Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Big brot­hers and sis­ters are wat­ching you – oder die Abwe­sen­heit des Privaten

Alissa Gani­jewa nimmt in ihrem zweiten Roman „Eine Liebe im Kau­kasus“ („Ženich i nevesta“) das post­so­wje­ti­sche Dorf im Kau­kasus unter die Lupe und schil­dert beein­dru­ckend die fun­da­men­tale Ver­än­de­rung der kul­tu­rellen, reli­giösen und sozialen Werte der dage­sta­ni­schen Gesellschaft.

 

Das Cover der deutsch­spra­chigen Aus­gabe des zweiten Romans von Alisa Ganieva [Alissa Gani­jewa] zeigt eine Foto­grafie von Thomas Dworzak. Im Hin­ter­grund das Kas­pi­sche Meer. In der Bild­mitte ist zwi­schen zwei mit dem Rücken zum Betrachter ste­henden Frauen eine dritte Frau­en­ge­stalt zu erkennen. Die Frauen am Strand tragen Kopf­tü­cher und sind kon­ser­vativ gekleidet. Die ein Stück weit jünger wir­kende Frau im Wasser hin­gegen trägt einen Bikini und eine schwarze Son­nen­brille und zieht die ganze Auf­merk­sam­keit auf sich. Man kann sich den spöt­ti­schen Gesichts­aus­druck der beiden Damen nur zu gut vor­stellen. Nichts könnte die gespal­tene Gesell­schaft Dage­stans, die im Fokus des Romans Eine Liebe im Kau­kasus (Ženich i nevesta) von Alisa Ganieva steht, besser illustrieren.

 

Aus zwei unter­schied­li­chen Per­spek­tiven erzählt der Roman der jungen rus­sisch­spra­chigen Autorin aus Machatschkala über das Leben in einem kleinen Dorf im Kau­kasus. Zwei Hand­lungs­stränge erlauben dem Leser sowohl eine fast intime Nähe zu Figuren als auch einen eher distan­zierten Blick auf das Erzählte. Die Prot­ago­nisten Marat und Petja werden als Romeo und Julia von Dage­stan sti­li­siert. Wegen des ört­li­chen Olig­ar­chen Halilbek sind die Eltern des Paares ver­feindet. Marat und Petja sind hoch­ge­bildet, arbeiten in Moskau, wo die dage­sta­ni­sche Her­kunft immer noch exo­ti­siert wird, und lernen sich zufällig in ihrem Hei­mat­dorf kennen. Die Eltern beider Prot­ago­nisten wün­schen sich nur eins – die Kinder so bald wie mög­lich zu ver­hei­raten. Die Absur­dität dieses Vor­ha­bens wird noch weiter zuge­spitzt: Es stellt sich heraus, dass Marats Eltern sogar schon den Hoch­zeits­saal für einen festen Termin reser­viert haben, obwohl die Braut noch nicht aus­ge­wählt wurde.

 

Ganieva arbeitet mit aller Deut­lich­keit heraus, dass die dage­sta­ni­sche Gesell­schaft extrem auf das Hei­raten fixiert und dass Hei­raten bei­leibe keine indi­vi­du­elle Ent­schei­dung ist. Den jungen Men­schen wird keine Pri­vat­sphäre gegönnt. Die Gen­der­frage macht hier keinen großen Unter­schied. Sowohl die Mäd­chen als auch die jungen Männer stehen unten dem starken Ein­fluss der Mütter, die nur das Ziel haben, die Kinder mög­lichst schnell und lukrativ zu ver­hei­raten: „Hoch­zeits­ge­schäfte auf Schritt und Tritt. Bou­ti­quen euro­päi­scher Desi­gner, Zen­tren isla­mi­scher Braut­mode, Kri­no­linen, Schleppe, Tüll­schleier, Pelz­kol­liers, exklu­sive Kol­lek­tionen… Pla­kate Saal­ver­mie­tung für die Braut­wer­bung, (…) Wer­bung für ange­sagte Schön­heits­sa­lons mit Spe­zi­al­pro­grammen für Bräute, Augen­brauen-Thre­a­ding, Revi­ta­li­sie­rung der Haut, Laser­e­pi­la­tion des Intim­be­reichs… Alle tun nichts anderes als hei­raten, hei­raten und noch­mals hei­raten. Als gäbe es keine andere Beschäftigung.“

 

Irra­tio­na­lität und Aber­glauben sind die Drogen, die den Dorf­be­woh­nern das Leben erträg­li­cher machen. Es ist viel ein­fa­cher, an hei­lige Mächte oder an die höheren Kräfte des Dorf­o­lig­ar­chen Halilbek zu glauben, als die Wirk­lich­keit in ihrer ganzen Bru­ta­lität anzu­er­kennen. Als Russik – die Außen­sei­ter­figur schlechthin und der Freund von Marat – von den Dorf­be­woh­nern getötet wird, breitet sich im Dorf das Gerücht aus, dass er als Strafe für seine blas­phe­mi­schen Äuße­rungen vom Blitz getroffen worden sei. Man nimmt es hin und stellt keine wei­tere Fragen, um die ver­meint­liche Nor­ma­lität des dörf­li­chen Lebens wieder her­stellen zu können. Außerdem steht ja auch schon die nächste Hoch­zeit an!

 

Durch den Per­spek­tiv­wechsel zwi­schen Ich-Erzäh­lerin und all­wis­sendem Erzähler wird der unmit­tel­bare Wandel, der die ver­traute dörf­liche Ord­nung langsam durch­bricht, immer deut­li­cher erkennbar. Dabei ent­steht das Gefühl, dass die Ver­än­de­rungen und die fun­da­men­talen gesell­schaft­li­chen Umbrüche erst noch anstehen. Die Spal­tung der dörf­li­chen Gesell­schaft nimmt im Roman eine wei­tere Dimen­sion an, wenn es um Reli­gion geht. Die reli­giösen Gruppen, die Außen­ste­hende den Wah­ha­biten zuordnen, finden in der Moschee ihre Zuflucht, obwohl es auch inner­halb dieser oppo­si­tio­nell gestimmten Gruppe Kon­flikte gibt. Über­haupt lässt sich dort ein wich­tiger Wandel beob­achten: Die Reli­gio­sität des Ein­zelnen hat einen höchst poli­ti­schen Cha­rakter. Glaube wird auto­ma­tisch mit Ter­ro­rismus gleich­ge­setzt, Frauen im Niqab werden arg­wöh­nisch beäugt und erwe­cken bei den Nach­barn großes Misstrauen.

 

Marat und Petja dürfen schließ­lich doch hei­raten. Die beiden Fami­lien und das Dorf müssen die Ent­schei­dung des hart­nä­ckigen Paares letzt­end­lich akzep­tieren. Doch das größte Unglück lauert noch auf das Braut­paar – Marat wird ent­führt. In der Schluss­szene ent­flieht Petja Rich­tung Meer. Doch es han­delt sich nicht um eine ein­fache Flucht mit einem roman­ti­schen Son­nen­un­ter­gang und dem übli­chen Möwen­ge­schrei im Hin­ter­grund. Es ist viel mehr: Petja bricht aus dem Vakuum aus, in dem sie ver­zwei­felt nach Luft schnappt. Mit großer Ein­dring­lich­keit nehmen hier die Leser wahr, wie die Luft in ihrem Zimmer am Tag ihrer Hoch­zeit, nach dem mys­te­riösen Ver­schwinden ihres Geliebten Marat, immer dicker wird. Ihr bleibt nur die Flucht, und wohin, wenn nicht zum kas­pi­schen Meer: „End­lich ruckte der Zug an, und die Sied­lung glitt langsam zur Seite. Und das Meer kam immer näher, immer näher. (…) In der Ferne wan­derte eine weib­liche Gestalt am Ufer ent­lang, knie­tief im Wasser, den Saum ihres unför­migen Kleides ein­tau­chend. (…) Alles war so gut, dass es gar nicht besser sein konnte. In einem Punkt beschlossen.“

 

Das Meer ist eine der Schlüs­sel­me­ta­phern des Romans. Für die Figuren hat das Kas­pi­sche Meer ein­deutig einen befrei­enden Cha­rakter. Diese kathar­ti­sche Wir­kung evo­ziert den Ein­druck, dass es hier um viel mehr geht als um zwei gebro­chene junge Herzen. Es bleibt das Gefühl, dass Petjas Aus­bruch aus diesem geschlos­senen Kreis als ein erstes Anzei­chen für die grund­le­gende gesell­schaft­liche Wende in Dage­stan auf­zu­fassen ist, die noch ansteht.

 

Gani­jewa, Alissa: Eine Liebe im Kau­kasus. Aus dem Rus­si­schen von Chris­tiane Körner. Berlin: Suhr­kamp, 2016.
Ganieva, Alisa: Ženich i nevesta. Moskva: AST-EKSMO, 2015.