Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

„Stein­schweiger? Stein­wald? Stein­baum? – Egal!”

Der in Polen als „Punk unter den Regis­seuren“ bekannte Jan Klata hat sich zusammen mit einem deutsch-pol­ni­schen Dra­ma­tur­gen­team mit dem viel zu selten pro­duktiv dis­ku­tierten Thema Umsied­lung, Flucht und Ver­trei­bung nach dem Zweiten Welt­krieg befasst. Das Ergebnis ist das im November 2006 im pol­ni­schen Wro­cław urauf­ge­führte Büh­nen­stück TRANSFER!, in dem Men­schen, die von diesen Ereig­nissen betroffen waren, auf der Bühne selbst zu Wort kommen. Elf Frauen und Männer, Deut­sche und Polen, haben ihre Erin­ne­rungen zusam­men­ge­tragen und geben diesen auf der Bühne Gestalt. Im scharfen Kon­trast zu den dabei ent­stan­denen fra­gilen auto­bio­gra­phi­schen Szenen agieren drei pro­fes­sio­nelle Schau­spieler auf einer erhöhten Büh­nen­kon­struk­tion, wo sie Chur­chill, Roo­se­velt und Stalin dar­stellen, die weitab von der Rea­lität „unter ihnen“ in gro­tesken Szenen um weit­rei­chende Ent­schei­dungen feilschen.

 

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Die Schwie­rig­keiten, die sich aus der Dar­stel­lung des bis heute umkämpften Themas “Ver­trei­bung” ergeben haben, zeigen sich nicht zuletzt darin, dass der bei der Pre­miere gezeigte Schluss der Insze­nie­rung mitt­ler­weile gestri­chen wurde. Ursprüng­lich endete die Auf­füh­rung mit einem groß an die Wand pro­ji­zierten “Egal”, das sich an den ver­geb­li­chen Ver­such einer Zeit­zeugin anschloss, sich an einen Namen zu erin­nern und die mit diesem Wort lapidar ihren Monolog been­dete. Die Mög­lich­keiten des Miss­ver­ste­hens eines sol­chen “Schluss­wortes” werden im fol­genden Inter­view diskutiert.
Das anhal­tende Inter­esse an diesem unge­wöhn­li­chen und im wahrsten Sinne “tem­po­rären” Stück, die Teil­neh­menden sind teil­weise über 80 Jahre alt, hat zu einer Ver­län­ge­rung des Spiel­plans geführt. 2008 wird es nun noch einige Male zu sehen sein: Am 1. und 2. Februar findet eine Wie­der­auf­füh­rung von TRANSFER! im Brüs­seler Kaai­theater statt.

 

Wir haben Jan Klata zusammen mit seinem Dra­ma­turgie-Team, Dunja Funke und Sebas­tian Majewski, getroffen und mit ihnen über diese deutsch-pol­ni­sche Kopro­duk­tion gesprochen.

 

novinki: Sie haben ein deutsch-pol­ni­sches Thea­ter­pro­jekt rea­li­siert, das die mit der West­ver­schie­bung Polens ver­bun­dene Umsied­lung, Flucht und Ver­trei­bung von Deut­schen und Polen the­ma­ti­siert. Wie kam es zu diesem Projekt?

 

Jan Klata: Die Idee für das Pro­jekt hatte Kry­styna Meissner, die Inten­dantin des Teatr Współc­zesny in Wro­cław. Sie hat mich gefragt, ob ich Inter­esse hätte, ein Thea­ter­stück über Umsied­lung und Ver­trei­bung in Wro­cław und Nieder-schle­sien zu schreiben. Die Vor­stel­lung mit kon­kretem his­to­ri­schem Mate­rial zu arbeiten und auf der Bühne pro­fes­sio­nelle Schau­spieler, aber auch soge­nannte Zeit­zeugen auf­treten zu lassen, reizte mich, die Her­aus­for­de­rung anzu­nehmen. Schließ­lich ent­stand der zen­trale Gedanke des Pro­jektes: deut­sche und pol­ni­sche Zeit­zeugen sollten gemeinsam auf der Bühne stehen und über ihre Erfah­rungen berichten. Der gemein­same Auf­tritt dieser Men­schen macht die Ironie und die Tragik der Geschichte sichtbar. Als Ver­trie­bene wurden sie gezwungen, andere zu vertreiben.

 

n.: Sie arbeiten mit der deut­schen Dra­ma­turgin Dunja Funke und dem pol­ni­schen Dra­ma­turgen Sebas­tian Majewski zusammen. War das Pro­jekt von Anfang an eine deutsch-pol­ni­sche Koproduktion?

 

K.: Nein, zunächst war es ein pol­ni­sches Pro­jekt über die Ver­trei­bung der Deut­schen. Aber mir erschien es zuneh­mend wichtig, den Bruch zwi­schen dem heu­tigen Wro­cław und dem dama­ligen Breslau auf­zu­zeigen. Wenn Sie heute nach Wro­cław kommen, dann werden Sie kaum noch deut­sche Bewohner finden – in einer Stadt, in der vor dem Zweiten Welt­krieg nur wenige der 600.000 Ein­wohner Polen waren. Ebenso ver­hält es sich mit L’viv, dem ehe­ma­ligen Lwow bezie­hungs­weise Lem­berg. Dort sucht man heute ver­ge­bens nach pol­ni­schen Bewoh­nern. Sie wurden im Zuge der Grenz­ver­schie­bungen gezwun-gen, Gali­zien in Rich­tung Nieder-schle­sien und Breslau zu verlassen.

 

n.: Würden Sie sagen, dass diese doku­men­ta­ri­sche Form cha­rak­te­ris­tisch für Sie ist? Sie arbeiten nicht zum ersten Mal mit Laien.

 

K.: Nein. Es ist weder typisch für mich, noch für irgend­einen anderen pol­ni­schen Thea­ter­re­gis­seur. Im Gegen­satz zu Deutsch­land, wo es einige Bei­spiele für ein sol­ches Theater gibt. Es ist etwas Neues und Erfrischendes.

 

n.: Wie haben sie die Zeit­zeugen, die auf der Bühne ihre eigene Geschichte erzählen, gefunden?

 

K.: Wir haben eine sehr inten­sive Recher­che­ar­beit geleistet. Ins­ge­samt gab es über siebzig Per­sonen, die wir zum Cas­ting jeweils in Berlin und Wro­cław ein­ge­laden haben. Später gab es in Wro­cław eine Art zweites Cas­ting. Bei der Aus­wahl der Teil­nehmer gab es für uns zwei Kri­te­rien: Zum einen ging es natür­lich um die Frage, ob jemand eine inter­es­sante Geschichte zu erzählen hatte. Wir mussten aber auch schauen, ob und wie jemand auf der Bühne prä­sent ist. Es kam auch vor, dass jemand etwas sehr Inter­es­santes zu erzählen hatte, wir aber das Gefühl hatten, dass es auf der Bühne nicht funk­tio­nieren würde.

 

n.: Haben denn alle Per­sonen mit­ge­macht, die Sie gerne dabei haben wollten?

 

K.: Es gab eine deut­sche Frau, mit der wir sehr gerne zusam­men­ge­ar­beitet hätten. Die Zusam­men­ar­beit kam nicht zustande, weil sie müde war. Sie wollte nicht mehr leben.

Dunja Funke: Und wir haben, wie Jan Klata bereits ange­deutet hat, nicht alle Geschichten in das Kon­zept inte­grieren können. So gab es Erzäh­lungen, die ein­fach nicht in die Gesamt­per­for­mance gepasst haben, weil sie zum Bei­spiel neben den anderen Geschichten zu domi­nant gewesen wären oder zu Missver-ständ­nissen geführt hätten. Wir haben sehr sorgsam ent­schieden, wen wir mit wel­cher Geschichte in der Per­for­mance haben wollen.

 

n.: Wie sah der Arbeits­pro­zess aus und wie ver­lief die Arbeit mit den Zeitzeugen?

 

K.: Zunächst haben wir uns all die Geschichten ange­hört und auf­ge­schrieben. Diese Phase des Pro­jekts hat uns sehr gefor­dert, da wir mit vielen sehr grau­samen und tra­gi­schen Geschichten kon­fron­tiert wurden. Die enorme Grau­sam­keit war den deut­schen und den pol­ni­schen Erzäh-lungen gemeinsam. Einer aus dem Team war irgend­wann so in die Geschichten invol­viert, dass er anfing, davon zu träumen. Da wir viel zu viel Mate­rial hatten, mussten wir Geschichten aus­wählen. Außerdem mussten wir sie in eine ange­mes­sene Ord­nung bringen. In dieser Phase haben wir fünf­zehn bis sech­zehn Stunden am Tag gear­beitet. Ich habe schließ­lich noch die ‘Jalta-Szenen’, in denen die von profes-sio­nellen Schau­spie­lern dar­ge­stellten Macht­haber Chur­chill, Roo­se­velt und Stalin über das Schicksal der Men­schen feil­schen, ent­wi­ckelt. Schließ­lich hatten wir so etwas wie ein Skript, und wir hatten noch drei Wochen bis zur Pre­miere. Dann mussten die Zeit­zeugen mit dem, was wir aus ihren Erzäh­lungen aus­ge­wählt hatten, irgendwie auf die Bühne. Darauf mussten wir sie in dieser kurzen Zeit vor­be­reiten. In dieser letzten Phase des Pro­jektes waren wir alle zusammen in Breslau.

 

n.: Sie haben das Stück also letzt­end­lich erst im Pro­ben­pro­zess selbst in eine kon­krete Form gebracht. Das ist ein sehr mutiges Vor­gehen ange­sichts der Tat­sache, dass Sie mit Laien gear­beitet haben.

 

K.: So zu arbeiten war sehr unge­wöhn­lich. Nor­ma­ler­weise hat man ein Script und füllt, salopp gespro­chen, die pro­fes­sio­nellen Schau­spieler mit den ent­spre­chenden Emo­tionen ab. Wir hätten auch hier sagen können: o.k., wir haben das Script, lasst uns gute und pro­fes­sio­nelle Schau­spieler ein­laden. Die Schau­spieler hätten dann die Zeit­zeugen ein- zweimal zum Essen getrof-fen, hätten wenn nötig auch etwas mehr Zeit mit ihnen ver­bracht und wären in der Lage gewesen, diese per­fekt nachzu-ahmen. Wir hätten dann ein sehr pro­fes­sio­nelles Stück auf die Bühne gebracht. Aber wir haben uns ent­schieden, anders zu arbeiten. Wir hatten Geschichten, aber wir hatten keine Schau­spieler. Sehr cha­rak­te­ris­tisch für dieses Pro­jekt waren die per­ma­nenten Nach­fragen, ob und wann wir denn end­lich ein end­gül­tiges Script hätten und was nun genau geschehen werde. Wir haben immer wieder um Geduld gebeten. „Geduld“ war das Schlüs­sel­wort unserer Arbeit.

 

n.: Die Zeit­zeugen erzählen uns nicht ein­fach ihre Geschichten. Sie unter-strei­chen diese mit kleinen Hand­lungen oder Gesten. Sie tun dies aller­dings auf eine Weise, die uns immer wieder daran erin­nert, dass sie keine Schau­spieler sind. Manchmal wirkt es eher, als wollten sie vor­geben, welche zu sein. Ist diese Form der Insze­nie­rung nötig, um die Geschichten zu transportieren?

 

F.: Ja, es ist defi­nitiv nötig. Ich denke, dass diese Szenen sehr sen­sibel insze­niert sind. Es geht darum, den Laien Mittel zu geben, mit denen sie ihre Geschichten erzählen können.

K.: Warum zum Bei­spiel die Fahne? Wäh­rend Han­ne­lore Pretsch, eine Zeit-zeugin, von ihrer Jugend zur Zeit des Natio­nal­so­zia­lismus erzählt, ent­fernt sie mit Hilfe einer Schere den weißen Kreis mit dem Haken­kreuz aus einer national-sozia­lis­ti­schen Fahne und funk­tio­niert das rote Tuch kur­zer­hand in einen Poncho um. Natür­lich könnte man sagen, sie braucht diese Fahne nicht. Es reicht, wenn sie etwas über die Absur­dität dieser Sym­bole sagt. Aber die Hand­lung unter­streicht und inten­si­viert was sie sagt. Die Grenze zwi­schen realen Men­schen, denen auf der Bühne zur Unter­stüt­zung ihrer Geschichten ein paar Mittel der ‘mise en scène’ an die Hand gegeben wurden, und Laien, die vor­geben, Schau­spieler zu sein, ist hier flie­ßend. Aber ich bezweifle, dass es eine bes­sere Per­for­mance geworden wäre, wenn die Zeit­zeugen ein­fach nur auf Stühlen gesessen hätten und ihre Geschichten von dort aus erzählt hätten. Es ist so, dass sie für ein sol­ches Erzählen erst recht keine Tech­niken und Mittel haben. Sie sind nicht Bruno Ganz.

F.: Wäh­rend der Arbeit an der Auf­füh­rung habe ich mir immer wieder bewusst gemacht, dass es sich hier um reale Men­schen han­delt, die von realen Bege­ben­heiten erzählen, ich aber den­noch nicht wissen kann, wie real diese Geschichten sind. Es werden Erin­ne­rungen erzählt. Wir arbeiten hier mit Oral History, nicht mit nie­der­ge­schrie­bener. Es ist sehr wichtig, dass man sich dar­über im Klaren ist, dass wir hier nichts Doku­men­ta­ri­sches machen. Auf der Bühne stehen zehn Men­schen, die etwas erzählen. WIR SIND AUF DER BÜHNE. Dieser Gedanke war von Beginn an die Grund­vor­aus­set­zung unseres Arbeitens.

 

n.: Haben Sie das Pro­jekt, nicht nur im Blick auf die Zusam­men­ar­beit mit Laien auf der Bühne, son­dern auch im Hin­blick auf die zum Teil sehr emo­tional auf­ge­la­dene Dis­kus­sion um Ver­trei­bung und Erin­ne­rung, als ein Risiko empfunden?

 

K.: Ja, es war ein ris­kantes Pro­jekt. Dar­über waren wir uns aber von Anfang an im Klaren. Ein hoch­gra­diges Risiko war der poli­ti­sche Aspekt des Pro­jektes, vor allem in Polen. Wir hatten dort einige Pro­bleme mit Poli­ti­kern der zur­zeit regie­renden Partei Prawo i Spra­wi­ed­li­wość – PiS (Recht und Gerech­tig­keit). Beson­ders große Schwierig-keiten hatten wir mit Dorota Arci­szewska-Mie­lew­czyk, der PiS Sena­torin aus Gdynia. Sie ver­suchte immer wieder, sich in unserer Arbeit ein­zu­mi­schen, bevor wir über­haupt richtig begonnen hatten. Sie hatte das Theater vorab um das Skript gebeten. Die Thea­ter­di­rek­torin Kry­styna Meissner hat dies jedoch mit dem Ver­weis abge­lehnt, in Polen gebe es keine Zensur mehr. Ein wei­teres Risiko war, dass wir über­haupt nicht wussten, wie die Auf-füh­rung schließ­lich ablaufen und wie sie thea­ter­äs­the­tisch aus­sehen würde. Und schließ­lich, auch das war ein Risiko für uns alle, waren die meisten unserer so genannten ‚Schau­spieler’ ohne jeg­liche Bühnenerfahrung.

Im Nach­hinein hat sich dieser Umstand für mich als der inter­es­san­teste Aspekt des Pro­jektes her­aus­ge­stellt. Wir haben bewusst nicht ver­sucht, pro­fes­sio­nelle Schau­spieler aus ihnen zu machen. Im Gegen­teil, wir haben ver­sucht, ihre Fri­sche, aber auch ihre Unpro­fes­sio­na­lität auf der Bühne zu bewahren. Das hat den Kon­trast zu den pro­fes­sio­nellen Schau­spie­lern, den Dar­stel­lern von Chur­chill, Stalin und Roo­se­velt, umso deut­li­cher her­vor­treten lassen.

 

n.: Wie würden Sie die Kom­mu­ni­ka­tion zwi­schen den Teil­neh­mern des Pro­jektes beschreiben – auch hin­sicht­lich der sprach­li­chen Ver­stän­di­gung, da die meisten Teil­nehmer nicht beide Spra­chen beherrschen?

 

K.: Es hat sich so etwas wie ein Gemein-schafts­ge­fühl ent­wi­ckelt, obwohl dies unter den gegeben Umständen nicht ganz ein­fach war. In Wro­cław hatten wir zum Bei­spiel die ungüns­tige Situa­tion, dass die deut­sche Gruppe irgendwo in der Stadt im Hotel unter­ge­bracht war, die Teil­nehmer aus Nie­der­schle­sien und Breslau aber direkt von zu Hause zu den Proben kommen konnten. Und natür­lich war da eine Sprach­bar­riere. Meiner Mei­nung nach war der Pre­mie­re­abend in Wro­cław sehr wichtig für die Kom­mu­ni­ka­tion der Teil­nehmer unter­ein­ander. Jemand vom Theater hatte die groß­ar­tige Idee, alle zu einem gemein­samen Podi­ums­ge­spräch ein­zu­laden. Dies fand auf der Bühne statt, zusammen mit dem sehr jungen Premierenpublikum.

Ich würde nicht sagen, dass es eine homo­gene deut­sche bezie­hungs­weise pol­ni­sche Gruppe gab. Man mochte sich, man mochte sich nicht. Es gab auch sehr unter­schied­liche Per­spek­tiven auf die Geschichte. Wenn man zu einer Sache unter­schied­liche Leute befragte, bekam man sehr unter­schied­liche Ant­worten. Vor allem die Deut­schen haben unter­ein­ander sehr viel diskutiert.

Unser Pro­jekt war aller­dings nicht in erster Linie auf Ver­söh­nungs­ar­beit ange­legt. Wir haben meis­tens separat mit den ein­zelnen Per­sonen gear­beitet. Das erschien uns wichtig, um sie zu öffnen. Aber trotz allem war es ein zen­trales Anliegen des Pro­jektes, Men­schen zusam­men­zu­bringen, die sich ohne TRANSFER! wohl nie­mals getroffen hätten.

 

n.: Es werden immer wieder Worte in den Hin­ter­grund der Szene pro­ji­ziert – Worte, die wie Schlüs­sel­worte ein zen­trales Ele­ment oder einen Namen einer gerade auf der Bühne erzählten Geschichte wie­der­holen. Das letzte Wort, das dort zu sehen ist, das letzte Wort des Stü­ckes, ist das deut­sche Wort EGAL. Ist das iro­nisch gemeint? Mich hat es, ehr­lich gesagt, irri­tiert. Kurz zuvor hat eine sehr alte Frau in einer sehr langen und beein­dru­ckenden Szene die Namen aller Bewohner des Dorfes, das sie ver­lassen hat, und die sie damals aus der Erin­ne­rung auf­ge­schrieben hat, vorgelesen.

 

K.: Es gibt Bereiche, in denen Ironie erlaubt ist und Bereiche, da ist sie nicht erlaubt…

 

n.: Das ist der Grund für meine Nach­frage. Da mich aber diese Ent­schei­dung sehr irri­tiert hat, habe ich mich gefragt, ob das viel­leicht unsere „deut­sche“ Per­spek­tive ist, die sagt: Ironie hier nicht erlaubt.

 

K.: Das war aller­dings Dunjas Idee! (Lachen)

F.: Ja, das war mein Vor­schlag. Dieses EGAL ist meiner Mei­nung nach sogar ein sehr zen­trales Stich­wort: Es gibt in dem Kon­text, in den es hier gestellt wird, die Wider­sprüche wider, mit denen wir uns per­ma­nent kon­fron­tiert sehen. So ver­han­deln wir zum Bei­spiel in TRANSFER! poli­ti­sche Geschichte, wir ver­han­deln Politik, aber über diese ästhe­ti­sche Ebene hinaus bleiben wir untätig. Wir sind bes­tens dar­über infor­miert, was in der Welt geschieht, aber wir han­deln nicht ent­spre­chend unserem Wissen. Ja, wir sind eine EGAL-Gene­ra­tion. Das ist in diesem EGAL ent­halten. Aber natür­lich ist es sehr iro­nisch zu ver­stehen. Die aller-letzte Szene des Abends endet mit Han­ne­lore Pretsch, die nach einem Namen sucht, den sie ver­gessen hat: STEIN… STEINSCHWEIGER… der Name fällt ihr nicht ein. Sie beendet ihre Suche mit dem Kom­mentar EGAL.

K.: Und das ist nichts, was wir ihr vor­ge­schlagen haben. Sie selbst hat das genau so gesagt, wäh­rend einer unserer Proben.

F.: Das wurde schließ­lich der letzte Satz unseres Stücks. Ja, EGAL!

K.: Und wer uns auch immer für seine poli­ti­sche Agi­ta­tion benutzt: EGAL!

F.: EGAL! Wir lassen uns nicht missbrauchen!

K.: Denn es ist natür­lich nicht EGAL. Das ist unsere Bot­schaft. Schließ­lich endet das Stück mit einer Hom­mage an alle Teil­nehmer. Wir pro­ji­zieren Bilder aus deren Jugend auf die Büh­nen­wand. DAS ist unsere Hal­tung! Es sind die Gesichter, die wir am Ende dem Publikum zeigen.

F.: Ich denke, dass es aber auch sehr wichtig ist, zuvor die Betrof­fen­heit zu durch­bre­chen. Es geht uns nicht darum, das Publikum zu rühren. Wir wollen es anregen, den Geschichten zuzu­hören. Das ist eine heikle Gratwanderung.

 

n.: Aber EGAL ist sehr hart.

 

K.: Aber wer sagt das? Wer sagt EGAL? Nicht Chur­chill, Roo­se­velt, Stalin oder die Regie. Jemand auf der Bühne sagt uns das, jemand, der per­sön­lich betroffen ist von dem, was da geschehen ist. Und Han­ne­lore Pretsch hat das Recht zu sagen, was sie sagt. Es geht hier eben nicht darum, die Erleb­nisse des Krieges oder der Ver­trei­bung zu rela­ti­vieren. Es geht darum, dass diese per­sön­li­chen Geschichten und Schick­sale nicht als Instru­ment miss­braucht werden dürfen, um poli­ti­sche Macht zu erhei­schen, egal von wem – der PiS, der Sena­torin aus Gdynia oder Erika Steinbach.

 

n.: Ah, es ging um Erika Stein­bach! (all­ge­meines Ahhhhh!)

 

K.: STEIN…STEIN…

F.: STEIN… STEIN… STEINSCHWEIGER? STEINWALD? STEINBAUM?… der Name ist ihr nicht mehr eingefallen…

 

n.: Könnten Sie sich vor­stellen, ein sol­ches Pro­jekt wieder zu machen?

 

K.: Ja. Das war extrem erfri­schend. Das war für mich eine Reise in die Ver­gan­gen­heit des Thea­ters. Es war wie ein Lager­feuer, um das man her­umsaß und Geschichten zuhörte. Es wurden Geschichten erzählt. Manchmal wurden sie mit Gesten ergänzt. Aber es gab keine zusätz­li­chen thea­tra­li­schen Effekte. Dieser Schritt in die Schlicht­heit und die Rück­be­sin­nung auf die Her­kunft des Thea­ters war sehr span­nend für mich. Meine bis­he­rigen Arbeiten waren von einem Bil­der­rausch geprägt, von schnellen Sto­ries und Effekten. Die Arbeit mit den Lai­en­dar­stel­lern war eine ganz andere. Erfri­schend eben. Es ist etwas ent­standen, das mit pro­fes­sio­nellen Schau­spie­lern nie­mals ent­standen wäre. Ja, ich kann mir sehr gut vor­stellen, so etwas wieder zu machen.

 

 

TRANSFER! ist eine Pro­duk­tion des Teatr Współc­zesny in Wro­cław und ist in Koope­ra­tion mit dem Adam-Mickie­wicz-Institut War­schau, dem Ber­liner Hebbel am Ufer und dem Natio­nal­theater Weimar entstanden.