Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

„Das hat so etwas Draht­seil­haftes, Kunst und Hand­werk zusam­men­zu­führen“ – ein Gespräch mit Andreas Tretner

Mit Blick auf das beein­dru­ckende über­set­ze­ri­sche Schaffen von Andreas Tretner käme es einem nie in den Sinn, dass er die Spra­chen in seinem Stu­dium nicht selbst aus­ge­wählt hat. In den letzten zwei Jahr­zehnten hat er viele der wich­tigsten lite­ra­ri­schen Neu­erschei­nungen aus dem Rus­si­schen, Bul­ga­ri­schen und Tsche­chi­schen ins Deut­sche über­setzt, dar­unter Vla­dimir Sor­okin, Alex­ander Ilit­schewski [Alek­sandr Iličevskij], Viktor Pelewin [Viktor Pelevin], Michail Schischkin [Michail Šiškin] sowie Jáchym Topol und Fedia Fil­kova. Für seine Über­set­zungen erhielt er Preise und Aus­zeich­nungen, u. a. 2011 den Inter­na­tio­nalen Lite­ra­tur­preis des Ber­liner Hauses der Kul­turen der Welt für seine Über­set­zung „Venus­haar“ von Michail Šiškin. 

Zuletzt war Andreas Tretner für die Über­set­zung des bul­ga­ri­schen Romans Die Sanft­mü­tigen von Angel Igov für den Preis der Leip­ziger Buch­messe nomi­niert. Damit ist er wieder ein Stück weit dorthin zurück­ge­kehrt, womit sein Wer­de­gang als lite­ra­ri­scher Über­setzer begann – zur Lite­ratur aus Bulgarien. 

Mit novinki spricht er über das Stu­dieren zu DDR-Zeiten, seine Arbeit beim Reclam-Verlag zum Zeit­punkt der Wende, über die vielen Facetten des lite­ra­ri­schen Über­set­zens und dar­über, warum sich ent­gegen den oft so zwei­ge­teilten Lebens­läufen ehe­ma­liger DDR-Bür­ger_innen bei ihm gera­de­wegs ein bio­gra­phi­sches Kon­ti­nuum ergibt.

Mandy Krause: Herr Tretner, sind Sie mit Leib und Seele Literaturübersetzer?

 

Andreas Tretner: Ja, schon, aber es ist ein ganzes Feld. Und auf einem Feld muss gesät, gejätet, gewäs­sert und geerntet werden. Das bezieht eine Reihe näherer und fer­nerer, jedoch immer mit dem Über­setzen ver­bun­dener Neben­tä­tig­keiten ein. Das Über­setzen zu lehren oder in Werk­statt­form aus­zu­pro­bieren, ist die dia­lo­gi­sche Vari­ante. Und es ent­steht auch der Wunsch zu reflek­tieren, was wir da eigent­lich machen.

 

M.K.: Aus diesem Wunsch heraus ist, so nehme ich an, auch der Film Spur­wechsel – ein Film vom Über­setzen (2003) entstanden?

 

A.T.: Der Film war ein kol­la­bo­ra­tives Pro­jekt und ein Ver­such zu zeigen, was alles pas­sieren kann, wenn ein Text die Sprache ändert. Er beinhaltet eine Mischung aus Insze­nie­rung und realem Dialog. Viele Struk­turen dieses Films sind auch dem Über­setzen eigen. Eine Über­set­zung ist die Insze­nie­rung eines fremden Textes in einer anderen Sprache.

 

M.K.: Es ist sehr inter­es­sant, wie Sie zum lite­ra­ri­schen Über­setzen gekommen sind. Sie haben zu DDR-Zeiten an der Uni­ver­sität Leipzig ein Sprach­mittler-Stu­dium absol­viert. In einem Inter­view sagten Sie einmal, dass das Stu­dium damals sehr funk­tional aus­ge­richtet gewesen und Lite­ra­tur­über­setzen gar nicht behan­delt worden sei. Trotzdem sind Sie am Ende Lite­ra­tur­über­setzer geworden. Hat genau das feh­lende Ele­ment am Ende den Reiz ausgemacht?

 

A.T.: Spra­chen waren zumin­dest eine Option für mich, als es mit 18 darum ging, sich dar­über klar zu werden, was man will. Und das eben in der DDR in den 1970er Jahren. Das “Wann” und das “Wo” ist in diesem Fall sehr von Belang. Ich hatte ganz andere Dinge vor, aber die klappten in dem Jahr nicht. Lite­ratur lesen und ver­stehen war mir ein Bedürfnis und das Über­setzen als Phä­nomen schil­lernd genug, dass ich mir auch vor­stellen konnte, ein Stu­dium daraus zu machen. Was es aller­dings damals hieß, Spra­chen zu stu­dieren, davon hatte ich keine Vorstellung.

 

M.K.: Was bedeu­tete es, Spra­chen in der DDR zu studieren?

 

A.T.: Es stellte sich heraus, dass dieses soge­nannte Sprach­mittler-Stu­dium vor kurzem refor­miert und zuge­schnitten worden war auf ganz bestimmte Zwecke, näm­lich, banal gesagt, darauf, dem Staats­ap­parat zu dienen. 90 Pro­zent der männ­li­chen Stu­die­renden waren dele­giert von der Armee oder vom Minis­te­rium für Staats­si­cher­heit. Auch mit der Wirt­schaft gab es kon­krete Ver­bind­lich­keiten. Die Prag­matik war ver­gleichbar strin­gent, wie wenn man Jour­na­listik oder Außen­handel stu­dierte. Klas­si­sche Ele­mente eines Phi­lo­lo­gie­stu­diums waren nur noch in Rest­be­ständen vorhanden.

 

M.K.: Und Sie sind dann für Rus­sisch und Bul­ga­risch ange­nommen worden? 

 

A.T.: Obwohl ich mich für Eng­lisch und Spa­nisch beworben hatte! Das erfuhr ich aller­dings erst in der ersten Stu­di­en­woche. Wenn man das heute jemandem erzählt, dann ist das schwer zu glauben. Aber Leute, die man nicht in den Westen schi­cken konnte oder wollte, die durften natür­lich auch kein Eng­lisch stu­dieren. Wozu auch? Diese Logik war nicht meine, und sie war sehr frustrierend.

 

M.K.: Es ist wirk­lich schwer vor­stellbar, die Stu­di­en­wahl in fremde Hände legen zu müssen.

 

A.T.: Und die Ent­zau­be­rung ging weiter. Das wird jetzt anek­do­tisch, aber ich erzähle es trotzdem. Für die Ein­füh­rungs­vor­le­sung fehlte der Schlüssel zum Hör­saal. Sie wurde dann auf dem Hof von einem großen Koh­le­haufen her­unter gehalten, wir standen um ihn herum. Eine unver­gess­liche Szene, gera­dezu kriegs­kom­mu­nis­tisch anmu­tend, das hätte genauso auch 1947 gewesen sein können. Und dazu pas­send pre­digte der „Direktor Erzie­hung und Aus­bil­dung“ uns Novizen gleich einmal ein Ethos der Erge­ben­heit, der Will­fäh­rig­keit: Das, was die Partei von ihrer Bevöl­ke­rung erwar­tete, fand zusammen mit den Tugenden eines Dol­met­schers, der sowieso „Luft“ zu sein hatte. Das kam mir alles wie ein großer Irrtum vor.  Wir haben dort mona­te­lang Par­tei­tags­reden gedol­metscht, das heißt tote Sprache, pures ideo­lo­gi­sches Versatzmaterial.

 

M.K.: Und trotzdem konnten Sie sich am Ende für die Spra­chen begeis­tern, die Ihnen auf­er­legt wurden?

 

A.T.: Anfangs war ich tat­säch­lich scho­ckiert, die Liebe kam sehr viel später. Von Bul­ga­risch hatte ich keine Vor­stel­lung außer, dass es dem Rus­si­schen äußer­lich ähn­lich schien. Rus­sisch war in der Schule die eine Fremd­sprache, die wir wirk­lich intensiv gelernt, aber wenig gemocht hatten, weil sie mit dok­tri­nären Inhalten ver­bunden und didak­tisch alt­ba­cken prä­sen­tiert war. Das hat man auch als Kind gemerkt. Ich war als junger Pio­nier auch schon einmal in der Sowjet­union – erst in Moskau bei irgend­wel­chen Auf­mär­schen und dann in einem wun­der­baren Feri­en­lager in der Pskover Pro­vinz, sogar bei Puschkin [Puškin] in Michaj­low­s­koje [Michaj­l­ovs­koje]. Die Ein­drücke waren sehr gemischt. Die Neu­gierde war geweckt, aber Rus­sisch zu stu­dieren, das wäre mir nicht eingefallen.

 

M.K.: Wie haben Sie das dann durchgehalten?

 

A.T.: Das frage ich mich heute auch. Wohl als gebo­rener Stoiker und dank gewisser Nischen. Der Nischen­be­griff ist ja ein sehr wich­tiger für die DDR-Gesell­schaft. Sie gab es in Hülle und Fülle. Man musste sie erkennen und konnte sich darin ein­richten. Und eine Nische war für uns das Bul­ga­ri­sche. Der Rus­sisch­un­ter­richt war auch hier ver­schult und als Drill struk­tu­riert, zum Glück waren einige gute Lehrer und Leh­re­rinnen dabei. Das Bul­ga­ri­sche war über Gast­lek­toren orga­ni­siert, Kon­ver­sa­tion im kleinen Kreis, mit viel Empa­thie. So ging es dann doch.

Geholfen hat mir auch die Aus­sicht, zwei Aus­lands­se­mester in Sofia ver­bringen zu können. In der letzten Woche vor der Abreise bin ich jedoch rele­giert worden, aus dis­zi­pli­na­ri­schen Gründen. Ich weiß bis heute nicht genau, wer oder was dahin­ter­steckte. Das war dann nochmal richtig bitter.  Aber das sind bio­gra­fi­sche Schleif­spuren. Es war für mich auch eine Zeit der Rebel­lion und des per­ma­nenten Lavie­rens an den Grenzen des Mög­li­chen. Andere haben andere Unglücks­fälle im Leben.

 

M.K.: Sie sind in die sla­wi­schen Spra­chen hin­ein­ge­worfen worden, haben dann aber noch eine dritte hin­zu­ge­nommen, näm­lich Tsche­chisch. Wie lässt sich das erklären? 

 

A.T.: Wäh­rend des Stu­diums befreun­dete ich mich mit einem jungen Mann, der Tsche­chisch stu­dierte und mir diese Lite­ratur und mit ihr die Sprache nahe­brachte. Wir lasen die Brünner Dichter aus Host do domu, das hatte den Ruch des Ver­bo­tenen und war so berü­ckend klang­voll und poe­tisch. Immer noch die am schönsten klin­gende sla­wi­sche Sprache, wie ich finde.

 

M.K.: Es ist bemer­kens­wert, dass Sie heute aus drei sla­wi­schen Spra­chen über­setzen. Wel­chen Stel­len­wert hat das Tsche­chi­sche für Sie?

 

A.T.: Für mich ist Tsche­chisch eine reine Lese­sprache geblieben. Genau daraus ziehe ich aber den Reiz, weil die Technik des Über­set­zens so anders ist als bei den Spra­chen, die ich auch aktiv beherr­sche und bei denen das Ver­stehen kür­zere Wege geht. Beim Tsche­chi­schen bin ich immer wieder dabei, mir das erst zu erar­beiten, wie eine Fremd­sprache. Ein überaus span­nender Vor­gang: Wenn sich aus der Begeg­nung mit dem Fremden und aus dem Nicht­wissen heraus ein Inhalt erschließt. Das ist in Recherche und Umset­zung ein völlig anderer Weg. Es gibt ja diese Form der Lyrik­über­tra­gung, bei der Dichter_innen anhand von Inter­li­nearen über­setzen, das hat ver­gleich­bare Momente.

 

M.K.: Muss man nicht wenigs­tens eine Weile in dem Land gelebt haben, dessen Sprache man übersetzt?

 

A.T.: Das hat ganz stark mit den Text­sorten zu tun. Umgangs­sprache, leben­dige Sprache, sozu­sagen von der Straße, die ihrer ganz eigenen Gram­matik und Semiotik folgt, so ein Phä­nomen wie der rus­si­sche Mat bei­spiels­weise, so etwas kann man wohl nicht über­setzen, ohne es eini­ger­maßen „von innen her“ zu kennen. Dem geschrie­benen, zum Lesen bestimmten Wort kann ich mich anders nähern. Wer sich als Ver­leger darauf ein­lassen will, macht mir eine Freude. Ich sehe mich da aber auch gerne als Dilet­tanten und möchte den „rich­tigen“ Tschechischübersetzer_innen nicht das Feld streitig machen.

 

M.K.: Ihre erste lite­ra­ri­sche Über­set­zung war aus dem Bul­ga­ri­schen, Dem Herr­gott vom Wagen gefallen von Jordan Radit­schkow [Jordan Radičkov]. Wieso war es genau ein Werk aus dem Bul­ga­ri­schen, das den Anfang ihrer Kar­riere als lite­ra­ri­scher Über­setzer vor­ge­zeichnet hat?

 

A.T.: Vor allem war es der aller­schwie­rigste von allen denk­baren zeit­ge­nös­si­schen Autoren. Das war wie ein Sprung ins kalte Wasser. Aber ich fand diese Stimme absolut fas­zi­nie­rend: Ein Autor, der mit den tra­dierten, immer noch real­exis­tie­renden dörf­li­chen Kom­mu­ni­ka­tions- und Erzähl­struk­turen arbei­tete, diese aber zu etwas ganz Beweg­li­chem über­höhte und tran­szen­dierte. Dar­über wollte ich meine Diplom­ar­beit schreiben – aus der ich dann später in meiner Zeit als Indus­trie­über­setzer, um den Kon­takt zur Lite­ratur zu halten und mich als Gut­achter zu emp­fehlen, ein Kapitel als Schreib­probe an den Reclam-Verlag in Leipzig schickte. Prompt wollten sie die Über­set­zung haben. Das war der Absprung. Als ich den Ver­trag mit Reclam hatte, bin ich sofort weg von Carl Zeiss Jena und konnte in aller Ruhe, „frei­schaf­fend“, mit dem kleinen Sohn im Haus, dieses Buch machen. Par­al­lele Ein­übung ins Vater- und ins Über­set­zer­sein, ein glück­li­ches Jahr.

 

M.K.: Beim Reclam-Verlag waren Sie ja später auch als Lektor tätig. Erst als Lektor, so sagten Sie in einem Inter­view, haben sie gute von schlechten Über­set­zungen zu unter­scheiden gelernt. Woran erkennen Sie eine gute Übersetzung?

 

A.T.: Ohne den Blick ins Ori­ginal lässt sich eine gute von einer schlechten Über­set­zung letzt­lich nicht unter­scheiden. Aber schon auch in sich muss der Text schlüssig sein und Sinn pro­du­zieren, so dass man einen Zusam­men­hang ver­steht. Das ist in der Bel­le­tristik schwie­riger zu bemessen, weil es auch Texte gibt, die gar nicht schlüssig sein wollen oder es ein­fach nicht sind, aber das betrifft dann eher den großen Zusam­men­hang. Im Mikro­be­reich der Sprache über­zeugt vor allem Kohä­renz. Und allerlei ästhe­ti­sche Dinge gehören noch dazu. Ich habe so manche schlechte und mit­tel­mä­ßige Über­set­zung gesehen in jener Zeit. Und aus Feh­lern lernt man, auch aus den Feh­lern anderer. Das war auch eine Ernüch­te­rung. Anfangs hatte ich gedacht, wer über­setzt, der kann es, sonst ließe man ihn nicht.

 

M.K.: Als lite­ra­ri­scher Über­setzer wurden Sie vor allem nach der Wende bekannt. Wie haben Sie die Wen­de­zeit in dieser Branche erlebt?

 

A.T.: Ich habe die Wende unmit­telbar im Reclam-Verlag mit­er­lebt. Eine wilde, inten­sive Zeit, bei­nahe rausch­haft, bevor die Ver­hält­nisse wieder zu einer Nor­ma­lität erstarrten, die nur wir nicht kannten. Der Stutt­garter über­nahm den Leip­ziger Reclam-Verlag und war nicht kom­pa­tibel mit dem, was wir zu machen uns so vorgestellt hatten. Da viele blü­hende Träume platzten und auch der Wider­stand im eigenen Haus erlahmte, hat es mich dort relativ schnell her­aus­ka­ta­pul­tiert. Die Gele­gen­heit der Wende emp­fand ich als Impuls, ins Offene zu gehen. So bin ich freier Über­setzer geworden.

 

M.K.: Was genau hat Sie in dieses Offene ziehen lassen?

 

A.T.: Im Rück­blick auf meinen Wer­de­gang ergibt sich da ein merk­wür­diges Kon­ti­nuum. Warum ich gerne Über­setzer geworden wäre, das hatte ursprüng­lich mit der Auto­nomie dieses Berufs in der DDR zu tun, die eine große Anzie­hungs­kraft auf mich aus­übte. Die gab es sonst eigent­lich nur noch bei Künstler_innen, die nicht wollten, dass der Staat ihnen rein­redet. Und in der Lite­ratur waren das eher die Übersetzer_innen, wäh­rend Autor_innen, die so arbei­teten, nur schwer zu eigenen Büchern kamen. Das Über­setzen war eine erstaun­lich aut­arke Ange­le­gen­heit, die noch dazu, bei den extrem nied­rigen Woh­nungs­mieten, Lebens­mit­tel­preisen usw., ein erträg­li­ches Aus­kommen bot. Diese Per­spek­tive hatte ich mir bereits zu eigen gemacht. Und nach der Wende, unter ganz anderen poli­ti­schen Vor­zei­chen, habe ich diese Auto­nomie nicht mehr missen wollen, auch im neuen System nicht. Diese Ent­schei­dung war um einiges ris­kanter, weil es zu einer pre­kä­reren Exis­tenz führte, als sie es in der DDR gewesen wäre. Ob dieses Kon­ti­nuum aus Gewohn­heit, Tem­pe­ra­ment oder aus welt­an­schau­li­chen Gründen zustande kam, das kann ich gar nicht so genau sagen. Aber ich habe gemerkt, dass ich auch forthin keinen Chef haben wollte. Loya­lität aus Erwerbs­gründen ist mir zutiefst fremd geblieben. Das ist eine der deut­lichsten Kon­ti­nui­täten in meinem Leben. Wir aus der DDR sind ja sonst doch mit zwei­ge­teilten Bio­gra­fien ver­sehen, aber viel hat sich nicht geän­dert an meinem Arbeitsleben.

 

M.K.: Sie spre­chen bereits an, dass sich Lite­ra­tur­über­setzen heut­zu­tage selten öko­no­misch ren­tiert. Warum über­setzen Men­schen trotzdem Lite­ratur? Was liegt für Sie auf der anderen Waagschale?

 

A.T.: Einen Teil habe ich beschrieben. Dazu kommt der künst­le­ri­sche Aspekt, der mich reizt. Und da ist dieser Spagat, das Unmög­liche zu tun. Wir haben das gän­gige Bonmot eines Kol­legen: Warum man Shake­speare nicht über­setzen kann und es trotzdem immer wieder tut. Frank Gün­ther, der den kom­pletten Bühnen-Shake­speare über­setzt hatte, hat mal einen Vor­trags­abend so über­schrieben. An sich kom­plett wahn­witzig, einen Text zu „ent­leiben“ und als pure Idee zu ver­pflanzen in ein fremdes Sub­strat – man tut es und hat für das Ergebnis ein­zu­stehen. Das hat so etwas Draht­seil­haftes, als Reiz und auch als Zumu­tung. Aber eben auch eine Rou­tine: Kunst und Hand­werk zusammenzuführen.

 

M.K.: Sie hatten mal ein Inter­view gemeinsam mit dem Autor Michail Šiškin gegeben, in dem es heißt, dass es sehr kom­pli­ziert war, einen Verlag für die Über­set­zung seiner Werke zu finden, weil seine Werke als schwer gelten. Die DVA hat es schluss­end­lich gewagt. Liegt die Ver­ant­wor­tung beim Über­setzer selbst, Bücher an Ver­lage zu ver­mit­teln und einem Lese­pu­blikum zu eröffnen? 

 

A.T.: In der Regel stehen dazwi­schen noch die Literaturagent_innen. Der rus­si­sche Markt zum Bei­spiel ist fest in der Hand einiger zumeist west­eu­ro­päi­scher Agen­turen, die ver­su­chen, die in Russ­land mehr oder weniger eta­blierten Autor_innen in der Welt unter­zu­bringen. Bei Šiškin bissen die deutsch­spra­chigen Ver­lage jedoch lange nicht an. Viel­leicht lag es auch am fal­schen Buch. Als ich mich beim Agenten erkun­digte, warum es nicht klappt, haben wir schnell beschlossen, noch einen Ver­such zu wagen. Venus­haar war frisch in der Welt, und dieses Werk ist ein­fach sein Bestes.

 

M.K.: Den direkten Weg gibt es gar nicht?

 

A.T.: Diesen direkten Weg, dass eine Über­set­zerin sich für einen Autor ein­setzt, gibt es auch. Manchmal gelingt es. Für eine klei­nere Lite­ratur wie die bul­ga­ri­sche gibt es sowieso keine spe­zi­ellen Vermittler_innen, ein­fach man­gels Masse. Keiner könnte davon leben. Es gibt nur hin und wieder einen Autor, der es zu einem inter­na­tional ope­rie­renden Agenten schafft.

 

M.K.: Wie wählen Sie Ihre Werke aus?

 

A.T.: Meis­tens gar nicht. Ich kriege sie auf den Tisch. Das ist übri­gens etwas, was mich nach 30 Jahren im Beruf plötz­lich wieder unzu­frieden macht. Gerade wenn man auf zeit­ge­nös­si­sche Lite­ratur abon­niert ist, wie es bei mir lange Zeit der Fall war, führt es manchmal dazu, dass man als Stimme von einem bestimmten Autor gehan­delt wird, so hängt man ihm an, das ist schön, aber auch gefähr­lich. Hat man zwei oder drei, ist das fast so wie im Mär­chen von Hase und Igel. Der eine hat schon das neue Buch geschrieben, wenn man mit dem Buch des Kol­legen eben fertig ist. So lässt sich aus Zeit‑, Kraft- und Kapa­zi­täts­gründen kaum noch in eigene Ent­de­ckungen investieren.

 

M.K.: Spielen da nicht auch die Ver­lage eine ent­schei­dende Rolle?

 

A.T.: Es gibt Bei­spiele, auch im Fall rus­si­scher Lite­ratur, wo sich Übersetzer_innen mit einem Verlag ver­mählt haben. Aber die wenigsten soge­nannten Publi­kums­ver­lage leisten es sich, in einer bestimmten Lite­ratur pro­gram­ma­tisch zu denken und zu ver­legen. Hier springen bes­ten­falls Klein­ver­lage ein, die sich aus patrio­ti­schen oder dem Herzen nahe lie­genden Gründen spe­zia­li­sieren und ver­su­chen, so ein Vor­haben öko­no­misch zu stemmen. Meis­tens ist das dann nur ein kür­zerer Traum, geht nur eine Weile gut. Im Moment sind es zwei Ver­lage, die für das Bul­ga­ri­sche noch auf der Piste sind, der eta-Verlag in Berlin und ink press in Zürich. Mit der Ber­liner Ver­le­gerin ist zum Bei­spiel die Über­set­zung von Angel Igovs Die Sanft­mü­tigen ent­standen, und es gibt noch wei­tere Pläne.

 

M.K.: Würden Sie sagen, dass „Die Sanft­mü­tigen“ ein Start­zei­chen für die bul­ga­ri­sche Lite­ratur waren?

 

A.T.: Das war wahr­schein­lich das zwölfte Start­zei­chen. Man muss immer wieder neu starten, und dann irgend­wann erlahmt es wieder, und wieder ist eine Weile lang nichts.

 

M.K.: Wie kam es zu diesem erneuten Versuch?

 

A.T.: Es gibt einen sehr guten Autor, Georgi Gos­po­dinov, der die zeit­ge­nös­si­sche bul­ga­ri­sche Lite­ratur über Jahre hin sozu­sagen erschöp­fend zu reprä­sen­tieren schien. Er wird es mir nicht ver­übeln, wenn ich das hier so sage, zumal er nichts dafür kann. Gos­po­dinov war so etwas wie der Platz­halter für die bul­ga­ri­sche Lite­ratur. Das ist natür­lich fatal, vor allem für die anderen. Was Igov und mich anbe­langt, so war es die Chefin des Über­set­zer­hauses in Sofia, die uns mit der Idee her­aus­for­derte, ob nicht Die Sanft­mü­tigen die pas­sende Causa wären, an der sich beweisen ließe, dass in Deutsch­land noch etwas mit bul­ga­ri­scher Lite­ratur geht oder etwa nicht? Die Wette galt, so könnte man sagen.

 

M.K.: „Die Sanft­mü­tigen“ von Angel Igov waren in Bul­ga­rien eine kleine Sen­sa­tion. Hat das am Ende für den Ver­such gesprochen?

 

A.T.: Die Gründe dafür, anzu­nehmen, dass Europa sich für das Buch inter­es­sieren könnte, lagen in dem Buch selbst. Es besetzt einen weißen Fleck, rührt an einem Tabu im wei­testen Sinne. Eine spe­zi­elle his­to­ri­sche The­matik, die aber an die Situa­tion in Gesamt­mit­tel­eu­ropa andockt – und geschrieben auf eine Art, die affi­ziert und über­na­tio­nale Muster bedient. Die Rech­nung ist auf­ge­gangen, der Text hat tat­säch­lich ein gewisses Auf­sehen erregt, genau auf die Art, die zu erhoffen, und in dem Maß, das ohne jedes Wer­be­budget gerade noch vor­stellbar gewesen war. Das war eine inter­es­sante Erfah­rung über das Mach­bare hin­sicht­lich so einer „kleinen“ Lite­ratur. Es lässt sich auch nicht beliebig reproduzieren.

 

M.K.: In einem Inter­view erwähnten Sie einmal, dass das Bul­ga­ri­sche viel zwi­schen den Zeilen bietet. Was heißt das für Sie beim Übersetzen?

 

A.T.: Beim Wechsel zwi­schen den Spra­chen habe ich manchmal das Gefühl, auch die Tech­niken wech­seln zu müssen, wie ein Künstler, der Holz­schnitte und Kup­fer­stiche macht. Ich hänge eher dem Axiom an, dass sich in jeder Sprache alles sagen lässt, wenn auch auf ver­schie­dene Weise, in ver­schie­denen Graden von Schärfe und Unschärfe, aus der Nähe gesehen. Die bul­ga­ri­sche Lite­ra­tur­sprache ist im Ver­gleich zur rus­si­schen jünger, der Wort­schatz messbar kleiner. Dafür ist der For­men­be­stand, die Anzahl der Ablei­tungen von einem Wort, bemer­kens­wert groß. Die Mor­pho­logie der Sprache ist eine andere, die dazu führt, dass geringste Nuan­cie­rungen in der Form sehr ver­schie­dene Sach­ver­halte aus­drü­cken und der Spiel­raum der Inter­pre­ta­tion größer scheint. Dazu kommen, his­to­risch betrachtet, vie­lerlei Ein­flüsse aus Dia­lekten und benach­barten Spra­chen wie dem Tür­ki­schen oder Grie­chi­schen, mit eigener Aura. Auch von daher ist die Sprache viel­schich­tiger, der Grad der Fremd­heit erscheint höher. Es könnte sein, dass sich mir das in bestimmten Berei­chen dar­stellt als zwi­schen den Zeilen ste­hendes Fragezeichen.

 

M.K.: Wenn Sie einen neuen Über­set­zungs­auf­trag von einem Autor haben, den Sie noch nie über­setzt haben, wie fangen Sie an?

 

A.T.: Das ist ein Kampf. Wenn man, wie zumeist, mit dem letzten Buch schon etwas über der Zeit ist, dann geht man von einem Buch ziem­lich rasch zum anderen über. Man über­setzt die ersten zehn Seiten, und es ist, als hätte man nie zuvor über­setzt, der Text sperrt sich. Und das ist völlig logisch, denn man ver­sucht den Autor B erst einmal wie Autorin A zu über­setzen, mit der­selben Stimme, die immerhin ein Viertel Jahr lang die eigene war, mit der man sozu­sagen spre­chen oder schreiben musste, indem man Autorin A über­setzte. Und die kann bei Autor B natür­lich nicht funk­tio­nieren. Es ist ein Pro­zess des Los­wer­dens und des Neu­fin­dens. Diese Aus­ein­an­der­set­zung führt tat­säch­lich zu einer Krise, einer sys­te­mi­schen, gesetz­mä­ßigen Krise, die sinn­voll und uner­läss­lich ist, weil man sich von Mal zu Mal neu erfinden muss in seiner Sprache.

 

M.K.: Das heißt, dass es ohne diese Krise gar nicht geht?

 

A.T.: Wenn diese Krise nicht ein­träte, wäre das ein ganz schlechtes Signal. Es würde bedeuten, dass man den Autor B in der Sprache der Autorin A über­setzt. Das führt zu nichts Gutem. Daran, dass diese Krisen regel­mäßig ein­treten, kann man sehen, wie Über­setzen wirk­lich funk­tio­niert. Man gibt sich für einen anderen aus.

 

M.K.: Würden Sie sagen, dass ein Text jemals fertig sein kann?

 

A.T.: Es gibt die Vor­stel­lung der idealen Über­set­zung, das Äqui­va­lent, so hieß es damals in der Über­set­zungs­theorie. Aber das kann es in der Lite­ratur nicht geben, weil Men­schen Men­schen über­setzen. Es bleibt immer ein Anteil „Ver­un­rei­ni­gung“: die Spuren der eigenen Per­sön­lich­keit, des Schrei­bens, des Den­kens und des Geschmacks. Das ist ein­fach nicht zu tilgen. So ergibt sich ein Hybrid. Und das bedeutet, dass es von jedem Ori­ginal eine belie­bige Anzahl Über­set­zungen geben kann und eigent­lich müsste.

Je theo­re­ti­scher man die „ideale Über­set­zung“ fasst, desto weniger ist dieses Fer­tige zu denken, geschweige her­zu­stellen. Prak­tisch gibt es ein Zu-früh und ein Zu-spät des Auf­hö­rens. Es sind schon viele Bilder ver­dorben worden, an denen einer zu lange gemalt hat. Das Zu-früh ist besser zu kor­ri­gieren als das Zu-spät. Das ist dann aber eine Wahrnehmungssache.

 

M.K.: Vielen Dank, Herr Tretner, für das Interview!

 

Das Inter­view hat Mandy Krause am 22.06.21 via Zoom geführt.

Bild­quelle: Andreas Tretner (links) und Vla­dimir Sor­okin (rechts), © Archiv Kie­pen­heuer & Witsch.