Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Das Recht zu spre­chen. Über ein Kriegs­ge­dicht von Iryna Shuvalova

Unvor­stell­bar­keit, Fas­sungs­lo­sig­keit, Sprach­lo­sig­keit. Dies sind die Worte, die den Angriffs­krieg Russ­lands gegen die Ukraine begleiten. Sie bilden den Kern eines stetig anwach­senden Mas­sivs von Exper­ten­kom­men­taren, Stel­lung­nahmen, Mei­nungs­äu­ße­rungen, Tweets und Posts, Bericht­erstat­tung und Doku­men­ta­tion, die in all ihren unter­schied­li­chen Formen eben dieses Unvor­stell­bare in Pro­gnosen und Ana­lysen auf­lösen wollen, die im Zustand ele­men­tarer Erschüt­te­rung nach Deu­tungs­mus­tern und Gewiss­heiten suchen und die nach Worten ringen, um Ereig­nisse auf den Begriff zu bringen, die sich gegen jede Ver­be­griff­li­chung sperren.

 

Die Erfah­rung von Sprach­lo­sig­keit ver­bindet sich zumeist mit dem stummen Ent­setzen ange­sichts der Gewalt von Krieg und Besat­zung, ange­sichts des Grauens von Tod und Zer­stö­rung. Hier droht die Gewiss­heit, dass Spre­chen ein Akt des Ver­ste­hens und Sinn­bil­dens ist, zu ver­sagen. Teil dieser Erfah­rung ist aber auch ein Bewusst­sein dafür, in wel­chem Maß der rus­si­sche Feldzug gegen die Ukraine im Namen der „Rus­si­schen Welt“ geführt wird. Was sich als Schutz von rus­si­scher Sprache und Kultur auf dem Ter­ri­to­rium der Ukraine aus­gibt, negiert mit dem poli­tisch sou­ve­ränen Exis­tenz­recht der Ukraine und ihrer Bürger*innen auch ihr Sprach­recht. Hier setzt sich eine Geschichte des Lin­guo­zids fort, die weit mehr betrifft als ein Lexikon repres­sierter Wörter. Und Teil dieser Erfah­rung ist schließ­lich die drän­gende Frage nach der Legi­ti­mität von Rede, der eigenen und der fremden. Von der Pflicht, nicht zu schweigen, ist viel gespro­chen worden. Wer aber hat das Recht zu spre­chen – und in wel­cher Sprache? Hier hat jedes Wort Rechen­schaft dar­über abzu­legen, ob nicht im Sprechakt selbst neue Gewalt verübt wird.

 

© Ura­nibor, 2010. Iryna Shu­va­lova liest ihre Lyrik in der Nähe der Natio­nal­uni­ver­sität Lviv.

Am 2. April publi­zierte das Inter­net­ma­gazin Majdan ein Gedicht von Iryna Shu­va­lova, das unmit­telbar in das Geflecht dieser Fragen hin­ein­führt. Shu­va­lova reagiert in ihren Versen auf die Bilder aus Buča, die nach dem Abzug der rus­si­schen Truppen aus dem Ort welt­weit Ent­setzen aus­lösten und dazu führten, dass Russ­land nicht nur aus dem Men­schen­rechtsrat der Ver­einten Nationen aus­ge­schlossen wurde, son­dern auch durch den Inter­na­tio­nalen Straf­ge­richtshof in Den Haag Ermitt­lungen wegen Kriegs­ver­bre­chen auf­ge­nommen wurden. In Shu­va­lovas Gedicht, das unmit­telbar ver­tont und in den sozialen Netz­werken viel­fach geteilt wurde, tritt an die Stelle der Argu­men­ta­tion insti­tu­tio­na­li­sierten Recht­spre­chens die Refle­xion des indi­vi­du­ellen Sprachrechts:

 

 

якщо мене не вбивають

чи маю право я

говорити із тими кого вбивають

на рівних

 

чи маю я право боліти

якщо не маю рани

скаржитись

якщо не маю втрати

 

чи маю право

на безсоння

коли тут

не чути сирен

 

близькість смерті тепер

лежить між нами на столі

як хлібина

із запеченим усередині ножем

 

якщо мене не вбивають

що я можу сказати

тим кого

так

 

адже переломившися через смерть

мова стає сама на себе не схожа

і ось –

ми з тобою вже не говоримо

 

однією

і зрештою

якщо мене не вбивають

чи маю право я

 

хотіти тримати тебе

так само міцно

як звикла тримати перед тим

коли не вбивали ще жодну з нас

 

 

Wenn man mich nicht tötet

habe ich das Recht

mit denen zu spre­chen die getötet werden

von gleich zu gleich

 

habe ich das Recht zu leiden

obwohl ich keine Wunden habe

zu klagen

obwohl ich nichts ver­loren habe

 

habe ich das Recht

auf Schlaf­lo­sig­keit

auch wenn hier

keine Sirenen zu hören sind

 

Todes­nähe liegt jetzt

zwi­schen uns auf dem Tisch

wie ein Laib Brot

in den ein Messer ein­ge­ba­cken ist

 

wenn man mich nicht tötet

was kann ich sagen

zu denen die

es schon sind

 

denn zer­bro­chen durch den Tod

ähnelt sich die Sprache selbst nicht mehr

und nun

spre­chen wir schon nicht mehr miteinander

 

in einer

und letzt­lich

wenn man mich nicht tötet

habe ich das Recht

 

dich halten zu wollen

so sehr

wie ich dich zuvor immer hielt

als noch keine von uns getötet wurde

 

Über­set­zung: Susanne Strätling

 

Wer darf über oder für die Opfer sol­da­ti­scher Gewalt spre­chen, dessen Leben ihr nicht selbst zum Opfer gefallen ist? Wer kann etwas über den Schmerz der Ver­wun­dung sagen, dessen Körper nicht selbst von Waffen getroffen wurde? Wer weiß etwas über die Kako­phonie des Krieges zu berichten, der sie nicht mit eigenen Ohren gehört hat? Dies sind die Fragen, denen sich jedes Spre­chen zu stellen hat. Und als wäre damit nicht schon jedes mög­liche Wort frag­würdig geworden, schließt Shu­va­lova noch eine wei­tere Frage an. Sie betrifft nicht das Wer, das spre­chende Sub­jekt und seine Legi­ti­ma­tion, son­dern die Ver­seh­rung der Sprache selbst. Was heißt es, wenn Sprache in ihrer Fähig­keit zur Annä­he­rung an die Wirk­lich­keit und zur Her­stel­lung von Nähe zwi­schen Spre­chenden schei­tert, weil sie „zer­bro­chen durch den Tod“ sich selbst nicht mehr ähn­lich ist?

Shu­va­lovas Verse nehmen uns die Ver­ant­wor­tung, eine Ant­wort auf diese Fragen zu finden, nicht ab. Was sie uns aber geben, ist eine Erin­ne­rung daran, dass im Spre­chen nur dann etwas mit­ge­teilt werden kann, wenn es aus der Erfah­rung der Teil­habe heraus geschieht.

Quelle des Bei­trags­bildes: © Ura­nibor, URL: https://en.wikipedia.org/wiki/File:Shuvalova1.jpg