physischer Selbstfindung in einer aus virtuellen Bildern und Identitäten beschaffenden Realität. Sie versuchen einem langgezogenen Moment scheinbar stillstehender Geschichtlichkeit eine gedankliche Form zu geben – über das Motiv des Spaziergangs und die Sprache der Fotografie.

Literatur:

John Berger: Ways of Seeing. London 1988.

Robert Walser: Der Spaziergang. Zürich 2019.

Roland Barthes: Die helle Kammer. Berlin 2016.

Susan Sontag: Das Leiden andere betrachten. München/Wien 2003.

***

 

Kurzbeschreibungen der ausgestellten theoretisch-praktischen Arbeiten:

Bella Badt: Fotoflanieren – die Entdeckung der Narrationen, Begleittexte, 2021.
Was kann entdeckt werden, wenn Bilder und Klänge aus dem Kontext der Spaziergänge entnommen werden und in einen neuen Kontext einer Kulturlandschaft versetzt werden? Kurze essayistische Bildkommentare zu den fotografischen Arbeiten regen Flanierende dazu an, Narrationen zu entdecken oder sie selbst zu entwerfen.
Bella Badt studiert im Master „Kulturen und Literaturen Mittel- und Osteuropas“ an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie arbeitet zu den Themen Avantgarde, Samizdat, Jugendkulturen und Märchen. Sie schrieb Essays zu ausgewählten fotografischen Arbeiten von Yevgenia Belorusets und Lada Nakonechna.

Elisabeth Bauer: Von Wäldern und Nymphen, Video, 6:19 min und Mikro- Textpublikation, 2020-2021.
Ausgangspunkt für die theoretisch-praktische Blickstudie ist der alltägliche Fensterblick: Überlegungen über die kulturgeschichtlichen Dimensionen des Blicks, die Dialektik und Historizität „nachlebender“ und Neuer Bilder sowie die Materialität von Wirklichkeit werden angestellt. Fotografiert mit einer Voigtländer II-b.
Elisabeth Bauer studiert im Master „Kulturen und Literaturen Mittel- und Osteuropas“, ihren Bachelor hat sie in Slawistik sowie in Kunst- und Bildgeschichte absolviert. Sporadisch schreibt sie journalistische Beiträge mit Publikationen in taz, WELT, im Literaturjournal novinki u.a.

Giselle Chavannes: Ohne Titel, Video, 7:17 min, 2020-2021.
Die Fotoserie ist das Ergebnis meines Kommens und Gehens an immer dieselben Orte: von der Wohnung zum Tempelhofer Feld – und zurück. Die Bilder wurden mit einer Ricoh singlex tls und einer Zenith 3M aufgenommen. Giselle Chavannes, Schweizerin und Argentinierin, studiert Europäische Literaturen an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihren Bachelor hat sie in Philosophie und Vergleichender Literaturwissenschaft in Genf und Tübingen absolviert.

Lisa Jura: Ohne Titel, Video, 3:30 min, 2020-2021.
Der Tag war so grau, dass ich eine Lilie gekauft habe, um mich zu erinnern, dass es Leben gibt. Lisa Jura hat Hungarologie, Südslawistik und Historische Urbanistik studiert.

Anna Katinka Kultscher: Eroberungen, Video, 5:05 min, 2020-2021.
Ein Wrack, ein Schwarm, kein Regenschirm – bei bestem Wetter fechten Mikround Makromächte ihre Kämpfe aus. Wer oder was erobert wen oder was? Ein Spaziergang durch den schönen Gesundbrunnen.
Katinka Kultscher ist Masterstudentin der Europäischen Literaturen und hat im Bachelor Creative Arts studiert.

Elisabeth Landenberger: Wonder Wheel, Video, 1:45 min, 2021.
Wonder Wheel zeigt Aufnahmen von pandemischen Spaziergängen in Istanbul, New York City, Berlin und der deutschen Provinz. Die Photographien wurden allesamt mit Einwegkameras aufgenommen.
Elisabeth Landenberger ist Studentin der Philosophie, Slawistik sowie Informatik und übersetzt.

Elisabeth Landenberger: Modifizierte Nova-Atlantis-Fragmente, 8 Poster, 2021.
Text/Idee: Elisabeth Landenberger, Design: Yevgenia Belorusets
Die fragmentarische Utopie des Philosophen Francis Bacon „Nova Atlantis” (1627), umgeschrieben und an die heutige Zeit angepasst.

Tamara Naszer: Abschied vom Himmel, Video, 6:03 min, 03/2021.
Die Fotoreihe nimmt sich der empfindlichen Lebensperiode der Jugend an und hinterfragt den endgültigen Abschied von der Kindheit.
Tamara Naszer – in Ungarn geboren, Studentin der Musikwissenschaft und Hungarologie – fotografiert mit einer Nikon f50 auf Agfa APX 400-Film.

Nicole Stieben: Zwischenspiegel, Video, 4:42 min, 2020-2021.
Was macht einen Ort aus und was bewirkt ein Ort bei jedem selbst? Auf mehreren Spaziergängen bin ich an verschiedenen Stationen stehen geblieben, weil sie etwas in mir ausgelöst haben. Was genau, kann ich nicht wirklich sagen. Konkrete Erinnerungen, verblasste Träume oder Visionen? Verlorene Gefühle der Realität sollen eingefangen werden, um dem Spaziergang in seiner Einfachheit einen geheimnisvollen Spiegel vorzuhalten.
Nicole Stieben studiert „Kulturen und Literaturen in Mittel- und Osteuropa” und absolvierte ihren Bachelor in Kunstgeschichte an der Universität Essen. Sie ist als Musikerin, Songwriterin und Komponistin tätig.

Jakob Wunderwald: Das Irreale der Gegenwart in Fotografien der Gegenwart – Die Gruppe SOSka und Spaziergänge durch die Coronawelt, Essay, 2021.
Jakob Wunderwald ist Masterstudent der Slawistik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er arbeitet zu spät- und postsowjetischer Literatur und Kunst. Darüber hinaus ist er als Übersetzer aus dem Russischen, Belarusischen und Ukrainischen tätig.

Arbeitsbeschreibungen der eingeladenen Künstler*innen (Ukraine):

Alina Kleytman (Kiew): RESPONSIBILITY: SHAME, FEAR, AND PRIDE,
Farbfilm, 5:49 min, 2017.
Das Video zeigt den schmerzlichen Prozess inneren Wachstums. Die Künstlerin Alina Kleytman lebt und arbeitet in Kiew. Seit 2009 nimmt sie an Ausstellungen in der Ukraine und im Ausland teil; 2011 erhielt sie den Public Choice Award (Pinchuk Art Prize), sie wurde auf der Non Stop Media Biennial ausgezeichnet und 2021 mit dem Women in Arts-Preis (2019 von UN Women Ukraine ins Leben gerufen) in der Kategorie Visual Arts geehrt.

Lada Nakonechna (Kiew): Idyll, DV Video, 60 min, 2011/2017.

Während ihrer Residenz im ukrainischen Dorf Velykij Pereviz (Großer Transfer) dokumentierte Lada Nakonechna eine Dorflandschaft, in deren Zentrum sich ein Radiolautsprecher befindet. Die staatliche Radio-Stimme füllt das Dorf mit Werbung, offizieller Berichterstattung und Schlagermusik. Die Videoarbeit fixiert konstante und dynamische Elemente der kulturellen und tatsächlichen Landschaft.
Lada Nakonechna lebt und arbeitet in Kiew. In ihren Arbeiten benutzt die Künstlerin verschiedenste künstlerische Mittel, etwa Fotografie, Zeichnungen, Installationen und Performances.
Sie ist Co-Redakteurin des Journals für Literatur, Kunst und Politik Prostory.net.ua und Mitglied der Kurator*innen- und Aktivist*innenGewerkschaft Hudrada. Seit 2005 ist sie Mitglied der Künstlergruppe R.E.P. (Revolutionary Experimental Space), kuratiert das unabhängige Bildungsprogramm Course of Art in Kiew (seit 2012) und ist Mitbegründerin der Kunst-Stiftung Method Fund (gegr. 2015).

SOSka Group (Kiew): Barter, DV Video, 6:54 min, 2007.
Barter beschäftigt sich mit der Frage von Interaktionen innerhalb des zeitgenössischen Kunstmarkts. Mitglieder des Künstlerkollektivs fuhren in ein Dorf nahe Kharkiv und fragten Ansässige, ob sie Drucke internationaler Künstler*innengrößen (Andy Warhol, Sam Taylor-Wood, Cindy Sherman etc.) gegen lokale Erzeugnisse (Eier, Kartoffeln etc.) zu tauschen. Der "Preis" für jedes Werk wurde mit der Käuferin, dem Käufer je einzeln ausgehandelt.

Ausstellungsvorstellung: "Rechtfertigung der Spaziergänge" - novinki
Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Aus­stel­lungs­vor­stel­lung: “Recht­fer­ti­gung der Spaziergänge”

“Our vision is con­ti­nu­ally active, con­ti­nu­ally moving, con­ti­nu­ally hol­ding things in a circle around itself, con­sti­tu­ting what is pre­sent to us as we are.” – John Berger

Was sehen wir in der kol­lek­tiven Distan­zie­rung zur Welt, in der unsere Körper sich iso­liert, unsere Bewe­gungs- und Wirk­lich­keits­räume sich zusam­men­ge­zogen und zer­furcht haben? Wie sehen wir?

 

Dieser und anderer Fra­ge­stel­lungen nahmen sich Stu­die­rende der Hum­boldt-Uni­ver­sität im Rahmen der Gast­pro­fessur der ukrai­ni­schen Künst­lerin und Autorin Yev­genia Bel­o­ru­sets am Institut für Sla­wistik und Hun­ga­ro­logie an. Künst­le­ri­sche Erzeug­nisse wurden am 23.04.2021 bis 25.04.2021 im Rahmen der Aus­stel­lung “Recht­fer­ti­gung der Spa­zier­gänge” im Standbad Tegelsee (Berlin) prä­sen­tiert. Die Teilnehmer_innen je eines theo­re­ti­schen und eines prak­ti­schen Foto­se­mi­nars kommen aus ver­schie­denen Fach­rich­tungen, sie eint die prak­ti­sche Lei­den­schaft für oder das theo­re­ti­sche Inter­esse an der Foto­grafie. Im übrigen teilen sie einen trans­kul­tu­rellen, gene­ra­ti­ons­ab­hän­gigen Erfahrungshorizont:

Als digital natives stehen sie in der Gunst, den Über­gang vom ana­logen zum vir­tu­ellen Sehen phy­sisch wie tech­no­lo­gisch durch­lebt zu haben, ers­teres ständig mit letzt­ge­nanntem abglei­chen zu können. Beflü­gelt wurde die Semi­nar­ar­beit durch foto­theo­re­ti­sche Impulse und das Motiv des Spa­zier­gangs. Theo­re­ti­sche Refle­xion und kon­krete Foto‑, Blick- und Spa­zier­stu­dien befruch­teten sich gegen­seitig – und so wurde das vir­tu­elle Semester durch den phy­sisch-mecha­ni­schen Akt des real­räum­li­chen Gehens, Sehens und Foto­gra­fie­rens maß­geb­lich aufgewertet.

Stu­die­rende mit Yev­genia Bel­o­ru­sets im Strandbad Tegelsee, 2021

Dimen­sionen des Spaziergangs

Bis vor einem Jahr schien die Welt ein Dorf und in greif­barer Reich­weite zu liegen; phy­sisch-raum­zeit­liche Bewe­gungs­frei­heit wurde weithin als „selbst­ver­ständ­lich“ vor­aus­ge­setzt. Unter dem Ein­druck der latenten Gefahr endlos mutie­render Covid-19-Viren, natio­naler Grenz­schlie­ßungen, gesamt­ge­sell­schaft­lich ein­ge­for­derter Soli­da­ri­täts­ver­spre­chen sowie einer Corona-Politik, die keine Per­spek­tiven zu schaffen imstande zu sein scheint, wirkt die Welt nicht mehr greifbar, son­dern seltsam ent­rückt. Zurück­ge­zogen in Dörfer, deren Aus­deh­nungen sich nun­mehr auf Woh­nung, Kiez und Umland mini­miert haben, werden wir zurück­ge­worfen – wieder und wieder auf uns selbst, in eine vir­tu­elle Dau­er­schleife. Wir bli­cken nicht länger als rei­sende Nomaden in die Welt, son­dern sehen uns von einer ste­rilen, zer­klüf­teten „neuen“ Nor­ma­lität umgeben, in der Ereig­nisse aus dem inde­xi­ka­li­schen Refe­renz­raum der urbanen Wirk­lich­keit getilgt zu sein scheinen und Erfah­rungen zuneh­mend in der vir­tu­ellen Trans­gres­sion gesucht werden.

Oder im Spa­zier­gang, der in seiner freien Form an der fri­schen Luft alle tem­porär inak­tiven Insti­tu­tionen – soziale Treff­punkte, kul­tu­relle Spiel­stätten und sons­tige save spaces – zu absor­bieren ver­sucht, ohne jedoch die fak­ti­schen oder indi­vi­duell emp­fun­denen Leer­stellen befrieden zu können. Der Spa­zier­gang kann die an ihn gestellten Ansprüche nicht erfüllen.

Foto­gra­fi­sches „Trotzdem“

Trotzdem spa­zieren wir: Ohne uns aus­ruhen zu können, den Sicher­heits­ab­stand wah­rend, werden wir kon­fron­tiert mit einer ihrer alt­be­kannten Funk­tionen ent­le­digten Wirk­lich­keit – einer Welt im para­doxalen his­to­ri­schen-aber­zeit­losen Schwe­be­zu­stand. Die Stadt funk­tio­niert nicht mehr.
Es ist dieses recht­fer­ti­gende ‘Trotzdem’, das Spa­zier­gang und Foto­grafie – wie auch die theo­re­tisch-prak­ti­sche Semi­nar­ar­beit und die Aus­stel­lungs­rea­li­sie­rung unter erschwerten pan­de­mi­schen Bedin­gungen – mit­ein­ander ver­knüpft. Sich an ihrer eigenen tech­ni­schen Bedingt­heit sto­ßend, wird die Foto­grafie ihrem Anspruch, Wirk­lich­keits­nähe her­zu­stellen und Objek­ti­vität zu bezeugen, nicht gerecht. Trotzdem foto­gra­fieren wir, bli­cken wir in eine Welt, deren Wirk­lich­keits­grenzen unscharf geworden sind (oder es schon immer waren): dis­funk­tional, sinn­ent­fremdet, deter­ri­to­ri­a­li­siert. Spa­zier­gang wie Foto­grafie führen uns jene defekten Grenz­ver­läufe vor Augen. In einem trans­gres­siven Akt der „Recht­fer­ti­gung“ eman­zi­pieren sie sich von jenem real­räum­li­chen, aus neuen Ver­boten und alten Frei­heiten (und vice versa) kon­sti­tu­ie­renden Refe­renz­raum – kraft der Sprache, kraft der Imagination.

Kol­lek­tive Doku­men­ta­tion: Ein­griff in die Wirklichkeit

Das Mittel der Foto­grafie, das Ver­fahren des Spa­zier­gangs erlauben es uns, in die Wirk­lich­keit ein­zu­greifen und uns im selben Zuge selbst zu ver­orten. Den Wirk­lich­keits­an­spruch der Foto­grafie hin­ter­fra­gend, können unsere foto­text­li­chen Pro­jekte in ihrer Summe – in all ihrer per­spek­ti­vi­schen Sub­jek­ti­vität – als kol­lek­tive Doku­men­ta­tion jenes für das ver­gan­gene Jahr cha­rak­te­ris­ti­schen Zustands lavie­render Halt­lo­sig­keit gelesen werden. Sie erzählen von Zufluchten in ima­gi­näre Traum­land­schaften, von Rück­fall bzw. Rück­be­sin­nung auf die eigenen vier Wände, Nach­bar­schaft oder Natur sowie von der Sehn­sucht nach phy­si­scher Selbst­fin­dung in einer aus vir­tu­ellen Bil­dern und Iden­ti­täten beschaf­fenden Rea­lität. Sie ver­su­chen einem lang­ge­zo­genen Moment scheinbar still­ste­hender Geschicht­lich­keit eine gedank­liche Form zu geben – über das Motiv des Spa­zier­gangs und die Sprache der Fotografie.

Lite­ratur:

John Berger: Ways of Seeing. London 1988.

Robert Walser: Der Spa­zier­gang. Zürich 2019.

Roland Bar­thes: Die helle Kammer. Berlin 2016.

Susan Sontag: Das Leiden andere betrachten. München/Wien 2003.

***

 

Kurz­be­schrei­bungen der aus­ge­stellten theo­re­tisch-prak­ti­schen Arbeiten:

Bella Badt: Foto­fla­nieren – die Ent­de­ckung der Nar­ra­tionen, Begleit­texte, 2021.
Was kann ent­deckt werden, wenn Bilder und Klänge aus dem Kon­text der Spa­zier­gänge ent­nommen werden und in einen neuen Kon­text einer Kul­tur­land­schaft ver­setzt werden? Kurze essay­is­ti­sche Bild­kom­men­tare zu den foto­gra­fi­schen Arbeiten regen Fla­nie­rende dazu an, Nar­ra­tionen zu ent­de­cken oder sie selbst zu entwerfen.
Bella Badt stu­diert im Master „Kul­turen und Lite­ra­turen Mittel- und Ost­eu­ropas“ an der Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin. Sie arbeitet zu den Themen Avant­garde, Sami­zdat, Jugend­kul­turen und Mär­chen. Sie schrieb Essays zu aus­ge­wählten foto­gra­fi­schen Arbeiten von Yev­genia Bel­o­ru­sets und Lada Nakonechna.

Eli­sa­beth Bauer: Von Wäl­dern und Nym­phen, Video, 6:19 min und Mikro- Text­pu­bli­ka­tion, 2020–2021.
Aus­gangs­punkt für die theo­re­tisch-prak­ti­sche Blick­studie ist der all­täg­liche Fens­ter­blick: Über­le­gungen über die kul­tur­ge­schicht­li­chen Dimen­sionen des Blicks, die Dia­lektik und His­to­ri­zität „nach­le­bender“ und Neuer Bilder sowie die Mate­ria­lität von Wirk­lich­keit werden ange­stellt. Foto­gra­fiert mit einer Voigt­länder II‑b.
Eli­sa­beth Bauer stu­diert im Master „Kul­turen und Lite­ra­turen Mittel- und Ost­eu­ropas“, ihren Bachelor hat sie in Sla­wistik sowie in Kunst- und Bild­ge­schichte absol­viert. Spo­ra­disch schreibt sie jour­na­lis­ti­sche Bei­träge mit Publi­ka­tionen in taz, WELT, im Lite­ra­tur­journal novinki u.a.

Giselle Cha­vannes: Ohne Titel, Video, 7:17 min, 2020–2021.
Die Foto­serie ist das Ergebnis meines Kom­mens und Gehens an immer die­selben Orte: von der Woh­nung zum Tem­pel­hofer Feld – und zurück. Die Bilder wurden mit einer Ricoh sin­glex tls und einer Zenith 3M auf­ge­nommen. Giselle Cha­vannes, Schwei­zerin und Argen­ti­nierin, stu­diert Euro­päi­sche Lite­ra­turen an der Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin. Ihren Bachelor hat sie in Phi­lo­so­phie und Ver­glei­chender Lite­ra­tur­wis­sen­schaft in Genf und Tübingen absolviert.

Lisa Jura: Ohne Titel, Video, 3:30 min, 2020–2021.
Der Tag war so grau, dass ich eine Lilie gekauft habe, um mich zu erin­nern, dass es Leben gibt. Lisa Jura hat Hun­ga­ro­logie, Süd­sla­wistik und His­to­ri­sche Urba­nistik studiert.

Anna Katinka Kult­scher: Erobe­rungen, Video, 5:05 min, 2020–2021.
Ein Wrack, ein Schwarm, kein Regen­schirm – bei bestem Wetter fechten Mikround Makro­mächte ihre Kämpfe aus. Wer oder was erobert wen oder was? Ein Spa­zier­gang durch den schönen Gesundbrunnen.
Katinka Kult­scher ist Mas­ter­stu­dentin der Euro­päi­schen Lite­ra­turen und hat im Bachelor Crea­tive Arts studiert.

Eli­sa­beth Lan­den­berger: Wonder Wheel, Video, 1:45 min, 2021.
Wonder Wheel zeigt Auf­nahmen von pan­de­mi­schen Spa­zier­gängen in Istanbul, New York City, Berlin und der deut­schen Pro­vinz. Die Pho­to­gra­phien wurden alle­samt mit Ein­weg­ka­meras aufgenommen.
Eli­sa­beth Lan­den­berger ist Stu­dentin der Phi­lo­so­phie, Sla­wistik sowie Infor­matik und übersetzt.

Eli­sa­beth Lan­den­berger: Modi­fi­zierte Nova-Atlantis-Frag­mente, 8 Poster, 2021.
Text/Idee: Eli­sa­beth Lan­den­berger, Design: Yev­genia Belorusets
Die frag­men­ta­ri­sche Utopie des Phi­lo­so­phen Francis Bacon „Nova Atlantis” (1627), umge­schrieben und an die heu­tige Zeit angepasst.

Tamara Naszer: Abschied vom Himmel, Video, 6:03 min, 03/2021.
Die Fotoreihe nimmt sich der emp­find­li­chen Lebens­pe­riode der Jugend an und hin­ter­fragt den end­gül­tigen Abschied von der Kindheit.
Tamara Naszer – in Ungarn geboren, Stu­dentin der Musik­wis­sen­schaft und Hun­ga­ro­logie – foto­gra­fiert mit einer Nikon f50 auf Agfa APX 400-Film.

Nicole Stieben: Zwi­schen­spiegel, Video, 4:42 min, 2020–2021.
Was macht einen Ort aus und was bewirkt ein Ort bei jedem selbst? Auf meh­reren Spa­zier­gängen bin ich an ver­schie­denen Sta­tionen stehen geblieben, weil sie etwas in mir aus­ge­löst haben. Was genau, kann ich nicht wirk­lich sagen. Kon­krete Erin­ne­rungen, ver­blasste Träume oder Visionen? Ver­lo­rene Gefühle der Rea­lität sollen ein­ge­fangen werden, um dem Spa­zier­gang in seiner Ein­fach­heit einen geheim­nis­vollen Spiegel vorzuhalten.
Nicole Stieben stu­diert „Kul­turen und Lite­ra­turen in Mittel- und Ost­eu­ropa” und absol­vierte ihren Bachelor in Kunst­ge­schichte an der Uni­ver­sität Essen. Sie ist als Musi­kerin, Song­wri­terin und Kom­po­nistin tätig.

Jakob Wun­der­wald: Das Irreale der Gegen­wart in Foto­gra­fien der Gegen­wart – Die Gruppe SOSka und Spa­zier­gänge durch die Coro­na­welt, Essay, 2021.
Jakob Wun­der­wald ist Mas­ter­stu­dent der Sla­wistik an der Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin. Er arbeitet zu spät- und post­so­wje­ti­scher Lite­ratur und Kunst. Dar­über hinaus ist er als Über­setzer aus dem Rus­si­schen, Bela­ru­si­schen und Ukrai­ni­schen tätig.

Arbeits­be­schrei­bungen der ein­ge­la­denen Künstler*innen (Ukraine):

Alina Kleytman (Kiew): RESPONSIBILITY: SHAME, FEAR, AND PRIDE,
Farb­film, 5:49 min, 2017.
Das Video zeigt den schmerz­li­chen Pro­zess inneren Wachs­tums. Die Künst­lerin Alina Kleytman lebt und arbeitet in Kiew. Seit 2009 nimmt sie an Aus­stel­lungen in der Ukraine und im Aus­land teil; 2011 erhielt sie den Public Choice Award (Pin­chuk Art Prize), sie wurde auf der Non Stop Media Bien­nial aus­ge­zeichnet und 2021 mit dem Women in Arts-Preis (2019 von UN Women Ukraine ins Leben gerufen) in der Kate­gorie Visual Arts geehrt.

Lada Nakon­echna (Kiew): Idyll, DV Video, 60 min, 2011/2017.

Wäh­rend ihrer Resi­denz im ukrai­ni­schen Dorf Velykij Pereviz (Großer Transfer) doku­men­tierte Lada Nakon­echna eine Dorf­land­schaft, in deren Zen­trum sich ein Radio­laut­spre­cher befindet. Die staat­liche Radio-Stimme füllt das Dorf mit Wer­bung, offi­zi­eller Bericht­erstat­tung und Schla­ger­musik. Die Video­ar­beit fixiert kon­stante und dyna­mi­sche Ele­mente der kul­tu­rellen und tat­säch­li­chen Landschaft.
Lada Nakon­echna lebt und arbeitet in Kiew. In ihren Arbeiten benutzt die Künst­lerin ver­schie­denste künst­le­ri­sche Mittel, etwa Foto­grafie, Zeich­nungen, Instal­la­tionen und Performances.
Sie ist Co-Redak­teurin des Jour­nals für Lite­ratur, Kunst und Politik Prostory.net.ua und Mit­glied der Kurator*innen- und Aktivist*innenGewerkschaft Hud­rada. Seit 2005 ist sie Mit­glied der Künst­ler­gruppe R.E.P. (Revo­lu­tio­nary Expe­ri­mental Space), kura­tiert das unab­hän­gige Bil­dungs­pro­gramm Course of Art in Kiew (seit 2012) und ist Mit­be­grün­derin der Kunst-Stif­tung Method Fund (gegr. 2015).

SOSka Group (Kiew): Barter, DV Video, 6:54 min, 2007.
Barter beschäf­tigt sich mit der Frage von Inter­ak­tionen inner­halb des zeit­ge­nös­si­schen Kunst­markts. Mit­glieder des Künst­ler­kol­lek­tivs fuhren in ein Dorf nahe Kharkiv und fragten Ansäs­sige, ob sie Drucke inter­na­tio­naler Künstler*innengrößen (Andy Warhol, Sam Taylor-Wood, Cindy Sherman etc.) gegen lokale Erzeug­nisse (Eier, Kar­tof­feln etc.) zu tau­schen. Der “Preis” für jedes Werk wurde mit der Käu­ferin, dem Käufer je ein­zeln ausgehandelt.