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Die Flucht vor dem Flüchtling

Posted on 5. Oktober 2011 by novinki

Michail Šiškin präsentiert seinen Roman Venushaar auf dem ilb
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Das Wort Asyl kommt aus dem Griechischen und bedeutet soviel wie „unberaubt“, „sicher“, eine Zufluchtsstätte oder Freistatt. Es ist ein Raum der Gesetzlosigkeit mitten in den engen Maschen des Gesetzes. Das Recht auf Asyl ist ebenso alt wie das Wort und soll politisch oder religiös Verfolgten Zuflucht bieten. In Deutschland wurde dieses im Grundgesetz festgeschriebene Asylrecht für politisch Verfolgte 1993 erheblich eingeschränkt, nicht nur durch die sogenannte Drittstaatenregelung, sondern auch dadurch, dass das in der Verfassung festgeschriebene Grundrecht seitdem ans Gesetz und die Frage delegiert wird, welche Länder überhaupt als politisch ausreichend unzuverlässig gelten. Das Asylrecht ist damit zum Gegenstand der Gefahrenabwehr geworden. Angela Merkel spricht von den skandalösen Vorgängen an den europäischen Außengrenzen heute als „Flüchtlingsbekämpfung“. Asylsuchende sehen sich seither dem Kampf mit dem „Asylbewerberleistungsgesetz“ sowie einer für ihr Land geltenden Quote ausgesetzt.

Michail Šiškin hat seinen Roman Venushaar (DVA 2011, russ.: Venerin volos, 2005), der besser ist als sein Titel befürchten lässt, gerade auf dem Internationalen Literaturfestival vorgestellt. Der Roman beginnt mit Asylsuchenden und einem Dolmetscher, der für die Schweizer Einwanderungsbehörde arbeitet und die Gespräche mit Flüchtlingen aus der ehemaligen Sowjetunion übersetzen muss. Auch in der Schweiz wurde das Asylrecht im Jahr 2005 verschärft, und zwar nach dem Vorbild Deutschlands. Der Roman nennt diesen Ort die „Flüchtlingskanzlei des Ministeriums für Paradiesverteidigung“ (S. 16). Die Befragung wird zur Untersuchung, zum Verhör, die Asylbewerber zu Angeklagten, denn „für einen abschlägigen Bescheid genügt es, Unstimmigkeiten in den Aussagen des Räubers zu finden“ (S. 17) und so folgt der Beamte der Logik: „Wenn man schon nicht hinter die Wahrheit kommt, sollte man zumindest hinter die Unwahrheit kommen.“ (S. 18). Das Wichtigste einer solchen auf dem Migrationsamt erzählten Flüchtlingsgeschichte ist eigentlich die offene Frage, ob sie „gut ausgeht“ (S. 51). Es erinnert an Dostojevskij, wenn der „Untersuchungsrichter“ seine Rolle im Folgenden radikal überschreitet und dabei mit den Erzählungen der Asylbewerber konkurriert. Und auch die Sehnsucht, mit der die Idee des Asyls vielleicht verbunden ist, kommt später zur Sprache: Einer der Asylbewerber sagt klar, er möchte „frei von Vaterländern“ (S. 129) sein. So beginnt der Roman mit einem interessanten Narrationsproblem: Es scheint auf die Erzählungen der Flüchtlinge anzukommen. Diese müssen wahr sprechen, Literatur aber weiß, wie heikel das ist, ist sie doch an einem Wahrheitsbegriff orientiert, der sich nicht deckt mit dem von Historie oder Recht, welche nichtsdestotrotz beide auf Erzählungen angewiesen sind.

Und eine weitere Frage stellt der Beginn des Romans: was nämlich ist eigentlich „politisch“, wenn doch nur politischen Flüchtlingen Asyl gewährt wird. Denn zwischen Russland und Westeuropa zeigt sich eine eindeutige Asymmetrie: Während Russland ökonomisch und diplomatisch mit dem Westen auf Augenhöhe agiert, fliehen aus dem selben Land zumindest in Venushaar immer noch zahlreiche Menschen aus „politischen“ Gründen nach Westeuropa: weil sie wegen politischer Aktivität von den Behörden unter Druck gesetzt werden, weil sie sich an die Gesetze halten und der Korruption trotzen wollen und dafür verprügelt werden oder weil sie aus einer Region kommen, in der auf ihre HIV-Infektion nicht mit medizinischer Hilfe, sondern mit sozialer Ausgrenzung reagiert wird. Was aber ist eigentlich ein „politischer“ Grund?

Mit diesen beiden Problemen, einem narratologischen und einem „politischen“ beginnt der Roman und enttäuscht dann die Hoffnung auf eine ernsthafte Auseinandersetzung aus einem einfachen Grund. Wie Šiškin uns berichtet, ist es eigentlich egal, was die Asylbewerber, im Roman und in der Bürokratensprache GS – Gesuchsteller genannt, erzählen und ob es wahr ist oder nicht. Weil im zynischen Asylrecht sowieso „nur die Quote entscheidet“. Es sei doch klar, gibt auch der „Untersuchungsrichter“ im Roman zu, „dass das, was Sie hier erzählen, für die Entscheidungsfindung schlussendlich nicht von Belang ist!“ (S. 51). Wenngleich der Roman immer wieder zu den Interviews und den an dem harten Erzählstoff leidenden Dolmetscher zurückkommt, zweigt er doch genau an dieser Funktionsstelle von jedem Realismus ab. Die Erzählungen der Flüchtlinge Ufern ins Historische und Mythologische aus. Sie werden ergänzt durch das fiktive Tagebuch der Sängerin Isabella Jurjewa, an die jene Ich-Form delegiert wird, die der Dolmetscher selbst abgeben muss. Neben einem antiken Nebenschauplatz – der Dolmetscher liest in den Pausen Xenophons Anabasis –  bildet noch die scheiternde Beziehung des Dolmetschers zu seiner Frau einen wichtigen Erzählstrang. Diese nämlich, mit Namen Isolde, war früher mit Tristan liiert, der bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Sie denkt beim Sex mit dem „Dolmetsch“ noch immer an Tristan, was natürlich zur Trennung führt.

Michail Šiškin hat in Russland nicht erst mit seinen Romanen große Erfolge gefeiert und alle denkbaren Preise gewonnen. Dass dieser Erfolg ihm auch im deutschsprachigen Raum zuteil wird, ist nicht selbstverständlich, denn, wie Šiškin sagt: „Der Übersetzer kann alles übersetzen außer dem Leser.“ Für Venushaar, die erste Übersetzung ins Deutsche, wurde er auf jeden Fall auch hier zu Lande gefeiert und sogar mit dem Internationalen Literaturpreis prämiert, und zwar nicht alleine, sondern zusammen mit seinem Übersetzer Andreas Tretner. Seit 1995 lebt Šiškin in Zürich und hat tatsächlich als ein solcher Dolmetscher gearbeitet. Neu in der Schweiz – so erzählt er beim ilb – sei ihm zunächst unklar gewesen, worüber man in „so einem langweiligen Land wie der Schweiz“ schreiben solle. Auf dem Migrationsamt aber seien ihm dann plötzlich diese „russischen Geschichten“ begegnet, die in Russland „überall in der Luft“ seien, die aber niemand hören wolle, vor denen man sich nur zu schützen versuche. Er musste sich also genau jene Geschichten anhören, vor denen er vielleicht geflohen ist, als er selbst das Weite gesucht hat.

In Šiškin will man wieder einmal in einem Gegenwartsautor die Fortsetzung der großen russischen Erzähler vor allem des 19. Jahrhunderts erkennen. Problematisch ist jedoch, dass er solche Assoziationen und Einordnungen scheinbar gezielt evoziert, dass er zu jenen Erzählern gehört, die bei jeder Gelegenheit ihre unheimliche Kenntnis der gesamten Mythologie und Literaturgeschichte vorführen müssen. Das wirft wiederum ein neues Licht auf den Titel, der diesen Umstand aber zugleich erklärt. Das Venushaar ist nämlich keine erotische Metapher, sondern ein Farngewächs, das durch alte Mauern sprießt und Ruinen überwuchert wie das überschäumende Erzählen Šiškins selbst. Auf jeden Fall nötigt er dem Übersetzer damit einen fast zwanzigseitigen Kommentarteil mit Worterklärungen ab. Dass das spannende Thema des Anfangs dabei immer mehr aus den Augen gerät, ist kein Wunder. Man kann die Worte des Untersuchungsrichters über die Flüchtlinge nicht vergessen: „In Wirklichkeit gibt es euch gar nicht.“ (S. 140). In Šiškins Romanen geht es, wie er uns erzählt, um etwas Wichtigeres, und zwar immer um das gleiche, nämlich um den Tod. Heute, sagt er mit gestreiftem Polohemd auf dem Podium des ilb sitzend, wisse er, dass es „die höchste Gabe“ sei, „den Tod genießen zu können“. Im Roman hört sich das dann so an: „Das Leben ist eine Saite, und der Tod ist die Luft. Ohne Luft lässt sich keine Saite zum Klingen bringen.“ (S. 140).
Als Šiškin nach dem Konzept gefragt wird, mit dem er die zahlreichen Erzählungen geordnet hat oder nach seiner Ausgangsidee und Vorgehensweise, sagt er nicht als erster kluger Autor: „Der Roman ist klüger als der Autor.“ Für Šiškin mangelt es der Flüchtlingsgeschichte scheinbar an literarischer Buntscheckigkeit, sodass er einen Stil der fortwährenden Abschweifung pflegt. In nicht nur grausamen und tragischen, sondern auch grotesken, fast phantastischen Erzählungen und einem möglichst listigen Spiel des Autors mit dem Leser scheint es manchmal etwas zu sehr um die eigene Virtuosität zu gehen. Dies zusammen mit der kaleidoskopischen Zitathaftigkeit ergibt eine Erzählweise die man noch immer postmodern nennen kann, die aber selbst dafür verantwortlich ist, dass sich ein solches Label aufdrängt. Es erhärtet sich endgültig dann, wenn der Untersuchungsrichter Dinge sagt wie „Alles ist schon mal da gewesen“ (S. 53) oder feststellt, dass „alle Geschichten schon hundertmal erzählt worden“ (S. 55) sind. Den verschiedenen Erzählsträngen gelingt es selten, das konkrete, vor ihm stehende Phänomen des Flüchtlings besser zu verstehen oder mit irgendeinem Mehrwert zu versehen. Vielleicht liegt eben darin die Antwort des Romans auf den Autor und der Sinn all der Abschweifungen: zu erkennen, dass sie nicht helfen, dass sie nichts sind als eine Flucht vor dem Flüchtling. Der Roman sagt das auch, der Dolmetscher lese nämlich nur, „um auf andere Gedanken zu kommen“ (S. 28). Und so entsteht ein Buch, das wohl vor allem für jene Leser von unbedingtem Interesse ist, die – wie man so schön sagt – vom Autor entführt werden wollen.

von Roman Widder

Michail Schischkin: Venushaar. Roman. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011, 560 Seiten.

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Die Flucht vor dem Flüchtling - novinki
Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Die Flucht vor dem Flüchtling

Michail Šiškin prä­sen­tiert seinen Roman Venus­haar auf dem ilb
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Das Wort Asyl kommt aus dem Grie­chi­schen und bedeutet soviel wie „unbe­raubt“, „sicher“, eine Zufluchts­stätte oder Frei­statt. Es ist ein Raum der Gesetz­lo­sig­keit mitten in den engen Maschen des Gesetzes. Das Recht auf Asyl ist ebenso alt wie das Wort und soll poli­tisch oder reli­giös Ver­folgten Zuflucht bieten. In Deutsch­land wurde dieses im Grund­ge­setz fest­ge­schrie­bene Asyl­recht für poli­tisch Ver­folgte 1993 erheb­lich ein­ge­schränkt, nicht nur durch die soge­nannte Dritt­staa­ten­re­ge­lung, son­dern auch dadurch, dass das in der Ver­fas­sung fest­ge­schrie­bene Grund­recht seitdem ans Gesetz und die Frage dele­giert wird, welche Länder über­haupt als poli­tisch aus­rei­chend unzu­ver­lässig gelten. Das Asyl­recht ist damit zum Gegen­stand der Gefah­ren­ab­wehr geworden. Angela Merkel spricht von den skan­da­lösen Vor­gängen an den euro­päi­schen Außen­grenzen heute als „Flücht­lings­be­kämp­fung“. Asyl­su­chende sehen sich seither dem Kampf mit dem „Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz“ sowie einer für ihr Land gel­tenden Quote ausgesetzt.

Michail Šiškin hat seinen Roman Venus­haar (DVA 2011, russ.: Venerin volos, 2005), der besser ist als sein Titel befürchten lässt, gerade auf dem Inter­na­tio­nalen Lite­ra­tur­fes­tival vorgestellt. Der Roman beginnt mit Asyl­su­chenden und einem Dol­met­scher, der für die Schweizer Ein­wan­de­rungs­be­hörde arbeitet und die Gespräche mit Flücht­lingen aus der ehe­ma­ligen Sowjet­union über­setzen muss. Auch in der Schweiz wurde das Asyl­recht im Jahr 2005 ver­schärft, und zwar nach dem Vor­bild Deutsch­lands. Der Roman nennt diesen Ort die „Flücht­lings­kanzlei des Minis­te­riums für Para­dies­ver­tei­di­gung“ (S. 16). Die Befra­gung wird zur Unter­su­chung, zum Verhör, die Asyl­be­werber zu Ange­klagten, denn „für einen abschlä­gigen Bescheid genügt es, Unstim­mig­keiten in den Aus­sagen des Räu­bers zu finden“ (S. 17) und so folgt der Beamte der Logik: „Wenn man schon nicht hinter die Wahr­heit kommt, sollte man zumin­dest hinter die Unwahr­heit kommen.“ (S. 18). Das Wich­tigste einer sol­chen auf dem Migra­ti­onsamt erzählten Flücht­lings­ge­schichte ist eigent­lich die offene Frage, ob sie „gut aus­geht“ (S. 51). Es erin­nert an Dos­to­jevskij, wenn der „Unter­su­chungs­richter“ seine Rolle im Fol­genden radikal über­schreitet und dabei mit den Erzäh­lungen der Asyl­be­werber kon­kur­riert. Und auch die Sehn­sucht, mit der die Idee des Asyls viel­leicht ver­bunden ist, kommt später zur Sprache: Einer der Asyl­be­werber sagt klar, er möchte „frei von Vater­län­dern“ (S. 129) sein. So beginnt der Roman mit einem inter­es­santen Nar­ra­ti­ons­pro­blem: Es scheint auf die Erzäh­lungen der Flücht­linge anzu­kommen. Diese müssen wahr spre­chen, Lite­ratur aber weiß, wie heikel das ist, ist sie doch an einem Wahr­heits­be­griff ori­en­tiert, der sich nicht deckt mit dem von His­torie oder Recht, welche nichts­des­to­trotz beide auf Erzäh­lungen ange­wiesen sind.

Und eine wei­tere Frage stellt der Beginn des Romans: was näm­lich ist eigent­lich „poli­tisch“, wenn doch nur poli­ti­schen Flücht­lingen Asyl gewährt wird. Denn zwi­schen Russ­land und West­eu­ropa zeigt sich eine ein­deu­tige Asym­me­trie: Wäh­rend Russ­land öko­no­misch und diplo­ma­tisch mit dem Westen auf Augen­höhe agiert, fliehen aus dem selben Land zumin­dest in Venus­haar immer noch zahl­reiche Men­schen aus „poli­ti­schen“ Gründen nach West­eu­ropa: weil sie wegen poli­ti­scher Akti­vität von den Behörden unter Druck gesetzt werden, weil sie sich an die Gesetze halten und der Kor­rup­tion trotzen wollen und dafür ver­prü­gelt werden oder weil sie aus einer Region kommen, in der auf ihre HIV-Infek­tion nicht mit medi­zi­ni­scher Hilfe, son­dern mit sozialer Aus­gren­zung reagiert wird. Was aber ist eigent­lich ein „poli­ti­scher“ Grund?

Mit diesen beiden Pro­blemen, einem nar­ra­to­lo­gi­schen und einem „poli­ti­schen“ beginnt der Roman und ent­täuscht dann die Hoff­nung auf eine ernst­hafte Aus­ein­an­der­set­zung aus einem ein­fa­chen Grund. Wie Šiškin uns berichtet, ist es eigent­lich egal, was die Asyl­be­werber, im Roman und in der Büro­kra­ten­sprache GS – Gesuch­steller genannt, erzählen und ob es wahr ist oder nicht. Weil im zyni­schen Asyl­recht sowieso „nur die Quote ent­scheidet“. Es sei doch klar, gibt auch der „Unter­su­chungs­richter“ im Roman zu, „dass das, was Sie hier erzählen, für die Ent­schei­dungs­fin­dung schluss­end­lich nicht von Belang ist!“ (S. 51). Wenn­gleich der Roman immer wieder zu den Inter­views und den an dem harten Erzähl­stoff lei­denden Dol­met­scher zurück­kommt, zweigt er doch genau an dieser Funk­ti­ons­stelle von jedem Rea­lismus ab. Die Erzäh­lungen der Flücht­linge Ufern ins His­to­ri­sche und Mytho­lo­gi­sche aus. Sie werden ergänzt durch das fik­tive Tage­buch der Sän­gerin Isa­bella Jur­jewa, an die jene Ich-Form dele­giert wird, die der Dol­met­scher selbst abgeben muss. Neben einem antiken Neben­schau­platz – der Dol­met­scher liest in den Pausen Xeno­phons Ana­basis –  bildet noch die schei­ternde Bezie­hung des Dol­met­schers zu seiner Frau einen wich­tigen Erzähl­strang. Diese näm­lich, mit Namen Isolde, war früher mit Tristan liiert, der bei einem Auto­un­fall ums Leben gekommen ist. Sie denkt beim Sex mit dem „Dol­metsch“ noch immer an Tristan, was natür­lich zur Tren­nung führt.

Michail Šiškin hat in Russ­land nicht erst mit seinen Romanen große Erfolge gefeiert und alle denk­baren Preise gewonnen. Dass dieser Erfolg ihm auch im deutsch­spra­chigen Raum zuteil wird, ist nicht selbst­ver­ständ­lich, denn, wie Šiškin sagt: „Der Über­setzer kann alles über­setzen außer dem Leser.“ Für Venus­haar, die erste Über­set­zung ins Deut­sche, wurde er auf jeden Fall auch hier zu Lande gefeiert und sogar mit dem Inter­na­tio­nalen Lite­ra­tur­preis prä­miert, und zwar nicht alleine, son­dern zusammen mit seinem Über­setzer Andreas Tretner. Seit 1995 lebt Šiškin in Zürich und hat tat­säch­lich als ein sol­cher Dol­met­scher gear­beitet. Neu in der Schweiz – so erzählt er beim ilb – sei ihm zunächst unklar gewesen, wor­über man in „so einem lang­wei­ligen Land wie der Schweiz“ schreiben solle. Auf dem Migra­ti­onsamt aber seien ihm dann plötz­lich diese „rus­si­schen Geschichten“ begegnet, die in Russ­land „überall in der Luft“ seien, die aber nie­mand hören wolle, vor denen man sich nur zu schützen ver­suche. Er musste sich also genau jene Geschichten anhören, vor denen er viel­leicht geflohen ist, als er selbst das Weite gesucht hat.

In Šiškin will man wieder einmal in einem Gegen­warts­autor die Fort­set­zung der großen rus­si­schen Erzähler vor allem des 19. Jahr­hun­derts erkennen. Pro­ble­ma­tisch ist jedoch, dass er solche Asso­zia­tionen und Ein­ord­nungen scheinbar gezielt evo­ziert, dass er zu jenen Erzäh­lern gehört, die bei jeder Gele­gen­heit ihre unheim­liche Kenntnis der gesamten Mytho­logie und Lite­ra­tur­ge­schichte vor­führen müssen. Das wirft wie­derum ein neues Licht auf den Titel, der diesen Umstand aber zugleich erklärt. Das Venus­haar ist näm­lich keine ero­ti­sche Meta­pher, son­dern ein Farn­ge­wächs, das durch alte Mauern sprießt und Ruinen über­wu­chert wie das über­schäu­mende Erzählen Šiškins selbst. Auf jeden Fall nötigt er dem Über­setzer damit einen fast zwan­zig­sei­tigen Kom­men­tar­teil mit Wort­er­klä­rungen ab. Dass das span­nende Thema des Anfangs dabei immer mehr aus den Augen gerät, ist kein Wunder. Man kann die Worte des Unter­su­chungs­rich­ters über die Flücht­linge nicht ver­gessen: „In Wirk­lich­keit gibt es euch gar nicht.“ (S. 140). In Šiškins Romanen geht es, wie er uns erzählt, um etwas Wich­ti­geres, und zwar immer um das gleiche, näm­lich um den Tod. Heute, sagt er mit gestreiftem Polo­hemd auf dem Podium des ilb sit­zend, wisse er, dass es „die höchste Gabe“ sei, „den Tod genießen zu können“. Im Roman hört sich das dann so an: „Das Leben ist eine Saite, und der Tod ist die Luft. Ohne Luft lässt sich keine Saite zum Klingen bringen.“ (S. 140).
Als Šiškin nach dem Kon­zept gefragt wird, mit dem er die zahl­rei­chen Erzäh­lungen geordnet hat oder nach seiner Aus­gangs­idee und Vor­ge­hens­weise, sagt er nicht als erster kluger Autor: „Der Roman ist klüger als der Autor.“ Für Šiškin man­gelt es der Flücht­lings­ge­schichte scheinbar an lite­ra­ri­scher Bunt­sche­ckig­keit, sodass er einen Stil der fort­wäh­renden Abschwei­fung pflegt. In nicht nur grau­samen und tra­gi­schen, son­dern auch gro­tesken, fast phan­tas­ti­schen Erzäh­lungen und einem mög­lichst lis­tigen Spiel des Autors mit dem Leser scheint es manchmal etwas zu sehr um die eigene Vir­tuo­sität zu gehen. Dies zusammen mit der kalei­do­sko­pi­schen Zitat­haf­tig­keit ergibt eine Erzähl­weise die man noch immer post­mo­dern nennen kann, die aber selbst dafür ver­ant­wort­lich ist, dass sich ein sol­ches Label auf­drängt. Es erhärtet sich end­gültig dann, wenn der Unter­su­chungs­richter Dinge sagt wie „Alles ist schon mal da gewesen“ (S. 53) oder fest­stellt, dass „alle Geschichten schon hun­dertmal erzählt worden“ (S. 55) sind. Den ver­schie­denen Erzähl­strängen gelingt es selten, das kon­krete, vor ihm ste­hende Phä­nomen des Flücht­lings besser zu ver­stehen oder mit irgend­einem Mehr­wert zu ver­sehen. Viel­leicht liegt eben darin die Ant­wort des Romans auf den Autor und der Sinn all der Abschwei­fungen: zu erkennen, dass sie nicht helfen, dass sie nichts sind als eine Flucht vor dem Flücht­ling. Der Roman sagt das auch, der Dol­met­scher lese näm­lich nur, „um auf andere Gedanken zu kommen“ (S. 28). Und so ent­steht ein Buch, das wohl vor allem für jene Leser von unbe­dingtem Inter­esse ist, die – wie man so schön sagt – vom Autor ent­führt werden wollen.

von Roman Widder

Michail Schischkin: Venus­haar. Roman. Aus dem Rus­si­schen von Andreas Tretner. Deut­sche Ver­lags-Anstalt, Mün­chen 2011, 560 Seiten.

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