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Die Ukraine-Rhetorik in Putins ‚Kriegserklärung‘

Posted on 9. März 2022 by Philine Bickhardt
Dieser Tage müssen wir einsehen, dass die aggressive Sprache Putins hierzulange nicht ausreichend ernst genommen wurde: Am 21.02.2022 hielt Putin eine einstündige Rede an die Nation, die wohl als offizielle Kriegserklärung in die Annalen der Geschichte eingehen wird. Seit dieser mit rhetorischen Mittel ausgestatteten Ansprache gibt es endgültig keine Zweifel mehr über seine Bereitschaft zu einem gewaltvollen Übergriff bzw. Inbesitznahme der gesamten Ukraine.

Dieser Tage müssen wir einsehen, dass die aggressive Sprache Putins hierzulange nicht ausreichend ernst genommen wurde: Am 21.02.2022 hielt Putin eine einstündige Rede an die Nation, die wohl als offizielle Kriegserklärung in die Annalen der Geschichte eingehen wird.  Seit dieser mit rhetorischen Mittel ausgestatteten Ansprache gibt es endgültig keine Zweifel mehr über seine Bereitschaft zu einem gewaltvollen Übergriff bzw. Inbesitznahme der gesamten Ukraine.

In den Morgenstunden am 22.02.2022 erfolgte der Angriff auf die Ukraine, für dessen Rechtfertigung Putin zuvor geworben hatte. Zuvor waren bereits die Regionen Donezk und Lugansk als „souverän“ anerkannt worden, die wie die Krim seit 2014 von russischem Militär kontrolliert werden. In dieser Rede manifestiert sich – neben den zwei großen Vorgänger-Reden „Über die Einheit der Russen und Ukraine“ (2021) und der Krimrede (2014) – die spezifische Ukraine-Rhetorik Putins. Sie bedient sich logischen Kausal- und Vergleichsschlüssen – bei gleichzeitigem Einsatz nichtverifizierter Geschichtsansichten und Lügen. Eine inszenierte Dialogizität und das Verwenden von Umgangssprache dienen zur Affekterzeugung.

 

Putin versucht durch große „Bögen“ zwischen vergangenen Ereignissen und der heutigen „Nazi-Ukraine“ einen Sinnzusammenhang herzustellen. Das Ausholen in die Geschichte erfüllt den Zweck, a) die Ukraine als eigenständigen Staat zu diskreditieren (Lenin habe den ukrainischen Nationalisten fälschlicherweise eine eigene Republik zugesprochen) und b) eine Kontinuität und ‚naturgegebene‘ Verbindung zwischen den Russen und Ukrainern mit dem Rückgriff auf die Kievskaja Rus‘ (Kiewer Rus) zu behaupten. Wie Riccardo Nicolosi bereits für die Vorgänger-Reden zur Ukraine festgestellt hat, wird auch hier mit der Kievskaja Rus‘ der Ursprung der Einheit der drei ostslawischen Völker als ‚große‘ und vereinende Geschichtserzählung bzw. Gründungsmythos präsentiert, der bereits aus der zaristischen imperialen Geschichtsschreibung bekannt ist. Man wird den Eindruck nicht los, als würde man einem Geschichtslehrer aus dem 19. Jahrhundert über die zaristischen groß-russischen Ambitionen zuhören.

 

Zu Beginn der Rede wird erklärt, warum die Ukraine-Frage einen so hohen Stellenwert für Russland einnimmt: Die Ukraine sei nicht „einfach ein Nachbarland. Es ist ein unwiderlegbarer Teil unserer Geschichte, Kultur, des geistigen Raums.“ In den ersten Minuten der ungewöhnlich langen Rede versucht er mit geschichtlicher Rekonstruktion darzulegen, dass Lenin der Ukraine fälschlicherweise den Status einer eigenen nationalen Republik gab, deren von den Russen unabhängiges Existieren er bestreitet. Damit negiert Putin die bereits seit dem 19. Jahrhundert vorhandenen Nationalbestrebungen auf dem Territorium der heutigen Ukraine. Vielfach gestellte Fragen wirken wie ein Frage-Antwort-Spiel, das trotz der Pseudo-Dialogizität rein monologisch und belehrend auf das Volk ‚niederprasselt‘. Es dient darüber hinaus zum Ausdruck von Empörung und zur Affekterzeugung und -steigerung (Klimax): Durch das Vorwegnehmen und von Zweifeln und deren Integration in einer Frage-Antwort-Struktur (Entweder-Oder) inszeniert er sich als fachkundiger und verantwortlicher Landesführer und als dialogischer Gesprächspartner auf der Weltbühne, der auf Grundlage von faktenbasierter Abwägung Entscheidungen trifft und sich in diesem Sinne als professioneller, transparenter Politiker zeigt (die vielfache Wiederholung des Anspruchs an Politiker „professionell“ zu sein erwähnt Nicolosi in seinem Vortrag zu „Putins Ukraine-Rhetorik“). Die Kritik an der ukrainischen Regierung der 1990er Jahre und deren angebliche Unfähigkeit „adäquate Maßnahmen“ zu treffen verstärkt diesen Eindruck einer sowjetischen, technokratischen Sprache der Anständigkeit. Als Gegenteil dazu bzw. Abweichung von dieser Norm treten die „drogensüchtigen Nazis“ und die vielfach beschworene „Junta“ aus der Ukraine in seinen Erzählungen auf. Dies erinnert unweigerlich an den sowjetischen Begriff des „Schmarotzertums“ („тунеядство“), verstanden als soziales Parasitentum, das Arbeitslosigkeit oder eine ausbleibende Beteiligung am gesellschaftlich-ideologischen Leben als „Faulheit“ in der Sowjetzeit diffamierte (in Belarus gibt es seit 2015 wieder eine „Verordnung über das Schmarotzertum“, was Gefängnisstrafen bis zu 15 Tagen vorsieht).

 

Die teils aggressive Vortragsart und die verwendete Lexik gleichen einem verbalen Schlagabtausch und wirken wie eine ‚Schlägerei‘ zwischen Kleinkriminellen auf der Straße. Mit Missbilligung werden die Maidan-Ideen als „Abenteuer“ bezeichnet. Die verwendete Umgangssprache – z.B. „dieser Unfug“, „Und das scheint auch so zu sein, wenn da nicht ein ‚Nein‘ wäre.“, „Gott sei Dank“ – lockert die teilweise sehr langen und komplexen Satzkonstruktionen auf; es wird eine Eindeutigkeit des sehr komplexen Kontexts der Nationalitätenpolitik der 1920er Jahre, des Zerfalls der Sowjetunion ab den 1990er Jahren und der Akteure auf dem Maidan 2014 suggeriert. Darüber hinaus zielt die Verwendung von Sprichwörtern und Idiomen auf eine schnelle Verständigung zwischen Präsident und Volk ab: „Der Hund bellt, aber die Karawane zieht weiter“. Gemeint ist, dass sich Russland trotz äußeren Widerständen von seinem Weg nicht abbringen lassen werde. Auch mit Wiederholungen wird das Gesagte inhaltlich verdichtet bzw. zugespitzt: „Und sie kämpfen für ihre elementaren Rechte – in ihrem eigenen Land zu leben, ihre eigene Sprache zu sprechen, ihre Kultur und Traditionen zu bewahren.“ Besonders bei den gesellten Fragen, die die Russen in ihrer „Kränkung“ der zerfallenen Sowjetunion triggern, dient die Wiederholung zur Affekterzeugung: „Wie lange kann diese Tragödie noch andauern? Wie lange kann man noch das ertragen?“

 

Vielfach spricht Putin davon, wie „aufrichtig“ und „ehrlich“ die russische Unterstützung für die Ukraine und ihre Souveränität in den vergangenen Jahrzehnten gewesen sei:

 

 „Und unser Land hat diese Unterstützung mit Respekt gegenüber der Würde und der Souveränität der Ukraine geleistet.“

„И наша страна оказывала такую поддержку с уважением к достоинству и суверенитету Украины.“

 

„Und trotzdem, trotz all dieser bekannten Probleme hat Russland immer mit der Ukraine aufrichtig und ehrlich, ich wiederhole: mit Respekt gegenüber ihren Interessen, zusammengearbeitet .“

„И всё же, несмотря на известные проблемы, Россия всегда сотрудничала с Украиной открыто, честно и, повторю, с уважением к её интересам .“

 

 „Deswegen halte ich die schon lange gereifte Entscheidung für notwendig, unverzüglich die Unabhängigkeit und Souveränität der Donezker Volksrepublik und Luhansker Volksrepublik anzuerkennen.“

„В этой связи считаю необходимым принять уже давно назревшее решение – незамедлительно признать независимость и суверенитет Донецкой Народной Республики и Луганской Народной Республики.“

 

Souveränität bedeutet hier – wie im Falle der sog. Volksrepubliken Donezk und Luhansk – Anbindung an Russland, eine garantierte Staatlichkeit nur in der geopolitischen Einflusssphäre Russlands zu ihren Bedingungen. Der Chef des Auslandsgeheimdienstes (SVR) Sergej Naryškin ließ diese Tatsche am 23.02 durch seine Unsicherheit durchblicken: Alle Mitglieder des Sicherheitsrats der Russischen Föderation sprachen bei der ‚Audienz‘ – wie eine Schulklasse beim ‚Ober-Lehrer‘ Putin – vor. Statt sich für die Anerkennung der Souveränität auszusprechen warb der bereits zitternde und stammelnde Geheimdienst-Chef dafür, die beiden Volksrepubliken in die Russische Föderation einzugliedern, was Putin daraufhin scherzhaft mit dem Kommentar versah: „Aber darüber reden wir hier ja gar nicht“:

„- Вы хотите переговоров?

- Я, да, не, я поддержу…

- Поддержите или поддерживаете?

- Поддерживаю включение ДНР и ЛНР в состав РФ.

- Но мы не об этом говорим, мы о признании их суверенитета.

- Поддерживаю суверенитет, значит.“

 

Nachdem angeführt wird, wie das personifizierte Russland die Interessen der Ukraine immer respektiert habe, werden die heutige Ukraine und ihre „westlichen Handlanger“ als verräterisch und hinterhältig charakterisiert, als Intrige gegen das ehrliche und stets helfende Russland:

 „Lassen Sie mich hinzufügen, dass Kiew versucht hat, den Dialog mit Russland als Vorwand für Verhandlungen mit dem Westen zu nutzen, ihn mit der Annäherung an Moskau zu erpressen und damit die eigenen Präferenzen durchzusetzen: Sie sagten, sonst wird der russische Einfluss auf die Ukraine wachsen.“

„Добавлю, что в Киеве пытались использовать диалог с Россией как предлог для торга с Западом, шантажировали его сближением с Москвой, выбивая для себя преференции: мол, в противном случае будет расти российское влияние на Украину.“

 

Interessanterweise gehen die „westliche Korruption“ und der „Nazismus“ bei Putin eine Symbiose ein. Es wird ein besonderer Charakter der Korruption in der Ukraine in Folge des Maidans beschworen, da die ukrainischen Oligarchen ihr Geld im westlichen Ausland anlegen wollten und das eigene Volk betörend beraubten (hier denke man an die enorm hohen Beträge, die Putin und seine Oligarchen dem russischen Volk vorenthalten). Auch seien Oppositionelle und die an die Macht gekommenen „Radikalen“ von den USA mit „einer Million Dollar täglich“ finanziert worden. Diese Argumentation erhält ein bereits aus den vorhergehenden Reden bekanntes verschwörungstheoretisches Moment: Die ‚Organisatoren‘ des Maidan werden als Ansammlung von Neonazis, Russen-Hasser und Antisemiten beschrieben – das soll bei der Hörerschaft hängen bleiben.

 

Der ukrainische „Nazismus“, begleitet vom „besonderen Charakter“ der Korruption, wird als krank und in dem Sinne unnatürlich bzw. dem Menschen als gegensätzlich charakterisiert. In Bezug auf den Zerfall der Sowjetunion spricht Putin von einem „Bazillus nationalistischer Ambitionen“. Was die heutige Ukraine anbelangt, so habe der „Virus des Nationalismus und der Korruption“ die „wahrhaftigen kulturellen, ökonomischen, sozialen Interessen des Volkes, die reale Souveränität der Ukraine“ kontaminiert. Es wird eine Gefahr für das Leben bzw. Überleben evoziert, weswegen – dieser Logik folgend – ein Kampf gegen die jetzige Regierung der Ukraine für einen reinen bzw. gesunden Zustand des Staates und Volkes geführt werden muss: Der Virus müsse bekämpft werden. Die ‚Krankheitserreger‘ Nationalismus und Korruption hätten den Staat zersetzt. Putins Ausspruch, Amerika sei ein „Parasit“ aus dem Jahr 2011, steht in dieser Tradition der infektiologischen Sprache und pathologisiert die westliche Welt als einen blutsaugenden, heimtückischen und sich vom Leben anderer Organismen bereichernden Mörder.

 

„Korruption, die zweifellos eine Herausforderung und ein Problem für viele Länder, einschließlich Russland, darstellt, hat in der Ukraine bereits eine Art Sondercharakter angenommen. Sie hat die ukrainische Staatlichkeit, das gesamte System, alle Machtbereiche buchstäblich zerfressen und zersetzt. Die Radikalen nutzten die gerechte Unzufriedenheit der Menschen, fachten den Protest and und brachten 2014 den Maidan zum Staatsstreich.“

„Коррупция, которая, без сомнения, является вызовом и проблемой для многих стран, в том числе и для России, на Украине приобрела какой-то уже особый характер. Она буквально пропитала, разъела украинскую государственность, всю систему, все ветви власти. Радикалы воспользовались справедливым недовольством людей, оседлали протест и в 2014 году и довели Майдан до государственного переворота.“

 

Putin knüpft an die Traumata des 20. Jahrhunderts an – sowohl an den Zweiten Weltkrieg als auch an den Zerfall der Sowjetunion. Es wirkt, als würde er stellvertretend das russische Leid „auf seinen Schultern tragen“ (Karl Schlögel zur Frage „Was treibt Putin an?“) – das vielfache Stöhnen in seiner Rede verstärkt diesen Eindruck. Die von Putin beschriebenen ausgebrochenen Unruhen auf den Plätzen Kiews und die Verfolgung Andersdenkender werden mit Metaphern ausgeschmückt. Es werden Bilder des Schreckens und Grauens generiert, die in Verbindung mit den Worten „Nazismus“ in vielen Köpfen der russischen und postsowjetischen Bevölkerungen zutiefst negative und beunruhigende Reaktionen hervorrufen:

 

„Ukrainische Städte wurden von einer Welle von Pogromen und Gewalt überrollt, einer Reihe von aufsehenerregenden und ungesühnten Morden. Es ist unmöglich, sich ohne Schaudern an die schreckliche Tragödie in Odessa zu erinnern, wo Teilnehmer eines friedlichen Protests brutal getötet, im Haus der Gewerkschaften lebendig verbrannt wurden. Die Verbrecher, die diese Gräueltaten begangen haben, werden nicht bestraft, und niemand sucht nach ihnen. Aber wir kennen sie beim Namen und werden alles tun, um sie zu bestrafen, zu finden und vor Gericht zu bringen.“

„Украинские города захлестнула волна погромов и насилия, серия громких и безнаказанных убийств. Невозможно без содрогания вспоминать о страшной трагедии в Одессе, где участники мирной акции протеста были зверски убиты, заживо сожжены в Доме профсоюзов. Преступники, которые совершили это злодеяние, не наказаны, их никто и не ищет. Но мы знаем их поимённо и сделаем всё для того, чтобы их покарать, найти и предать суду.“

 

Putin inszeniert sich hier als ‚Friedenbringer‘, Verteidiger und Retter der Unterdrückten und verspricht eine gerichtliche Aufklärung. Die Andeutung der Verteidigung der Ukrainer vor dem Westen wird auch durch einen Vergleich zw.  einer genannten NATO-Basis in Ochakovo und einer Schlacht zur Verteidigung des russischen Imperiums im 18. Jahrhunderts angeführt:

 

„Ich wiederhole, heute wurde ein solche Basis installiert, sie wurde bereits in Ochakovo errichtet. Ich erinnere daran, dass im 18. Jahrhundert die Soldaten von Alexander Suworow für diese Stadt gekämpft haben. Dank ihres Mutes wurde sie Teil Russlands. Damals, im 18. Jahrhundert, wurden die Länder der Schwarzmeerregion, die infolge von Kriegen mit dem Osmanischen Reich an Russland angegliedert wurden, Noworossija genannt. Jetzt versuchen sie, diese Meilensteine ​​der Geschichte sowie die Namen staatlicher Kommandeure des Russischen Reiches zu vergessen, ohne deren Einsatz die moderne Ukraine viele große Städte und sogar den Zugang zum Schwarzen Meer nicht hätte.“

„Повторю, сегодня такой центр развернут, уже развернут в Очакове. Напомню, в XVIII веке за этот город сражались солдаты Александра Суворова. Благодаря их мужеству, он вошел в состав России. Тогда же, в XVIII веке, земли Причерноморья, присоединенные к России в результате войн с Османской империей, получили название Новороссия. Сейчас эти вехи истории пытаются придать забвению, как и имена государственных военных деятелей Российской империи, без чьих трудов не было бы у современной Украины многих крупных городов и даже самого выхода к Черному морю.“

 

Westliche Demokratien werden mit dem Hitlerfaschismus assoziiert und als „Feind“ entlarvt – von einem autoritären Machthaber, der im Namen der „Ent-Nazifizierung“ (so in der Regierungserklärung zum Beginn der sog. „speziellen Militäraktion“ vom 24.02.22) ein anderes Volk unterjochen will, während er nationalistische Parteien in Europa finanziell unterstützt. Neben historischer Verklärung ist dies zugleich auch eine Relativierung des Hitlerfaschismus und der Shoah als solche. Und es ist auch ein Proklamieren heutiger westlicher Demokratien als faschistisch.

 

Es wird nicht klar, ob Putin das ‚Abweichlertum‘ der Ukraine immanent aus dem ‚hinterhältigen‘ und ‚undankbaren‘ Charakter erklärt oder als Folge der äußeren Einwirkung des westlichen „Nazismus“.  Es wird eine Opposition aufgebaut zwischen der hinterlistigen, betrügerischen und ausraubenden „westlichen Zivilisation“ und dem ehrlichen, russischsprachigen und orthodoxen Russland. Die Einheit der Russen, Belorussen und Ukrainer, wie bereits in der Rede von 2021, wird auch in dieser Rede über die Merkmale der Sprache, einer gemeinsamen Kultur und Geschichte und des orthodoxen Glaubens beschworen. Neben dem Leugnen des Ukrainischen als eigenständiger Sprache (Putin hat bereits zuvor immer wieder das „Dialektale“ betont) scheint Putin auch die ukrainische Religionslandschaft zu verkennen, die schon immer auch mehrkonfessionell war. Ukrainische Städte wie Berditschew und Kiew waren bis zum Zweiten Weltkrieg große religiöse Zentren, besonders für Juden und Jüdinnen.

 

Warum Russland in den letzten Jahren nicht als gleichberechtigter internationaler Gesprächspartner anerkannt wurde bzw. seine Sicherheitsinteressen nicht wahrgenommen wurden? – auf diese von Putin selbst gestellte und abgehandelte Frage antwortet er mit einem einzigen, apodiktischen und alle für den Sachverhalt relevante Erklärungskraft in sich tragenden Satz: „Es gibt nur eine Antwort: Es geht nicht um unser politisches Regime, und auch nicht um etwas anderes, sie brauchen einfach kein so großes unabhängiges Land wie Russland.“

 

Die Inszenierung als „Angegriffener“, in der Russland nie als Aggressor erscheint sondern nur als ehrenhafter Verteidiger auftreten kann, wird aufgeladen mit einem weiteren sehr wichtigen Begriff im heutigen politischen Diskurs Russlands, nämlich der Russophobie. Jedwede Kritik an Russland wird als Russenhass angesehen und erneut als pathologisch herausgestellt, als eine ‚krankhafte‘ Phobie gegen Russen. Putin bezieht sich hier auf die Russophobie als Rechtfertigung für eine Verteidigung, als Abwehren eines baldigen und jederzeit drohenden Blitzkriegs vom Westen gegen Russland.  Durch eine Verkehrung wird der Angriffskrieg Putins als Verteidigung der eigenen Existenz geframed. Es würde nicht in Russlands Macht stehen, Sanktionen zu verhindern oder eine Entspannung in den internationalen Beziehungen bewirken zu können, denn der Hass, der den Russen weltweit begegnet, sei einer, der an ihre Existenz per se, an ihr Dasein geknüpft sei:

 

„Und sie werden es tun, wie sie es zuvor getan haben, sogar ohne jeglichen formalen Vorwand, nur weil es uns gibt, und wir werden niemals unsere Souveränität, nationalen Interessen und unsere Werte aufgeben.“ 

«И они будут это делать, как делали это раньше, даже вообще без всякого формального предлога, только потому, что мы есть и никогда не поступимся своим суверенитетом, национальными интересами и своими ценностями.»

 

Putins Ukraine-Rhetorik bedient sich, wie zuvor auch, logischer Kausal- und Vergleichsschlüsse – bei gleichzeitigem Einsatz geschichtlicher Lügen. Eine inszenierte Dialogizität und das Verwenden von Umgangssprache dienen der Affekterzeugung. Diese Rede als zentraler Ort des performativen Handelns dokumentiert den Kulminationspunkt des seit acht Jahren andauernden Konflikts: Besonders sticht die mit infektiologischen Termini formulierte Aggressivität heraus. Putin schafft sprachlich eine Symbiose aus der Ukraine und dem angeblichen „Nazismus“ und verurteilt – auf vernichtende Art und Weise - das ukrainische Volk als auszumerzende Krankheit.

Die Ukraine-Rhetorik in Putins ‚Kriegserklärung‘ - novinki
Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Die Ukraine-Rhe­torik in Putins ‚Kriegs­er­klä­rung‘

Dieser Tage müssen wir ein­sehen, dass die aggres­sive Sprache Putins hier­zu­lange nicht aus­rei­chend ernst genommen wurde: Am 21.02.2022 hielt Putin eine ein­stün­dige Rede an die Nation, die wohl als offi­zi­elle Kriegs­er­klä­rung in die Annalen der Geschichte ein­gehen wird.  Seit dieser mit rhe­to­ri­schen Mittel aus­ge­stat­teten Ansprache gibt es end­gültig keine Zweifel mehr über seine Bereit­schaft zu einem gewalt­vollen Über­griff bzw. Inbe­sitz­nahme der gesamten Ukraine. 

In den Mor­gen­stunden am 22.02.2022 erfolgte der Angriff auf die Ukraine, für dessen Recht­fer­ti­gung Putin zuvor geworben hatte. Zuvor waren bereits die Regionen Donezk und Lugansk als „sou­verän“ aner­kannt worden, die wie die Krim seit 2014 von rus­si­schem Militär kon­trol­liert werden. In dieser Rede mani­fes­tiert sich – neben den zwei großen Vor­gänger-Reden „Über die Ein­heit der Russen und Ukraine“ (2021) und der Krim­rede (2014) – die spe­zi­fi­sche Ukraine-Rhe­torik Putins. Sie bedient sich logi­schen Kausal- und Ver­gleichs­schlüssen – bei gleich­zei­tigem Ein­satz nicht­ve­ri­fi­zierter Geschichts­an­sichten und Lügen. Eine insze­nierte Dia­lo­gi­zität und das Ver­wenden von Umgangs­sprache dienen zur Affekterzeugung.

 

Putin ver­sucht durch große „Bögen“ zwi­schen ver­gan­genen Ereig­nissen und der heu­tigen „Nazi-Ukraine“ einen Sinn­zu­sam­men­hang her­zu­stellen. Das Aus­holen in die Geschichte erfüllt den Zweck, a) die Ukraine als eigen­stän­digen Staat zu dis­kre­di­tieren (Lenin habe den ukrai­ni­schen Natio­na­listen fälsch­li­cher­weise eine eigene Repu­blik zuge­spro­chen) und b) eine Kon­ti­nuität und ‚natur­ge­ge­bene‘ Ver­bin­dung zwi­schen den Russen und Ukrai­nern mit dem Rück­griff auf die Kievs­kaja Rus‘ (Kiewer Rus) zu behaupten. Wie Ric­cardo Nico­losi bereits für die Vor­gänger-Reden zur Ukraine fest­ge­stellt hat, wird auch hier mit der Kievs­kaja Rus‘ der Ursprung der Ein­heit der drei ost­sla­wi­schen Völker als ‚große‘ und ver­ei­nende Geschichts­er­zäh­lung bzw. Grün­dungs­my­thos prä­sen­tiert, der bereits aus der zaris­ti­schen impe­rialen Geschichts­schrei­bung bekannt ist. Man wird den Ein­druck nicht los, als würde man einem Geschichts­lehrer aus dem 19. Jahr­hun­dert über die zaris­ti­schen groß-rus­si­schen Ambi­tionen zuhören.

 

Zu Beginn der Rede wird erklärt, warum die Ukraine-Frage einen so hohen Stel­len­wert für Russ­land ein­nimmt: Die Ukraine sei nicht „ein­fach ein Nach­bar­land. Es ist ein unwi­der­leg­barer Teil unserer Geschichte, Kultur, des geis­tigen Raums.“ In den ersten Minuten der unge­wöhn­lich langen Rede ver­sucht er mit geschicht­li­cher Rekon­struk­tion dar­zu­legen, dass Lenin der Ukraine fälsch­li­cher­weise den Status einer eigenen natio­nalen Repu­blik gab, deren von den Russen unab­hän­giges Exis­tieren er bestreitet. Damit negiert Putin die bereits seit dem 19. Jahr­hun­dert vor­han­denen Natio­nal­be­stre­bungen auf dem Ter­ri­to­rium der heu­tigen Ukraine. Viel­fach gestellte Fragen wirken wie ein Frage-Ant­wort-Spiel, das trotz der Pseudo-Dia­lo­gi­zität rein mono­lo­gisch und beleh­rend auf das Volk ‚nie­der­pras­selt‘. Es dient dar­über hinaus zum Aus­druck von Empö­rung und zur Affekt­er­zeu­gung und ‑stei­ge­rung (Klimax): Durch das Vor­weg­nehmen und von Zwei­feln und deren Inte­gra­tion in einer Frage-Ant­wort-Struktur (Ent­weder-Oder) insze­niert er sich als fach­kun­diger und ver­ant­wort­li­cher Lan­des­führer und als dia­lo­gi­scher Gesprächs­partner auf der Welt­bühne, der auf Grund­lage von fak­ten­ba­sierter Abwä­gung Ent­schei­dungen trifft und sich in diesem Sinne als pro­fes­sio­neller, trans­pa­renter Poli­tiker zeigt (die viel­fache Wie­der­ho­lung des Anspruchs an Poli­tiker „pro­fes­sio­nell“ zu sein erwähnt Nico­losi in seinem Vor­trag zu „Putins Ukraine-Rhe­torik“). Die Kritik an der ukrai­ni­schen Regie­rung der 1990er Jahre und deren angeb­liche Unfä­hig­keit „adäquate Maß­nahmen“ zu treffen ver­stärkt diesen Ein­druck einer sowje­ti­schen, tech­no­kra­ti­schen Sprache der Anstän­dig­keit. Als Gegen­teil dazu bzw. Abwei­chung von dieser Norm treten die „dro­gen­süch­tigen Nazis“ und die viel­fach beschwo­rene „Junta“ aus der Ukraine in seinen Erzäh­lungen auf. Dies erin­nert unwei­ger­lich an den sowje­ti­schen Begriff des „Schma­rot­zer­tums“ („тунеядство“), ver­standen als soziales Para­si­tentum, das Arbeits­lo­sig­keit oder eine aus­blei­bende Betei­li­gung am gesell­schaft­lich-ideo­lo­gi­schen Leben als „Faul­heit“ in der Sowjet­zeit dif­fa­mierte (in Belarus gibt es seit 2015 wieder eine „Ver­ord­nung über das Schma­rot­zertum“, was Gefäng­nis­strafen bis zu 15 Tagen vorsieht).

 

Die teils aggres­sive Vor­tragsart und die ver­wen­dete Lexik glei­chen einem ver­balen Schlag­ab­tausch und wirken wie eine ‚Schlä­gerei‘ zwi­schen Klein­kri­mi­nellen auf der Straße. Mit Miss­bil­li­gung werden die Maidan-Ideen als „Aben­teuer“ bezeichnet. Die ver­wen­dete Umgangs­sprache – z.B. „dieser Unfug“, „Und das scheint auch so zu sein, wenn da nicht ein ‚Nein‘ wäre.“, „Gott sei Dank“ – lockert die teil­weise sehr langen und kom­plexen Satz­kon­struk­tionen auf; es wird eine Ein­deu­tig­keit des sehr kom­plexen Kon­texts der Natio­na­li­tä­ten­po­litik der 1920er Jahre, des Zer­falls der Sowjet­union ab den 1990er Jahren und der Akteure auf dem Maidan 2014 sug­ge­riert. Dar­über hinaus zielt die Ver­wen­dung von Sprich­wör­tern und Idiomen auf eine schnelle Ver­stän­di­gung zwi­schen Prä­si­dent und Volk ab: „Der Hund bellt, aber die Kara­wane zieht weiter“. Gemeint ist, dass sich Russ­land trotz äußeren Wider­ständen von seinem Weg nicht abbringen lassen werde. Auch mit Wie­der­ho­lungen wird das Gesagte inhalt­lich ver­dichtet bzw. zuge­spitzt: „Und sie kämpfen für ihre ele­men­taren Rechte – in ihrem eigenen Land zu leben, ihre eigene Sprache zu spre­chen, ihre Kultur und Tra­di­tionen zu bewahren.“ Beson­ders bei den gesellten Fragen, die die Russen in ihrer „Krän­kung“ der zer­fal­lenen Sowjet­union trig­gern, dient die Wie­der­ho­lung zur Affekt­er­zeu­gung: „Wie lange kann diese Tra­gödie noch andauern? Wie lange kann man noch das ertragen?“

 

Viel­fach spricht Putin davon, wie „auf­richtig“ und „ehr­lich“ die rus­si­sche Unter­stüt­zung für die Ukraine und ihre Sou­ve­rä­nität in den ver­gan­genen Jahr­zehnten gewesen sei:

 

 „Und unser Land hat diese Unter­stüt­zung mit Respekt gegen­über der Würde und der Sou­ve­rä­nität der Ukraine geleistet.“

„И наша страна оказывала такую поддержку с уважением к достоинству и суверенитету Украины.“

 

„Und trotzdem, trotz all dieser bekannten Pro­bleme hat Russ­land immer mit der Ukraine auf­richtig und ehr­lich, ich wie­der­hole: mit Respekt gegen­über ihren Inter­essen, zusammengearbeitet […].“

„И всё же, несмотря на известные проблемы, Россия всегда сотрудничала с Украиной открыто, честно и, повторю, с уважением к её интересам […].“

 

 „Des­wegen halte ich die schon lange gereifte Ent­schei­dung für not­wendig, unver­züg­lich die Unab­hän­gig­keit und Sou­ve­rä­nität der Donezker Volks­re­pu­blik und Luhansker Volks­re­pu­blik anzuerkennen.“ 

„В этой связи считаю необходимым принять уже давно назревшее решение – незамедлительно признать независимость и суверенитет Донецкой Народной Республики и Луганской Народной Республики.“

 

Sou­ve­rä­nität bedeutet hier – wie im Falle der sog. Volks­re­pu­bliken Donezk und Luhansk – Anbin­dung an Russ­land, eine garan­tierte Staat­lich­keit nur in der geo­po­li­ti­schen Ein­fluss­sphäre Russ­lands zu ihren Bedin­gungen. Der Chef des Aus­lands­ge­heim­dienstes (SVR) Sergej Naryškin ließ diese Tat­sche am 23.02 durch seine Unsi­cher­heit durch­bli­cken: Alle Mit­glieder des Sicher­heits­rats der Rus­si­schen Föde­ra­tion spra­chen bei der ‚Audienz‘ – wie eine Schul­klasse beim ‚Ober-Lehrer‘ Putin – vor. Statt sich für die Aner­ken­nung der Sou­ve­rä­nität aus­zu­spre­chen warb der bereits zit­ternde und stam­melnde Geheim­dienst-Chef dafür, die beiden Volks­re­pu­bliken in die Rus­si­sche Föde­ra­tion ein­zu­glie­dern, was Putin dar­aufhin scherz­haft mit dem Kom­mentar versah: „Aber dar­über reden wir hier ja gar nicht“:

„- Вы хотите переговоров?

- Я, да, не, я поддержу…

- Поддержите или поддерживаете?

- Поддерживаю включение ДНР и ЛНР в состав РФ.

- Но мы не об этом говорим, мы о признании их суверенитета.

- Поддерживаю суверенитет, значит.“

 

Nachdem ange­führt wird, wie das per­so­ni­fi­zierte Russ­land die Inter­essen der Ukraine immer respek­tiert habe, werden die heu­tige Ukraine und ihre „west­li­chen Hand­langer“ als ver­rä­te­risch und hin­ter­hältig cha­rak­te­ri­siert, als Intrige gegen das ehr­liche und stets hel­fende Russland:

 „Lassen Sie mich hin­zu­fügen, dass Kiew ver­sucht hat, den Dialog mit Russ­land als Vor­wand für Ver­hand­lungen mit dem Westen zu nutzen, ihn mit der Annä­he­rung an Moskau zu erpressen und damit die eigenen Prä­fe­renzen durch­zu­setzen: Sie sagten, sonst wird der rus­si­sche Ein­fluss auf die Ukraine wachsen.“

„Добавлю, что в Киеве пытались использовать диалог с Россией как предлог для торга с Западом, шантажировали его сближением с Москвой, выбивая для себя преференции: мол, в противном случае будет расти российское влияние на Украину.“

 

Inter­es­san­ter­weise gehen die „west­liche Kor­rup­tion“ und der „Nazismus“ bei Putin eine Sym­biose ein. Es wird ein beson­derer Cha­rakter der Kor­rup­tion in der Ukraine in Folge des Maidans beschworen, da die ukrai­ni­schen Olig­ar­chen ihr Geld im west­li­chen Aus­land anlegen wollten und das eigene Volk betö­rend beraubten (hier denke man an die enorm hohen Beträge, die Putin und seine Olig­ar­chen dem rus­si­schen Volk vor­ent­halten). Auch seien Oppo­si­tio­nelle und die an die Macht gekom­menen „Radi­kalen“ von den USA mit „einer Mil­lion Dollar täg­lich“ finan­ziert worden. Diese Argu­men­ta­tion erhält ein bereits aus den vor­her­ge­henden Reden bekanntes ver­schwö­rungs­theo­re­ti­sches Moment: Die ‚Orga­ni­sa­toren‘ des Maidan werden als Ansamm­lung von Neo­nazis, Russen-Hasser und Anti­se­miten beschrieben – das soll bei der Hörer­schaft hängen bleiben.

 

Der ukrai­ni­sche „Nazismus“, begleitet vom „beson­deren [west­li­chen] Cha­rakter“ der Kor­rup­tion, wird als krank und in dem Sinne unna­tür­lich bzw. dem Men­schen als gegen­sätz­lich cha­rak­te­ri­siert. In Bezug auf den Zer­fall der Sowjet­union spricht Putin von einem „Bazillus natio­na­lis­ti­scher Ambi­tionen“. Was die heu­tige Ukraine anbe­langt, so habe der „Virus des Natio­na­lismus und der Kor­rup­tion“ die „wahr­haf­tigen kul­tu­rellen, öko­no­mi­schen, sozialen Inter­essen des Volkes, die reale Sou­ve­rä­nität der Ukraine“ kon­ta­mi­niert. Es wird eine Gefahr für das Leben bzw. Über­leben evo­ziert, wes­wegen – dieser Logik fol­gend – ein Kampf gegen die jet­zige Regie­rung der Ukraine für einen reinen bzw. gesunden Zustand des Staates und Volkes geführt werden muss: Der Virus müsse bekämpft werden. Die ‚Krank­heits­er­reger‘ Natio­na­lismus und Kor­rup­tion hätten den Staat zer­setzt. Putins Aus­spruch, Ame­rika sei ein „Parasit“ aus dem Jahr 2011, steht in dieser Tra­di­tion der infek­tio­lo­gi­schen Sprache und patho­lo­gi­siert die west­liche Welt als einen blut­saugenden, heim­tü­cki­schen und sich vom Leben anderer Orga­nismen berei­chernden Mörder.

 

„Kor­rup­tion, die zwei­fellos eine Her­aus­for­de­rung und ein Pro­blem für viele Länder, ein­schließ­lich Russ­land, dar­stellt, hat in der Ukraine bereits eine Art Son­der­cha­rakter ange­nommen. Sie hat die ukrai­ni­sche Staat­lich­keit, das gesamte System, alle Macht­be­reiche buch­stäb­lich zer­fressen und zer­setzt. Die Radi­kalen nutzten die gerechte Unzu­frie­den­heit der Men­schen, fachten den Pro­test and und brachten 2014 den Maidan zum Staatsstreich.“

„Коррупция, которая, без сомнения, является вызовом и проблемой для многих стран, в том числе и для России, на Украине приобрела какой-то уже особый характер. Она буквально пропитала, разъела украинскую государственность, всю систему, все ветви власти. Радикалы воспользовались справедливым недовольством людей, оседлали протест и в 2014 году и довели Майдан до государственного переворота.“

 

Putin knüpft an die Trau­mata des 20. Jahr­hun­derts an – sowohl an den Zweiten Welt­krieg als auch an den Zer­fall der Sowjet­union. Es wirkt, als würde er stell­ver­tre­tend das rus­si­sche Leid „auf seinen Schul­tern tragen“ (Karl Schlögel zur Frage „Was treibt Putin an?“) – das viel­fache Stöhnen in seiner Rede ver­stärkt diesen Ein­druck. Die von Putin beschrie­benen aus­ge­bro­chenen Unruhen auf den Plätzen Kiews und die Ver­fol­gung Anders­den­kender werden mit Meta­phern aus­ge­schmückt. Es werden Bilder des Schre­ckens und Grauens gene­riert, die in Ver­bin­dung mit den Worten „Nazismus“ in vielen Köpfen der rus­si­schen und post­so­wje­ti­schen Bevöl­ke­rungen zutiefst nega­tive und beun­ru­hi­gende Reak­tionen hervorrufen:

 

„Ukrai­ni­sche Städte wurden von einer Welle von Pogromen und Gewalt über­rollt, einer Reihe von auf­se­hen­er­re­genden und unge­sühnten Morden. Es ist unmög­lich, sich ohne Schau­dern an die schreck­liche Tra­gödie in Odessa zu erin­nern, wo Teil­nehmer eines fried­li­chen Pro­tests brutal getötet, im Haus der Gewerk­schaften lebendig ver­brannt wurden. Die Ver­bre­cher, die diese Gräu­el­taten begangen haben, werden nicht bestraft, und nie­mand sucht nach ihnen. Aber wir kennen sie beim Namen und werden alles tun, um sie zu bestrafen, zu finden und vor Gericht zu bringen.“

„Украинские города захлестнула волна погромов и насилия, серия громких и безнаказанных убийств. Невозможно без содрогания вспоминать о страшной трагедии в Одессе, где участники мирной акции протеста были зверски убиты, заживо сожжены в Доме профсоюзов. Преступники, которые совершили это злодеяние, не наказаны, их никто и не ищет. Но мы знаем их поимённо и сделаем всё для того, чтобы их покарать, найти и предать суду.“

 

Putin insze­niert sich hier als ‚Frie­den­bringer‘, Ver­tei­diger und Retter der Unter­drückten und ver­spricht eine gericht­liche Auf­klä­rung. Die Andeu­tung der Ver­tei­di­gung der Ukrainer vor dem Westen wird auch durch einen Ver­gleich zw.  einer genannten NATO-Basis in Ocha­kovo und einer Schlacht zur Ver­tei­di­gung des rus­si­schen Impe­riums im 18. Jahr­hun­derts angeführt:

 

„Ich wie­der­hole, heute wurde ein solche Basis instal­liert, sie wurde bereits in Ocha­kovo errichtet. Ich erin­nere daran, dass im 18. Jahr­hun­dert die Sol­daten von Alex­ander Suworow für diese Stadt gekämpft haben. Dank ihres Mutes wurde sie Teil Russ­lands. Damals, im 18. Jahr­hun­dert, wurden die Länder der Schwarz­meer­re­gion, die infolge von Kriegen mit dem Osma­ni­schen Reich an Russ­land ange­glie­dert wurden, Nowo­ros­sija genannt. Jetzt ver­su­chen sie, diese Mei­len­steine ​​der Geschichte sowie die Namen staat­li­cher Kom­man­deure des Rus­si­schen Rei­ches zu ver­gessen, ohne deren Ein­satz die moderne Ukraine viele große Städte und sogar den Zugang zum Schwarzen Meer nicht hätte.“

„Повторю, сегодня такой центр развернут, уже развернут в Очакове. Напомню, в XVIII веке за этот город сражались солдаты Александра Суворова. Благодаря их мужеству, он вошел в состав России. Тогда же, в XVIII веке, земли Причерноморья, присоединенные к России в результате войн с Османской империей, получили название Новороссия. Сейчас эти вехи истории пытаются придать забвению, как и имена государственных военных деятелей Российской империи, без чьих трудов не было бы у современной Украины многих крупных городов и даже самого выхода к Черному морю.“

 

West­liche Demo­kra­tien werden mit dem Hit­ler­fa­schismus asso­zi­iert und als „Feind“ ent­larvt – von einem auto­ri­tären Macht­haber, der im Namen der „Ent-Nazi­fi­zie­rung“ (so in der Regie­rungs­er­klä­rung zum Beginn der sog. „spe­zi­ellen Mili­tär­ak­tion“ vom 24.02.22) ein anderes Volk unter­jo­chen will, wäh­rend er natio­na­lis­ti­sche Par­teien in Europa finan­ziell unter­stützt. Neben his­to­ri­scher Ver­klä­rung ist dies zugleich auch eine Rela­ti­vie­rung des Hit­ler­fa­schismus und der Shoah als solche. Und es ist auch ein Pro­kla­mieren heu­tiger west­li­cher Demo­kra­tien als faschistisch.

 

Es wird nicht klar, ob Putin das ‚Abweich­lertum‘ der Ukraine imma­nent aus dem ‚hin­ter­häl­tigen‘ und ‚undank­baren‘ Cha­rakter erklärt oder als Folge der äußeren Ein­wir­kung des west­li­chen „Nazismus“.  Es wird eine Oppo­si­tion auf­ge­baut zwi­schen der hin­ter­lis­tigen, betrü­ge­ri­schen und aus­rau­benden „west­li­chen Zivi­li­sa­tion“ und dem ehr­li­chen, rus­sisch­spra­chigen und ortho­doxen Russ­land. Die Ein­heit der Russen, Bel­o­russen und Ukrainer, wie bereits in der Rede von 2021, wird auch in dieser Rede über die Merk­male der Sprache, einer gemein­samen Kultur und Geschichte und des ortho­doxen Glau­bens beschworen. Neben dem Leugnen des Ukrai­ni­schen als eigen­stän­diger Sprache (Putin hat bereits zuvor immer wieder das „Dia­lek­tale“ betont) scheint Putin auch die ukrai­ni­sche Reli­gi­ons­land­schaft zu ver­kennen, die schon immer auch mehr­kon­fes­sio­nell war. Ukrai­ni­sche Städte wie Ber­dit­schew und Kiew waren bis zum Zweiten Welt­krieg große reli­giöse Zen­tren, beson­ders für Juden und Jüdinnen.

 

Warum Russ­land in den letzten Jahren nicht als gleich­be­rech­tigter inter­na­tio­naler Gesprächs­partner aner­kannt wurde bzw. seine Sicher­heits­in­ter­essen nicht wahr­ge­nommen wurden? – auf diese von Putin selbst gestellte und abge­han­delte Frage ant­wortet er mit einem ein­zigen, apo­dik­ti­schen und alle für den Sach­ver­halt rele­vante Erklä­rungs­kraft in sich tra­genden Satz: „Es gibt nur eine Ant­wort: Es geht nicht um unser poli­ti­sches Regime, und auch nicht um etwas anderes, sie brau­chen ein­fach kein so großes unab­hän­giges Land wie Russland.“

 

Die Insze­nie­rung als „Ange­grif­fener“, in der Russ­land nie als Aggressor erscheint son­dern nur als ehren­hafter Ver­tei­diger auf­treten kann, wird auf­ge­laden mit einem wei­teren sehr wich­tigen Begriff im heu­tigen poli­ti­schen Dis­kurs Russ­lands, näm­lich der Rus­so­phobie. Jed­wede Kritik an Russ­land wird als Rus­sen­hass ange­sehen und erneut als patho­lo­gisch her­aus­ge­stellt, als eine ‚krank­hafte‘ Phobie gegen Russen. Putin bezieht sich hier auf die Rus­so­phobie als Recht­fer­ti­gung für eine Ver­tei­di­gung, als Abwehren eines bal­digen und jeder­zeit dro­henden Blitz­kriegs vom Westen gegen Russ­land.  Durch eine Ver­keh­rung wird der Angriffs­krieg Putins als Ver­tei­di­gung der eigenen Exis­tenz geframed. Es würde nicht in Russ­lands Macht stehen, Sank­tionen zu ver­hin­dern oder eine Ent­span­nung in den inter­na­tio­nalen Bezie­hungen bewirken zu können, denn der Hass, der den Russen welt­weit begegnet, sei einer, der an ihre Exis­tenz per se, an ihr Dasein geknüpft sei:

 

„Und sie werden es tun, wie sie es zuvor getan haben, sogar ohne jeg­li­chen for­malen Vor­wand, nur weil es uns gibt, und wir werden nie­mals unsere Sou­ve­rä­nität, natio­nalen Inter­essen und unsere Werte auf­geben.“ 

«И они будут это делать, как делали это раньше, даже вообще без всякого формального предлога, только потому, что мы есть и никогда не поступимся своим суверенитетом, национальными интересами и своими ценностями.»

 

Putins Ukraine-Rhe­torik bedient sich, wie zuvor auch, logi­scher Kausal- und Ver­gleichs­schlüsse – bei gleich­zei­tigem Ein­satz geschicht­li­cher Lügen. Eine insze­nierte Dia­lo­gi­zität und das Ver­wenden von Umgangs­sprache dienen der Affekt­er­zeu­gung. Diese Rede als zen­traler Ort des per­for­ma­tiven Han­delns doku­men­tiert den Kul­mi­na­ti­ons­punkt des seit acht Jahren andau­ernden Kon­flikts: Beson­ders sticht die mit infek­tio­lo­gi­schen Ter­mini for­mu­lierte Aggres­si­vität heraus. Putin schafft sprach­lich eine Sym­biose aus der Ukraine und dem angeb­li­chen „Nazismus“ und ver­ur­teilt – auf ver­nich­tende Art und Weise – das ukrai­ni­sche Volk als aus­zu­mer­zende Krankheit.