Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Ameisen im Bauch

Ein Inter­view mit Anna Starobinec

 

Anna Sta­ro­binec gilt als die ein­zige Autorin Russ­lands, die eine bel­le­tris­ti­sche Schreib­weise mit dem Genre der Mys­tery- und Fan­tasy-Lite­ratur ver­bindet. Mit ihrem ersten Erzähl­band, der unter dem Titel Perechodnyj voz­rast (Pubertät) 2005 beim Sankt Peters­burger Verlag Limbus Press erschienen ist, machte sie sich einen Namen. In diesem Jahr debü­tierte sie im selben Verlag als Roman­au­torin mit Ubežišče 3/9 (Asyl 3/9). In ihrer Prosa erzählt sie sowohl vom rus­si­schen Alltag als auch von Mythen und mys­te­riösen Geschichten, die Moskau zu einem Ort unheim­li­cher Ver­wand­lungen, Revo­lu­tionen, Beses­sen­heiten machen. Gleich­zeitig richtet sich in ihren Texten der Blick in die intimen Bereiche des Lebens, die Familie, die Bezie­hungen zu anderen Men­schen. In die Wirk­lich­keits­ebene der rus­si­schen All­tags­welt mit Vater, Mutter, Kind bricht eine Welt von Cyborgs, Ameisen, Hexen und anderen fan­tas­ti­schen Figuren ein…

 

starobinec_buchIn Ubežišče 3/9 wird die Geschichte einer jungen Frau namens Maša erzählt. Jaša, ihr Kind, hat einen schweren Unfall erlitten. Er befand sich lange Zeit im Koma und erwachte dann als schwei­gender Autist. Maša, die ihren Sohn in ein Heim für behin­derte Kinder gegeben hatte, als er sich noch im Koma befunden hatte, arbeitet seitdem als Foto­jour­na­listin und reist in Europa herum. Nach einigen Jahren ver­liert sie plötz­lich das Gedächtnis und ver­wan­delt sich in einen “unreinen” Mann, einen Obdach­losen, der ständig von jenen Träumen und Ereig­nissen aus Mašas Leben träumt, die diese lange Zeit ver­drängt hatte. Im Traum erscheint ihr eine Mär­chen­welt, in der sie ihren Sohn trifft. Es stellt sich heraus, dass Mašas Sohn, der eins­tige Jaša, als Held Vanja zusammen mit dem Zau­berer “Gerippe Unsterb­lich”, der Hexe Baba-Jaga, dem Lešij, dem gefähr­li­chen Wald­geist, und anderen “unreinen” Figuren der rus­si­schen (und zum Teil deut­schen) Volks­my­tho­logie in einer Mär­chen­welt wohnt. Der unreine Mann/Maša stirbt und gerät selbst in diese Welt, kehrt zu dem ver­las­senen Kind zurück. So auch der ver­lo­rene Vater, der eben­falls einige Zeit eine Ver­wand­lung durch­lebt hat. Die “Heim­kehr” ins Asyl ist zugleich die letzte Ret­tung, denn der realen Welt steht ein “sdvig” bevor, eine apo­ka­lyp­ti­sche Ver­schie­bung. Am Ende des Romans, als eben jene Welt endet, ver­ei­nigt sich in der Welt der Fan­tastik, im Asyl, das der Junge ein­ge­richtet hat, im Kreis der Mär­chen­fi­guren die Familie.

 

anna-starobinec4 anna-starobinec5Anna Sta­ro­binec, geboren 1979, lebt und arbeitet in Moskau. Ihre Texte sind bisher nicht auf Deutsch erschienen. In einem E‑Mail-Inter­view fragten wir Anna Sta­ro­binec zur aktu­ellen Situa­tion junger AutorInnen in Russ­land und ihrem bis­he­rigen lite­ra­ri­schen Schaffen.

 

novinki: Vorab würden wir gern wissen, ob es Fragen an Sie als Schrift­stel­lerin gibt, die Sie über­haupt nicht mögen?

 

Anna Sta­ro­binec: Ja, die gibt es. Ich mag es zum Bei­spiel über­haupt nicht, wenn man mich fragt: “Finden Sie das Leben unheim­lich?” (Die Frage kommt ziem­lich oft auf…) Oder: “Warum ist Ihre Prosa so düster, wo Sie doch so nett aus­sehen?” In diesen Fällen komme ich gewöhn­lich aus dem Kon­zept und fühle mich ziem­lich dumm.

 

n: In Deutsch­land sind Sie eine noch unbe­kannte Schrift­stel­lerin, nicht nur den Lesern, son­dern bisher auch noch Ver­le­gern und Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lern. Laut Lev Danilkin, einem bekannten rus­si­schen Lite­ra­tur­kri­tiker, gelten Sie in Russ­land als Ver­tre­terin einer neuen Gene­ra­tion junger, pro­fes­sio­neller Schrif­stel­le­rInnen. Können Sie Danilkin zustimmen, dass es schwer ist, Ihre rus­si­schen lite­ra­ri­schen Vor­bilder zu bestimmen?

 

S: Ich bin eigent­lich nicht ganz ein­ver­standen mit der Behaup­tung, dass ich über­haupt kei­nerlei lite­ra­ri­sche „Wur­zeln“ hätte. Der rus­si­schen Tra­di­tion, wie Sie sie nennen, stehe ich sehr respekt­voll gegen­über – gerade Gogol′ hat mich sehr stark beein­flusst. Dazu Bul­gakov und, ent­schul­digen Sie schon die Platt­heit, Dostoevskij. Sogar auf sprach­li­chem Niveau ver­suche ich nicht gänz­lich aus dieser Tra­di­tion her­aus­fallen – und auch irgendein Jugend­slang erscheint mir nicht ganz das pas­sende Register für Lite­ratur zu sein, und sei sie auch noch so modern. Was meine west­li­chen „Ori­en­tie­rungs­punkte“ betrifft: ich fühle mich dem Schaffen Hoff­manns, Kafkas, Brad­burys sehr nah und von den gegen­wär­tigen Autoren dem Ste­phen Kings und Neil Gai­mans, des Gotik­mär­chen-Meis­ters. Übri­gens ist Gai­mans Roman Ame­rican Gods einer meiner liebsten, wes­halb ich mir in Ubežišče 3/9 einige lite­ra­ri­sche Anspie­lungen auf ihn erlaubt habe.

 

n: Erzählen Sie doch bitte einmal, wie Sie Schrift­stel­lerin geworden sind.

 

S: Den Erzähl­band Perechodnyj voz­rast habe ich wäh­rend einiger Monate geschrieben. Ich habe vor­wie­gend nachts geschrieben, da ich ein Baby hatte und tags­über bei einer Zeit­schrift arbei­tete. Auf die Frage, warum ich zu schreiben begonnen habe, kann ich nicht ant­worten. Ich habe damit begonnen, und das war’s… Ich brauchte das wohl. Mög­li­cher­weise war einer der neben­säch­li­chen Gründe dafür der unter­schwel­lige Wunsch, etwas zu schreiben, was ich (als Lite­ra­tur­kri­ti­kerin und ein­fach Leserin) gerne lesen würde – und was ich zwi­schen den rus­si­schen Neu­erschei­nungen nicht gesehen habe. Horror und Mys­tery à la Ste­phen King oder Neil Gaiman ist nicht gerade das meist­ver­brei­teste Genre in unserem Land.

 

n: Wie kam es, dass Ihr Debüt in Form eines Bandes mit einer Novelle und kurzen Erzäh­lungen unter dem Titel Perechodnyj voz­rast im Verlag Limbus Press erschien?

 

S: Das ist ganz ein­fach. Als ich das Manu­skript fertig geschrieben hatte, habe ich es an ver­schie­dene Ver­lage geschickt. Ins­ge­samt sechs wollten es dru­cken. Die Bedin­gungen bei Limbus Press haben mich am meisten angesprochen.

 

n: Sie arbeiten (oder arbei­teten) als Jour­na­listin und haben ein Kind. In einem Inter­view haben Sie erzählt, dass Sie Bel­le­tristik nur nachts wäh­rend zwei oder drei Stunden schreiben konnten, der ein­zigen Zeit, die frei von beruf­li­chen und müt­ter­li­chen Pflichten ist. Hat sich die Situa­tion, in der Sie als Schrift­stel­lerin schreiben, seitdem verändert?

 

S: Die Situa­tion hat sich nicht ver­än­dert: Mein Kind ist ein biss­chen größer geworden, aber – zum Glück – immer noch da. Ich habe gehei­ratet – habe aber dadurch noch weniger Frei­zeit… Die Arbeit habe ich gewech­selt (von der Zeit­schrift zu einer Zei­tung) – aber die neue Arbeit nimmt nicht weniger Zeit in Anspruch als die alte. Leider kann ich die Arbeit als Jour­na­listin nicht auf­geben: die Schrift­stel­lerei bringt in unserem Land nur etwas ein, wenn du Boris Akunin oder Alek­sandra Mari­nina bist. Unser Kind hat natür­lich eine Tages­mutter – aber trotzdem schaffe ich kata­stro­phal wenig. Und Ubežišče wurde mit der­selben „nächt­li­chen“ Methode geschrieben wie das erste Buch. Ver­mut­lich habe ich ein­fach solch eine „nächt­liche“ Methode, da kann man nichts mehr machen…

 

n: Sie und Ihre jungen Schrift­steller-Kol­le­ginnen, bei­spiels­weise Anna Koz­lova, sind der weib­liche Teil der neuen Gene­ra­tion junger rus­si­scher Schrift­stel­le­rInnen. Inter­es­sant ist, dass beim Ver­such der Kritik, Ihre Lite­ratur zu cha­rak­te­ri­sieren, die Bezeich­nung „Frau­en­prosa“ nicht auf­taucht, im Unter­schied zur Bestim­mung der Prosa Petruševs­kajas, Tol­stajas oder Ulick­ajas durch die zeit­ge­nös­si­sche Kritik. Können Sie sich erklären warum das so ist?

 

S: Also diese Frage müsste wohl nicht mir, son­dern jenen gestellt werden, die diese „Eti­ketten“ ver­teilen. Ich per­sön­lich fühle mich einer „Damen­prosa“ nicht nah (und ich mag sie zudem nicht), aber ein tap­ferer Hemingway wird aus mir wohl auch kaum werden. Ich mag es über­haupt nicht, wenn ein lite­ra­ri­scher Text irgend­eine Gender-Fär­bung bekommt. Ich hoffe, dass man das, was ich schreibe, wirk­lich nicht nach Geschlech­ter­merk­malen bestimmen kann.

 

n: Ihre Prosa gilt als etwas gänz­lich Neues in der rus­si­schen Lite­ratur. Was meinen Sie, worin besteht die Eigenart Ihrer Texte?

 

S: Die Eigenart… Diese Frage sollte wohl nicht mir gestellt werden, aber wenn ich sie nun schon beant­worte – denke ich, dass die Eigenart darin besteht, dass es ganz zeit­ge­nös­si­sche Texte sind, in denen die Ver­fahren der west­li­chen Fan­tastik auf die rus­si­sche Lite­ratur und Russ­lands Rea­lien ange­wendet werden. Dass es also Texte sind, die auf rus­si­schem Boden gewachsen, aber mit Kafka und King “geimpft” worden sind. Im End­ergebnis kommt wahr­schein­lich ein ziem­lich unge­wöhn­li­cher Hybride heraus. Außerdem sind es wohl so genannte “kluge” Texte, die für ein bestimmtes intel­lek­tu­elles Niveau des Lesers aus­ge­legt sind – was für die rus­si­sche Fan­tastik nicht cha­rak­te­ris­tisch ist.

 

n: Ihre Prosa wird mit Philip Dick, Ste­phen King, mit David Cro­nen­bergs Filmen ver­gli­chen. Ist Ihnen dieser Ver­gleich sympathisch?

 

S: Ich finde das gut. Was kann denn ange­nehmer sein, als mit Dick ver­gli­chen zu werden (obwohl ich per­sön­lich keine große Ver­eh­rerin seines Schaf­fens bin) oder mit King, anstatt mit Mari­nina oder Don­cova. Aber dass man über­haupt mit nie­mandem ver­gli­chen wird, das gibt es wahr­schein­lich gar nicht. Um dem Leser zu erklären, wen er mit diesem oder jenem “New­comer” vor sich hat, braucht man einen Ver­gleich – das sage ich als Journalistin.

 

n: Sowohl in allen Ihren Erzäh­lungen, als auch in Ihrer Novelle und Ihrem neu­esten Roman gibt es immer zwei Schichten, zwei Rea­li­täten. Einer­seits die all­täg­liche Rea­lität mit den völlig durch­schnitt­li­chen Per­sonen, deren Leben ohne nen­nens­werte Zwi­schen­fälle ver­läuft, ande­rer­seits gibt es dort eine in ihrer Unaus­weich­lich­keit grau­same, sur­rea­lis­ti­sche Welt oder, wie in Ubežišče 3/9, eine mär­chen­hafte, fan­tas­ti­sche. Alle Per­sonen sind in diese „zweite“ Welt ein­ge­bunden, und sie macht ihr Leben zur Hölle, umso mehr, als dass die Figuren durch höhere Mächte und Hin­der­nisse außer­stande sind, zwi­schen den beiden Welten zu kom­mu­ni­zieren. Nehmen wir als Bei­spiel die Erzäh­lung Perechodnyj voz­rast. Hier wird indi­rekt der Zer­fall einer Familie nach der Schei­dung der Eltern the­ma­ti­siert, aber im Vor­der­grund steht die all­mäh­liche Meta­mor­phose eines 12-jäh­rigen Jungen in einen „Amei­senbau-Men­schen“ und die voll­kom­mene Hilf­lo­sig­keit, mit der die ver­zwei­felte Mutter den Ver­än­de­rungen ihres Sohnes zusehen muss. In der Erzäh­lung Sem’ja (Die Familie) wird ein Mann vorgestellt, der in eine Situa­tion gerät, in der er sich plötz­lich in „seiner“ Familie wie­der­findet. Er kann diese aber nicht als seine eigene akzep­tieren, weil sein vor­he­riges Leben und seine Erin­ne­rungen über­haupt nicht mit der Exis­tenz dieser Men­schen über­ein­stimmen. Sie haben sich für solch eine Struktur ent­schieden – diese Ver­flech­tung einer all­täg­li­chen Rea­lität und einer sur­realen, mär­chen­haften Welt. Was für eine Rolle spielt hier diese „zweite“ Welt – ist sie die Ent­frem­dung, eine Meta­pher für die beschrie­bene All­tags­rea­lität oder ein rein fan­tas­ti­sches Ele­ment, das um des Lesers Schre­cken willen und zu seinem Ver­gnügen ver­wendet wird und das man nicht ent­schlüs­seln kann?

 

S: Na ja, wahr­schein­lich kenne ich per­sön­lich diese Art von Angst: Plötz­lich zu merken – ganz in der Tra­di­tion David Lynchs – dass “die Eulen über­haupt nicht das sind, was sie zu sein scheinen”. Allen Men­schen ist Solip­sismus eigen, aber dabei fühlen manche doch ein Unbe­hagen, dass viel­leicht hinter deinem Rücken noch irgend­je­mand / irgend­etwas steht. Ich zumin­dest fühle das. Über­haupt (ich will ja keine Bana­li­täten aus­spre­chen, aber die Frage zielt darauf) sind diese zwei Welten in meinen Büchern eine ent­fal­tete Meta­pher unserer Lebens­ein­stel­lung und ‑wahr­neh­mung. Wir haben einen „ver­ne­belten“ Blick auf die Dinge und auf uns selbst. Wir sind daran gewöhnt, alles als ein­deutig, schwarz-weiß wahr­zu­nehmen. In Wirk­lich­keit aber hat alles einen dop­pelten Boden, eine Kehr­seite, Schatten und Schat­tie­rungen, und unsere gewohnte Welt kann in einem belie­bigen Augen­blick – ja, auf einmal Kopf stehen und die­je­nigen, die uns nahe stehen können – ja, ganz ent­fernt sein und auch wir selbst ris­kieren es ebenso, in uns etwas „Fremdem“ zu begegnen, etwas Unbe­kanntem, Unan­ge­nehmen… Zu jedem Ego gibt es ja immer ein Alter Ego, und in der Regel ist es sehr schwer, einen Kon­takt zwi­schen beiden herzustellen.

 

n: Kann man sagen, dass Sie in der Prosa, im Mär­chen eine Mög­lich­keit sehen, von den Trau­mata der rus­si­schen Rea­lität zu erzählen (Krise des Fami­li­en­le­bens, Tech­nik­ha­va­rien mit töd­li­chem Aus­gang, erschre­ckende Zustände in „sozialen“ Ein­rich­tungen, Obdach­lo­sig­keit…)? Wie Mascha, die Haupt­figur aus Ubežišče 3/9, die die wegen ihres Aus­se­hens und ihres Ver­hal­tens erschre­ckend wir­kenden Behin­derten in einem Kin­der­heim foto­gra­fiert, weil sie sonst von totaler Ver­zweif­lung erfasst werden würde, so gestalten Sie die Schre­cken des All­tags in Bilder, in ein Mär­chen um, um dem All­tags­leben einen fan­tas­ti­schen Sinn zu geben?

 

S: Im Leben gibt es viel Schlimmes. Doch ich fühle mich des­halb nicht beson­ders ver­zwei­felt – aber doch, ich sehe das so. Eine Opti­mistin wird man aus mir wohl nicht machen können.

 

n: In der Lite­ratur der UdSSR gab es das Genre „Thriller“ oder den “Hor­ror­roman” nicht, in den 90er Jahren kam auch keine Lite­ratur dieser Art auf den Markt. Wie kommt es, dass erst mit Ihnen dieses Genre in der rus­si­schen Lite­ratur ent­deckt wird?

 

S: Die rus­si­sche Lite­ratur hat, wie man weiß, erst vor wenigen Jahren aus einer Krise her­aus­ge­funden. Über einen Zeit­raum von mehr als 10 Jahren hatten wir über­haupt keinen rich­tigen Buch­markt in dem Sinne, dass es ein breites Spek­trum ver­schie­dener Genres und einer Leser­schaft dafür gibt. Jetzt gerade erleben die Lite­ratur und das Ver­lags­wesen einen aktiven Auf­schwung, und fast alle bis­he­rigen Lücken füllen sich. Auch jene für Fan­tasy und Horror bleiben nicht leer. Außerdem ist jetzt eine Gene­ra­tion von Schrift­stel­lern da (und ich zähle mich selbst dazu), die die sowje­ti­sche Ver­gan­gen­heit und die ver­gan­gene Epoche nicht mehr „umin­ter­pre­tieren“ wollen, keinen Drang dazu ver­spüren, ja, das wohl eigent­lich gar nicht können. Bis vor kurzem war das noch die kul­tu­relle Idée fixe (nicht nur in der Lite­ratur, son­dern auch im Kino) – was ist daran schon geheim­nis­voll? Wir haben auch eine neue Gene­ra­tion von Lesern. Es klingt wieder banal, aber es muss in der Gesell­schaft eine bestimmte Art von Mit­tel­schicht geben, damit „Hor­ror­ro­mane“ – im Stil von Ste­phen King – über­haupt gelesen werden. Eine Gruppe von Men­schen mit einem gere­gelten Leben, die satt sind und es gemüt­lich haben, die Ängste hegen und etwas zu ver­lieren haben, denen ein wenig lang­weilig ist und die des­halb das Bedürfnis nach Ner­ven­kitzel haben. Nur wenn dein eigenes Leben nicht gru­selig genug ist, hast du Spaß daran, über ein anderes, schreck­li­ches zu lesen. Wenn du aber bet­telarm und unzu­frieden bist, dann hast du auch ein Bedürfnis nach Fern­seh­se­rien und nach schlecht geschrie­benen Romanen über schöne Schlösser, Inseln und glück­liche, gut aus­se­hende Men­schen. Letzt­lich hatten wir nicht ohne Grund gerade zu Anfang der 90er Jahre einen unglaub­li­chen Schundroman-Boom.

 

n: In der Erzäh­lung Živye (Die Leben­digen) werden apo­ka­lyp­ti­sche Szenen beschrieben, wie man Sie aus US-Thril­lern kennt: Men­schen im Stau, der Angriff „jener“, der unreinen, bösen Mächte, Panik, Mord… Wobei Men­schen Roboter umbringen, was an Spiel­bergs Film Arti­fi­cial Intel­li­gence erin­nert. Die Heldin ihrer Erzäh­lung sieht sich ständig Jim Jar­muschs Film Dead man an. Ihre im Text ein­ge­schlos­senen kine­ma­to­gra­fi­schen Erfah­rungen haben sich auf Ihren Stil aus­ge­wirkt. Ihr Text besteht oft aus kurzen und unge­schmückten Beschrei­bungen von Hand­lungen und sze­ni­schen Dia­logen. Kann man die schnelle Mit­tei­lung über eine Ver­fil­mung von Ubežišče 3/9 viel­leicht damit erklären, dass Ihr Stil oft rein dreh­buch­artig erscheint?

 

S: Mein Stil ist nicht rein dreh­buch­artig – meiner Ansicht nach. Viel­leicht schätzt man das von der Seite etwas anders ein… Man kann bekannt­lich, alles was man will ver­filmen – von Lev Tol­stoj bis Alek­sandr Buškov. Haben diese Autoren etwa auch einen dreh­buch­ar­tigen Stil?

 

n: In Ubežišče 3/9 gibt es poli­ti­sche Anspie­lungen. Sie haben dem „rus­si­schen Prä­si­denten“ in Ihrem Roman das aus den Medien allen bekannte ent­stellte Gesicht des ukrai­ni­schen Prä­si­denten Juščenko gegeben. Was ver­birgt sich dahinter? Der Prä­si­dent scheint wie auch in Pele­vins Roman Gene­ra­tion P nur eine leb­lose Mario­nette zu sein. Die Politik Russ­lands wird nicht von ihm, son­dern von „unreinen Mächten“ gelenkt. Wie soll man diese Bezie­hung zwi­schen der Politik in Russ­land und der apo­ka­lyp­ti­schen Wende, dem Ende der Welt, in Ihrem Roman verstehen?

 

S: Mir scheint, dass sich unser Land im Moment in einer sehr unge­müt­li­chen Phase der Sta­gna­tion befindet, in einem Schlaf, wie in einem ver­zau­berten König­reich. Das Land wird von Men­schen ohne Ant­litz regiert, von einer grauen Macht. Man kann ihr alles unter­stellen, man kann sie „dämo­ni­sieren“ und „demo­kra­ti­sieren“. Man kann ihr alle mög­li­chen Eigen­schaften zuschreiben, jeder sieht in ihr das, was er sehen will. Man kann sie sich aus­denken – und in Wirk­lich­keit gibt es sie nicht. Leere ist immer gefähr­lich. Es gibt da einen Kin­der­vers: „Wenn in der Tabak­dose lange kein Tabak mehr lag, zieht der Teufel weiß was ein an einem schönen Tag.“ Aber beson­ders diese Leere – „die leere Macht“ – ist gefähr­lich für solch ein Land wie Russ­land. Die Men­schen hier sind nicht an Gesetze und Frei­heiten gewöhnt, sie sind nicht daran gewöhnt, selb­ständig zu wählen und Ver­ant­wor­tung für sich und ihr Land zu tragen, des­halb schreiben sie den gesichts­losen Macht­in­ha­bern, ohne von ihnen dazu gezwungen zu werden, auto­ma­tisch die Eigen­schaften zu, an die sie sich wäh­rend der mehr als 70 Jahren gewöhnt haben. Unsere heu­tigen Macht­in­haber haben kein Gesicht, aber wir zeichnen ihnen selbst eins. Zunächst nur die groben Züge, dann fügen wir einen kon­kreten Aus­druck hinzu. Einen sehr bösen Aus­druck. Etwas anderes kennen wir nicht.

 

n: Welche wei­teren Pläne und Pro­jekte haben Sie? Wird Ubežišče 3/9 wirk­lich ver­filmt werden, wie bereits angekündigt?

 

S: Ers­tens schreibe ich jetzt an einem neuen Buch. Das wird ein Sam­mel­band mit einem kurzen Roman und Erzäh­lungen. Das Genre bleibt das­selbe – lyri­scher Thriller, Mys­tery, Phan­tas­ma­gorie… Es heißt Rezkoe pocho­lo­danie (Käl­te­ein­bruch). Zwei­tens planen mein Mann (der lus­ti­ger­weise auch Schrift­steller ist) und ich, ein gemein­sames Buch zu schreiben, eine fan­tas­ti­sche Anti­utopie. Das wird ganz anders aus­sehen als das, was wir vorher jeweils allein geschrieben haben. Von einer Ver­fil­mung weiß ich nichts – alle Rechte liegen beim Verlag, mich hat nie­mand dar­über informiert.

 

n: Vielen Dank für das Interview!

 

Sta­ro­binec, Anna: Perechodnyj voz­rast. Sankt-Peter­burg 2005.

Sta­ro­binec, Anna: Ubežišče 3/9. Sankt-Peter­burg 2006.