Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Aus­züge aus Al’herd Bacharė­vičs Roman „Hunde Europas“ (Sabaki Ėŭropy)

Aus­ge­wählt vom Autor und ins Deut­sche über­setzt von Thomas Weiler.

Irgend­wann habe ich mir einen Kaffee auf­ge­brüht, mich an den Tisch gesetzt und mir meine Sprache ausgedacht.

Nachdem ich sie mir aus­ge­dacht hatte, lehnte ich mich auf meinem Stuhl zurück und sah mich in Ruhe um.

Im Aschen­be­cher kau­erten fünf Stummel. Die namen­lose Blume auf dem Fens­ter­brett sin­nierte über Blut und Boden. In meinem stillen, lang­wei­ligen Hof war es schon dunkel, im Haus gegen­über hatten sie schon längst das Licht ange­macht und die Gar­dinen vor­ge­zogen. Wie in den Anklei­de­ka­binen. Nackte Men­schen hinter den Vor­hängen pro­bierten ein­ander an: Drückt es? Zwickt? Passt … Langt für auf dem Land, wie meine urbanen Eltern zu sagen pflegten.

Das Note­book schickte ein leises Grum­meln in die Stille der Woh­nung und erleuch­tete mein Gesicht.

Das graue Gesicht eines Men­schen, der sich eine Sprache aus­ge­dacht hatte.

Für einen Augen­blick konnte ich mich selbst von außen betrachten. Als säße ich an einem Feuer, mitten im Wald, kennte nur drei Wörter und bräuchte nichts weiter.

In diesen Momenten, vor dem ange­schal­teten Note­book in der dunklen Woh­nung beim Blick aus dem Fenster, kann es dir vor­kommen, als wäre die ganze Welt von dir erdacht. Als wärst du es gewesen, der eben diese son­der­bare Welt mit ihrem Eigen­leben auf seiner Tas­tatur erschaffen hat. Ein gefähr­li­ches Gefühl. Und wie schmerz­haft dann die Ein­sicht, dass von dir über­haupt keine Rede sein kann. Da gab es ja wirk­lich weit und breit nichts, wozu ich bei­getragen hätte. Alles, vom Dach über meinem Kopf bis zum win­zigsten Mikro­chip, von den Stra­ßen­la­ternen bis zum Räd­chen im Feu­er­zeug hatten andere erdacht, gefer­tigt, erbaut, bemalt und benannt. Und die Men­schen hinter den Gar­dinen machten kei­nerlei Anstalten, sich hinter mir zu ver­sam­meln. Ich hatte keine Ahnung, was in ihnen vor­ging. So wenig wie sie von mir. Das ein­zige, wor­über ich nor­ma­ler­weise ver­fügen konnte, war die Zeit. Leere Käst­chen, in die ich mich ein­schreiben musste. Die Käst­chen sind knapp, und du bist reich­lich. Da hilft nur Tricksen.

Doch diesmal war es anders gekommen.

Seit ich mich mit meinem Becher Kaffee an den Tisch gesetzt hatte, waren zwei Stunden ver­gangen. Von den Lich­tern abge­sehen, hatte sich scheinbar nichts ver­än­dert. Ich war noch der Alte. Und auch die Welt war noch die­selbe, wie zwei Stunden zuvor. Und doch gänz­lich anders. Dort draußen liefen Men­schen herum, und sie alle bedienten sich einer fremden Sprache, wäh­rend ich meine eigene hatte. Für sich genommen ver­än­derte dieser Umstand noch nichts, und doch erfüllte er mich mit einer selt­samen Freude. Als hätte man mich eines Ver­bre­chens für schuldig befunden, für das ich nie­mals den nötigen Mut auf­ge­bracht hätte.

[…]

***

Ich nannte sie Bal­buta. Gott allein wusste, warum.

Und dieser Gott war ich.

Schon als Kind hatte ich mich für kon­stru­ierte Spra­chen begeis­tern können.

Ich weiß noch, wie wir Papier­fi­guren aus­ge­schnitten, sie ange­malt und dann auf dem Fuß­boden Staaten gespielt haben: Wir haben Kriege geführt, Frieden geschlossen, Handel getrieben, uns neue Län­de­reien zuge­legt – Tep­pichsi­bi­rien, Sof­age­birgs­züge und andere kolo­niale Besitz­tümer. Man musste sich eine mög­lichst große Bevöl­ke­rung besorgen. Unter unseren Scheren rie­selten Sol­daten zu Boden, Bauern, Beamte, Priester, See- und Kauf­leute. Sol­daten machten wir natür­lich am liebsten. Wir erfanden Uni­formen und Waffen für sie, Orden, Ränge und für die größten Helden sogar Cha­rak­tere. Ich hatte das Spiel erfunden und meine Freunde sofort ange­fixt, wir konnten stun­den­lang auf dem Boden her­um­krab­beln, unsere Armeen und Bevöl­ke­rungen ver­schieben, Städte errichten und uns pau­senlos beschießen und bekriegen: tam, tam, tadam. Tau­sende Figuren mussten unseren Befehlen gehor­chen. Wir waren zwölf, drei­zehn Jahre alt, das Zeit­alter der Com­pu­ter­spiele war noch nicht ange­bro­chen, aber unser Spiel begeis­terte uns auf eine Art und Weise, wie es die heu­tigen Baller‑, Arcade- und Stra­te­gie­spiele nicht ver­mögen. Wir spielten nach der Schule bei mir zu Hause, und unsere Welt musste wieder abge­baut sein, bevor meine Eltern von der Arbeit kamen, sonst musste alles hastig unter den Füßen der Erwach­senen zusam­men­ge­rollt werden, und man vergaß in der Eile, welche Grenzen gerade in der Welt gezogen worden waren. Manchmal kamen die Erwach­senen früher und erwischten uns mitten in unserer kol­lek­tiven geis­tigen Umnach­tung. Anfangs ach­teten sie nicht weiter darauf, was sich da vor ihren Füßen abspielte, aber mit der Zeit wurden sie hellhörig.

Wie gesagt, die Idee zu dem Spiel stammte von mir, meine Freunde waren nei­disch des­wegen und wollten Ein­fluss auf die Regeln nehmen, aber das passte mir ganz und gar nicht. Des­halb erhoben wir uns mit­unter vom Boden und setzten den Wider­streit im Luft­raum fort – da standen sich nicht mehr Papier­fi­guren gegen­über, son­dern gestrenge Gott­heiten mit geballten Fäusten.

Und noch eine wei­tere Idee stammte von mir: nicht nur Papier­sol­daten, ‑mönche und ‑werk­tä­tige für das Spiel zu bas­teln, son­dern auch Frauen. Keine Frage, über den Frau­en­fi­guren saßen wir deut­lich länger, ver­such doch mal all die geheim­nis­vollen Kurven und Kat­zen­pro­file aus­zu­schneiden, die feine Spitze der rät­sel­haften Körper, die jemand erfunden haben musste, um uns zu strafen, Körper, Körper, an die man nur denken musste, schon wurden einem die Hände feucht, die Brust­warzen hart und es zog einem zwi­schen den Beinen. Einmal gezit­tert, schon hat­test du statt einer Frau eine auf­ge­dun­sene, unför­mige alte Hexe. Und Alte zählten nicht. In unseren Spielen kamen über­haupt weder Alte noch Kinder vor. Nur gesunde, weiße Papier­manns­bilder, die ihres­glei­chen aus dem Weg räumen wollten.

Es ist schon eine Krank­heit, diese Jung­szeit. Mein Körper kam mir damals vor wie ein Baum im Früh­ling. Ich sah in den ersten Knospen an den Zweigen, in den Schmerzen, unter denen sie sich im Früh­jahr öff­neten, in ihrem Flaum und ihrem mor­gend­lich saf­tigen Stöhnen, das ich allein zu hören schien, etwas meinem armen Kna­ben­körper Ver­wandtes. Was war das für eine Qual. Die Leiden des Drei­zehn­jäh­rigen. Denn unsere Fan­tasie war damals so in Schwung, dass wir kei­nerlei Pornos brauchten, keine Sti­mu­lan­zien. Irgend­wann konnte ich nicht mehr an mich halten und zeich­nete nackte Frau­en­fi­guren, alle grölten vor Lachen und folgten erleich­tert meinem Bei­spiel, und dann lagen wir bäuch­lings auf unseren Impe­rien und ver­gli­chen, wer es wie hin­be­kommen hatte, wir lagen knallrot am Boden, als hätte man uns die Haut abge­zogen, und irgendwie wollten wir ein­ander nicht in die Augen sehen, und wir hatte Angst, unsere Eltern könnten gleich kommen und uns bei diesem Spiel über­ra­schen. Diese Angst war so groß, dass wir die Frau­en­fi­guren nach jedem Spiel zer­störten, das nächste Mal mussten wir wieder neue bas­teln. Und wir bas­telten, eifrig und unbe­holfen, und wir wussten nicht mehr, wer wir waren, Götter, Sklaven oder Ver­rückte, und wir lachten laut, und wir fluchten, und wir fuhren aus der Haut wegen etwas Unaus­sprech­li­chen, Schreck­li­chen und Unausweichlichen.

[…]

Was das mit kon­stru­ierten Spra­chen zu tun hat, fragen Sie sich? Mit Bal­buta? Ist sie etwa schon damals ent­standen? Natür­lich nicht. Bal­buta war noch so fern wie der Mond.

So fern wie der Papier­mond für den geschärften Bleistiftzahn.

Aber damals, bei unseren komi­schen Spielen, wenn wir unsere Papier­fi­guren über den Boden schoben, stellte ich eine wich­tige Bedin­gung an die Jungs: Wenn wir schon Staaten und Völker hatten, müssten wir auch Spra­chen für sie erfinden, erklärte ich ihnen unge­duldig. Es erschien mir so offen­sicht­lich, ich hätte heulen können, aber leider ging das nur mir so. Meine Freunde ließen sich wider­willig darauf ein, aber es war zwecklos: Sie begnügten sich mit zwei-drei dürren Phrasen, reines Dekor, sinn­lose Phrasen, die sie sich selber nicht merken konnten. Und wenn ich sie aus­fragte, wie dies oder jenes Wort oder eine Wen­dung in ihrer Sprache hieß, war immer schnell Schluss. Ich habe ihre rauen, über­drehten Stimmen noch im Ohr: Ich würde ihnen mit meinen Launen nur das Spiel ver­derben. Inzwi­schen ist mir natür­lich alles klar. Sie wollten etwas anderes: tam, tam, tadam, Macht, Schüsse, Sol­daten und nackte Frau­en­fi­guren. Ein paar aus dem Stand erfun­dene Wörter für ihr Volk fanden sie völlig aus­rei­chend und waren dann ver­är­gert, wenn ich ihnen die grus­ligen Unstim­mig­keiten in ihren Sprach­sys­temen aufzeigte.

Mir war das näm­lich bit­ter­ernst. In dicken Heften legte ich Wör­ter­bü­cher und Gram­ma­tiken für meine papiernen Unter­tanen an. Und ich ach­tete streng darauf, dass in meinem Land alles regel­kon­form zuging. Gab einer meiner Gene­räle eine schrift­liche Order, musste ich immer wieder in meinen Heften nach­schlagen. Meine Gene­räle durften keine Fehler machen. Jeden­falls keine sprach­li­chen. Das ärgerte meine Freunde. Ihre eilig zusam­men­ge­schnip­pelten Völk­chen spra­chen munter Rus­sisch, obwohl sie auf dem Papier ihre Lan­des­spra­chen hatten. Klingt irgendwie ver­traut, nicht? In meinen Truppen und Geheim­diensten gab es sogar eigens aus­ge­schnit­tene und aus­ge­malte Spe­zi­al­kräfte mit dunklen Brillen, die die Spra­chen der Feinde lernen sollten, aber sie hatten ein­fach nichts zu tun und ver­schlissen auf den Tep­pi­chen ihre Papierhosen.

[…]

Ja, schon als drei­zehn­jäh­riger Freak in Trai­nings­hosen hatte ich Spra­chen erfunden. Mein Lieb­lings­buch war damals das Wör­ter­buch des jungen Phi­lo­logen. Beson­ders der Ein­trag, der über­schrieben war mit „Künst­liche Spra­chen“. Ich sehe ihn noch vor mir: Er war auf der rechten Seite, links war eine Abbil­dung, und er ging auf der Fol­ge­seite noch weiter, ich las ihn wieder und wieder und erin­nere mich noch genau an das schale Gefühl, wenn ich die Seite umblät­terte – der Ein­trag war ärger­lich kurz und viel zu schnell zu Ende. Ich wollte unbe­dingt mehr Infor­ma­tionen, aber die waren nir­gends zu bekommen, nicht in der Schul­bü­cherei, auch nicht in der Stadt­teil- oder Stadt­bi­blio­thek, überall die­selbe Arm­se­lig­keit, ich hatte nur mein armes, weißes, all­wis­sendes Wör­ter­buch: kack­braune Kakao- und Kon­fi­tü­re­fle­cken auf meiner Leib- und Magen­seite, Keks­krümel, in Ewig­keit geplättet im prallen Falz, anthro­po­morphe Sprach­äste in den Abbil­dungen. Bald schlug es sich von selbst auf der rich­tigen Seite auf. Um wie­derum diese Arm­se­lig­keit zum Vor­schein zu bringen, die ich längst aus­wendig kannte. Und doch habe ich eben aus diesem weißen Büch­lein zum ersten Mal von Espe­ranto und Zamenhof erfahren, von Volapük und Pfarrer Schleyer, von Ido und Inter­lingua. Diese Worte ver­zau­berten mich, Ido Espe­ranto klang für mich nach einem Frau­en­namen, und Volapük wie der Name einer woll­lüs­tigen Wald­gott­heit, die der unschul­digen Nymphe (bzw. der Nym­pho­manin) nach­jagte. Fast konnte ich die fremden, unver­ständ­li­chen Worte hören, die ihnen über die Lippen gingen; das Bild, das ich vor mir sah, sobald ich mein Wör­ter­buch zur Hand nahm, hatte etwas Ver­ruchtes und Beun­ru­hi­gendes. Das Wör­ter­buch lag immer richtig – bei ihm konnte ich die Scheuß­lich­keit unserer Sied­lung und den Irr­sinn an meiner schreck­liche Mit­tel­schule ver­gessen, die öden Pflichten, die roten Arm­binden der Dienst­ha­benden, mit denen wir Schüler aus­sahen wie Jungnazis. Mit seinem festen Ein­band, rundum positiv und kor­rekt, voll far­biger Illus­tra­tionen wie eine Kin­der­bibel, ver­hieß dieses ver­füh­re­ri­sche Wör­ter­buch für Ober­stu­fen­schüler mit seinem gesamten Aus­sehen jedem Jungen oder Mäd­chen, das die Phi­lo­logie aus­erkor, einen Platz in den Reihen der Intel­li­gen­zija: all­zeit sau­bere Hände, Schreib­stu­ben­ruhm und den weißen Befrei­ungs­schein für die schwär­zesten Arbeiten. Mein Glaube daran war rasch ver­flogen. Aber die Spra­chen hatten mich ver­zau­bert, und der größte Zauber bestand darin, dass das tat­säch­lich mög­lich war: etwas eigenes erschaffen. 

Später begriff ich, wes­halb es mir nicht gelungen war – ich hatte den Anfän­ger­fehler gemacht, der einem ernst­haften Sprach­kon­struk­teur nicht unter­laufen darf: Ich wollte, dass die Spra­chen, die ich erfand, wie lebende Spra­chen waren. Wie bereits exis­tie­rende. Eine Rede, die den Anschein von Leben erweckte. Spra­chen, wie von Mil­lionen Men­schen ver­wendet, seit hun­derten von Gene­ra­tionen, ergraute, urwüch­sige Spra­chen, in denen eine Vor­ge­schichte ver­borgen lag. In meinen Kon­struk­tionen brei­tete ich gewis­ser­maßen den Klang­tep­pich für meine Serie aus, schmückte die mir ver­trags­mäßig zuste­hende Kunst­welt mit einer Kunst­sprache. Ich war nicht frei. Alles sollte sein wie bei anstän­digen Leuten, aber ich hatte nur meine stüm­per­haft aus­ge­schnit­tenen Papier­fi­guren zur Hand. Mir wäre im Traum nicht ein­ge­fallen, dass auch meine Freunde und ich Helden waren, die eine Sprache ver­dient hätten, dass wir die fer­tige Vor­ge­schichte waren, durchaus geeignet, etwas Neues hervorzubringen.

Eine Sprache zu erschaffen, ist Schwerst­ar­beit. Damals und auch noch später, bevor in meinem Leben die lange Zeit der Nie­der­lage anbrach, hatte ich mehr­fach ver­sucht, etwas Wert­volles zuwege zu bringen, stol­perte aber immer wieder über ein Pro­blem, dessen ich ein­fach nicht Herr wurde. Je leben­diger meine Sprache wirkte, desto mehr ver­langte sie nach Kon­ven­tionen, Ent­spre­chungen und Regeln. Ich ent­warf unge­duldig und schludrig Lexik und Gram­matik und hoffte, end­lich zum ret­tenden Grund vor­zu­stoßen – aber Sprache ist uner­sätt­lich, sie will immer noch mehr, und du stürzt dich hinein, ver­tiefst dich in der Hoff­nung auf ein Wunder, aber bis zum Grund ist es noch ent­setz­lich weit. Und du gehst ein­fach unter. Du ver­sinkst in den Untiefen der Sprache, in ihren Ver­hei­ßungen. Inzwi­schen weiß ich, dass man, um eine Sprache erfinden zu können, zuerst selbst ihren Grund defi­nieren muss. Und sich dann von dort abstoßen und ver­gessen, wo und wie tief der Grund liegt. Es der Sprache selbst über­lassen, ihren Grund bald weniger, bald mehr dem­je­nigen anzu­nä­hern, der sich in sie versenkt.

Wahre Sprach­kon­struk­teure schaffen keine Spra­chen, die sind „wie lebendig“. Sie schaffen lebende Sprachen.

Bal­buta ist so lebendig geworden, dass sie sogar jemanden das Leben gekostet hat.

Aus dem Bela­rus­si­schen von Thomas Weiler

Aus­züge aus Kapitel 2 des ersten Teils von Sabaki Ėŭropy von Al’herd Bacharėvič, nach einer Aus­wahl des Autors