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Die vergessenen Opfer

Posted on 23. August 2021 by Bettine Bredereck
Von einem Tag auf den anderen der Heimat Riga entrissen, von der Familie getrennt und in die Fremde verschleppt – so ergeht es Melānija und ihrem Sohn im Juni 1941. „Melānijas hronika“ („The Chronicles Of Melanie“) erzählt eindrucksvoll von der darauffolgenden, sechzehn Jahre andauernden Leidensgeschichte in einem sibirischen Arbeitslager. Mit dem 2016 erschienenen und kommerziell sehr erfolgreichen Film des Regisseurs Viesturs Kairišs wird der lettischen Autorin und Journalistin Melānija Vanaga (1905–1997) ein Denkmal gesetzt.

Von einem Tag auf den anderen der Heimat Riga entrissen, von der Familie getrennt und in die Fremde verschleppt – so ergeht es Melānija und ihrem Sohn im Juni 1941. „Melānijas hronika“ („The Chronicles Of Melanie“) erzählt eindrucksvoll von der darauffolgenden, sechzehn Jahre andauernden Leidensgeschichte in einem sibirischen Arbeitslager. Mit dem 2016 erschienenen und kommerziell sehr erfolgreichen Film des Regisseurs Viesturs Kairišs wird der lettischen Autorin und Journalistin Melānija Vanaga (1905–1997) ein Denkmal gesetzt.

Im Juni 1941, während der Sowjetisierung Lettlands, tauchen in Melānijas Wohnung in Riga plötzlich sowjetische Soldaten auf, trennen sie von ihrem Mann und sperren sie zusammen mit ihrem achtjährigen Sohn in einen Güterzug. Mit vielen anderen Frauen fahren sie tagelang ohne Pause an ein unbekanntes Ziel. Nach der Ankunft werden sie zunächst auf ein umzäuntes Feld getrieben. Sie müssen Russisch sprechen und werden als Faschist_innen beschimpft. Außerdem werden die Deportierten dazu gezwungen, zu unterschreiben, dass sie für zwanzig Jahre freiwillig umgesiedelt sind. Unter unmenschlichen Bedingungen leben sie hier in Holzhütten und müssen Zwangsarbeit leisten. Der Alltag ist bestimmt von Hunger, Kälte, Demütigung und Krankheiten, auch sexuelle Übergriffe durch die Soldaten sind keine Seltenheit.

Immer wieder erkundigt sich Melānija nach ihrem Mann und bekommt die Antwort, dass er noch am Leben, aber zu zehn Jahren Haft verurteilt worden sei. Sie schreibt ihm regelmäßig Briefe, die sie nicht abschicken kann. Nach Kriegsende kann ihr Sohn nach Riga zurückkehren, sie muss jedoch bleiben. Als zehn Jahre vergangen sind und ihr Mann die Haft schon beendet haben sollte, bekommt sie immer noch die gleiche Auskunft wie zuvor. Ausgezehrt und hoffnungslos verbrennt sie alle Briefe an ihren Mann und unternimmt einen Selbstmordversuch. Doch sie wird gerettet und kommt ins Krankenhaus. Sie erhält einen Brief ihres Sohnes, darin befindet sich ein Foto von ihm in Uniform – er ist in die sowjetische Armee eingetreten. Melānija nimmt sich vor, ihre Geschichte aufzuschreiben: „Damit sie wissen, dass wir existiert haben“. Erst 1957, 16 Jahre nach ihrer Deportation, darf sie im Zuge der Entstalinisierung nach Riga zurückkehren und erfährt dort, dass ihr Mann schon 1942 erschossen wurde.

Der Film ist durchgehend in Schwarz-Weiß gehalten, was dazu verhilft, den Eindruck der Authentizität und Historizität zu verstärken. Von Anfang an ist klar: Wir Zuschauer_innen sehen hier eine Darstellung der Vergangenheit. Aus Melānijas Blickwinkel erleben wir das Gefangensein in der Eintönigkeit der sibirischen Landschaft: Lethargisch durchlebt sie einen Tag nach dem anderen, doch ihr Leben hat keine Farbe mehr, alles ist grau und trist, die karge Landschaft gewinnt dennoch an eigenwilliger Schönheit. Die Schweizer Schauspielerin Sabine Timoteo, die eigens für den Film Lettisch lernte, zieht das Publikum vor allem durch ihre ausdrucksstarke Mimik in ihren Bann. Bemerkenswert ist auch die Klangkulisse des Films: Musik wird kaum eingesetzt. Stattdessen hören wir gedämpfte, verzerrte Töne, die erst leise sind und dann plötzlich laut werden. Als Melānija etwa halbtot im Krankenhaus liegt, hören wir laut ihr Atmen, wie sie nach Luft schnappt und ums Überleben kämpft. Dies alles erzeugt eine fast schon albtraumhafte, sehr eindringliche Atmosphäre. Es herrscht eine düstere Grundstimmung, die durch ein ausgedehntes Erzähltempo und lange Kameraeinstellungen der Landschaften verstärkt wird.

Mit dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 fiel das Baltikum unter Einfluss der Sowjetunion. Konsequent zeigt der Film die Auswirkungen der stalinistischen Zwangsumsiedlungen, bei denen zum Zweck der „ethnischen Säuberung“ vermeintlich politische Gegner, Deutschbalten und Angehörige von anderen Minderheiten deportiert wurden. Auf dieser in der Erinnerungskultur Europas und Deutschlands häufig unbekannt gebliebenen Opfergruppe liegt der Fokus.

Dass der Film auch international auf die Deportationen und ihre Folgen aufmerksam machen will, zeigt sich unter anderem auch an der Wahl einer bekannten Schweizer Schauspielerin als Hauptdarstellerin. Melānijas hronika reiht sich in das nationale Narrativ der Emanzipation ehemaliger sowjetischer Länder als eigenständige Nationen ein und bezieht sich dabei implizit auch auf aktuelle nationale und politische Diskurse, wie die heutige, konfliktbeladene Beziehung Russlands und Lettlands oder auf die Konkurrenz der Erinnerung an die Opfer der stalinistischen Deportationen einerseits und an die des Holocaust andererseits. Dabei darf nicht vergessen werden, dass es erst seit einigen Jahren überhaupt möglich ist, Geschichten zu erzählen, die sich mit diesem Kapitel der lettischen Geschichte befassen. Erst 1991, nach dem Zerfall der Sowjetunion, konnte Melānija Vanaga ihr autobiographisches Buch veröffentlichen, auf dem der Film basiert. Die Aufarbeitung der Traumata die aus den stalinistischen Deportationen resultierten, wird auch durch Filme wie diesen ermöglicht. Seither ist die Erinnerung an die Opfer der stalinistischen Deportationen eines der wichtigsten nationalen Narrative. Trotz des gezeigten spezifischen Schicksals sind die Themen universell: Tod, Verlust der Familie, Deportation, Aufopferung, erzwungene Auslöschung der eigenen Identität und Solidarität unter den Opfern.
Der Ausbruch und das Ende des Zweiten Weltkriegs sind für Melānijas persönliches Schicksal beinahe nebensächlich. Denn sie wird noch vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion deportiert. Die Rückkehr des Sohnes nach Riga macht sie schlussendlich nur noch einsamer; sie selbst bekommt durch die Deportation vom gesellschaftlichen Wandel nach Kriegsende nichts mit.

Der Fokus auf die Hauptfigur und das nationale Narrativ sorgen jedoch dafür, dass andere Opfergruppen nicht behandelt werden und die Täter/Opfer-Darstellung sehr eindimensional bleibt: Die Letten sind gut, die Sowjets böse. Grauzonen gibt es nicht, auch die lettische Kollaboration mit der SS und deutsche Kriegsverbrechen werden nicht erwähnt. Jakob, der einzige Deutsche im Film, wird recht sympathisch dargestellt. Melānija nimmt ihn bei sich auf und kümmert sich um ihn. Beide, Melānija und Jakob, werden von Sowjets als Faschist_innen beschimpft und verbünden sich gegen den gemeinsamen Feind. Auch wenn sie wenig miteinander sprechen, ist ihr Verhältnis doch von gegenseitigem Verständnis geprägt: Gemeinsam rezitieren sie deutsche Gedichte.

Abgesehen von der ‚harmlosen‘ Darstellung der Deutschen gibt es auch eine verharmlosende Aussage über den Holocaust, als eine Frau nach Kriegsende sagt: „Mein Trost ist, dass meine Eltern in den Gaskammern schnell gestorben sind. Im Gegensatz zu meinem Leben in den russischen Lagern.“ Dass die beiden Erinnerungen an den Holocaust und die stalinistischen Deportationen hier gegeneinander ausgespielt werden, ist sicherlich auch historisch problematisch.

Leider wirkt das Heldentum Melānijas manchmal etwas übertrieben und unglaubwürdig. Etwa, als sie ihre Schuhe im eisigen Winter hergibt, um ein Paket an ihren Bruder schicken zu können. Auch leichte Spuren von Pathos und Kitsch werden nicht immer umgangen, wenn ein Kind nach seiner gerade verstorbenen und in einer Trage abtransportierten Mutter schreit oder Melānija immerzu von ihrem Mann träumt und ihm aus letzter Kraft noch Briefe schreibt.

Nichtsdestotrotz werden die physischen und psychischen Qualen und Demütigungen, Ungerechtigkeiten und sexuellen Übergriffe in voller Eindrücklichkeit gezeigt; das Lagerleben wird nicht romantisiert oder instrumentalisiert, sondern Szene für Szene eingefangen. Grausamkeit und Willkür zeigen sich zum Beispiel, wenn die Frauen versuchen das für die Schweine bestimmte Brot in ihren Kleidern zu verstecken. Eine nach der anderen werden sie von einem Aufseher gezwungen, das Brot fallen zu lassen, woraufhin sich die Schweine sofort darauf stürzen.

Eine – trotz einiger dramaturgischer Schwächen – angemessene und berührende Erinnerung an die lettischen Opfer der stalinistischen Deportationen, deren Geschichten hierzulande noch immer zu selten gehört werden.

Kairišs, Viesturs: Melānijas hronika (The Chronicles Of Melanie). Lettland, 2016, 120 Min.

Die vergessenen Opfer - novinki
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Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Die ver­ges­senen Opfer

Von einem Tag auf den anderen der Heimat Riga ent­rissen, von der Familie getrennt und in die Fremde ver­schleppt – so ergeht es Melā­nija und ihrem Sohn im Juni 1941. „Melā­nijas hro­nika“ („The Chro­nicles Of Melanie“) erzählt ein­drucks­voll von der dar­auf­fol­genden, sech­zehn Jahre andau­ernden Lei­dens­ge­schichte in einem sibi­ri­schen Arbeits­lager. Mit dem 2016 erschie­nenen und kom­mer­ziell sehr erfolg­rei­chen Film des Regis­seurs Viesturs Kai­rišs wird der let­ti­schen Autorin und Jour­na­listin Melā­nija Vanaga (1905–1997) ein Denkmal gesetzt.

Im Juni 1941, wäh­rend der Sowje­ti­sie­rung Lett­lands, tau­chen in Melā­nijas Woh­nung in Riga plötz­lich sowje­ti­sche Sol­daten auf, trennen sie von ihrem Mann und sperren sie zusammen mit ihrem acht­jäh­rigen Sohn in einen Güterzug. Mit vielen anderen Frauen fahren sie tage­lang ohne Pause an ein unbe­kanntes Ziel. Nach der Ankunft werden sie zunächst auf ein umzäuntes Feld getrieben. Sie müssen Rus­sisch spre­chen und werden als Faschist_innen beschimpft. Außerdem werden die Depor­tierten dazu gezwungen, zu unter­schreiben, dass sie für zwanzig Jahre frei­willig umge­sie­delt sind. Unter unmensch­li­chen Bedin­gungen leben sie hier in Holz­hütten und müssen Zwangs­ar­beit leisten. Der Alltag ist bestimmt von Hunger, Kälte, Demü­ti­gung und Krank­heiten, auch sexu­elle Über­griffe durch die Sol­daten sind keine Seltenheit.

Immer wieder erkun­digt sich Melā­nija nach ihrem Mann und bekommt die Ant­wort, dass er noch am Leben, aber zu zehn Jahren Haft ver­ur­teilt worden sei. Sie schreibt ihm regel­mäßig Briefe, die sie nicht abschi­cken kann. Nach Kriegs­ende kann ihr Sohn nach Riga zurück­kehren, sie muss jedoch bleiben. Als zehn Jahre ver­gangen sind und ihr Mann die Haft schon beendet haben sollte, bekommt sie immer noch die gleiche Aus­kunft wie zuvor. Aus­ge­zehrt und hoff­nungslos ver­brennt sie alle Briefe an ihren Mann und unter­nimmt einen Selbst­mord­ver­such. Doch sie wird gerettet und kommt ins Kran­ken­haus. Sie erhält einen Brief ihres Sohnes, darin befindet sich ein Foto von ihm in Uni­form – er ist in die sowje­ti­sche Armee ein­ge­treten. Melā­nija nimmt sich vor, ihre Geschichte auf­zu­schreiben: „Damit sie wissen, dass wir exis­tiert haben“. Erst 1957, 16 Jahre nach ihrer Depor­ta­tion, darf sie im Zuge der Ent­sta­li­ni­sie­rung nach Riga zurück­kehren und erfährt dort, dass ihr Mann schon 1942 erschossen wurde.

Der Film ist durch­ge­hend in Schwarz-Weiß gehalten, was dazu ver­hilft, den Ein­druck der Authen­ti­zität und His­to­ri­zität zu ver­stärken. Von Anfang an ist klar: Wir Zuschauer_innen sehen hier eine Dar­stel­lung der Ver­gan­gen­heit. Aus Melā­nijas Blick­winkel erleben wir das Gefan­gen­sein in der Ein­tö­nig­keit der sibi­ri­schen Land­schaft: Lethar­gisch durch­lebt sie einen Tag nach dem anderen, doch ihr Leben hat keine Farbe mehr, alles ist grau und trist, die karge Land­schaft gewinnt den­noch an eigen­wil­liger Schön­heit. Die Schweizer Schau­spie­lerin Sabine Timoteo, die eigens für den Film Let­tisch lernte, zieht das Publikum vor allem durch ihre aus­drucks­starke Mimik in ihren Bann. Bemer­kens­wert ist auch die Klang­ku­lisse des Films: Musik wird kaum ein­ge­setzt. Statt­dessen hören wir gedämpfte, ver­zerrte Töne, die erst leise sind und dann plötz­lich laut werden. Als Melā­nija etwa halbtot im Kran­ken­haus liegt, hören wir laut ihr Atmen, wie sie nach Luft schnappt und ums Über­leben kämpft. Dies alles erzeugt eine fast schon alb­traum­hafte, sehr ein­dring­liche Atmo­sphäre. Es herrscht eine düs­tere Grund­stim­mung, die durch ein aus­ge­dehntes Erzähl­tempo und lange Kame­ra­ein­stel­lungen der Land­schaften ver­stärkt wird.

Mit dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 fiel das Bal­tikum unter Ein­fluss der Sowjet­union. Kon­se­quent zeigt der Film die Aus­wir­kungen der sta­li­nis­ti­schen Zwangs­um­sied­lungen, bei denen zum Zweck der „eth­ni­schen Säu­be­rung“ ver­meint­lich poli­ti­sche Gegner, Deutsch­balten und Ange­hö­rige von anderen Min­der­heiten depor­tiert wurden. Auf dieser in der Erin­ne­rungs­kultur Europas und Deutsch­lands häufig unbe­kannt geblie­benen Opfer­gruppe liegt der Fokus.

Dass der Film auch inter­na­tional auf die Depor­ta­tionen und ihre Folgen auf­merksam machen will, zeigt sich unter anderem auch an der Wahl einer bekannten Schweizer Schau­spie­lerin als Haupt­dar­stel­lerin. Melā­nijas hro­nika reiht sich in das natio­nale Nar­rativ der Eman­zi­pa­tion ehe­ma­liger sowje­ti­scher Länder als eigen­stän­dige Nationen ein und bezieht sich dabei implizit auch auf aktu­elle natio­nale und poli­ti­sche Dis­kurse, wie die heu­tige, kon­flikt­be­la­dene Bezie­hung Russ­lands und Lett­lands oder auf die Kon­kur­renz der Erin­ne­rung an die Opfer der sta­li­nis­ti­schen Depor­ta­tionen einer­seits und an die des Holo­caust ande­rer­seits. Dabei darf nicht ver­gessen werden, dass es erst seit einigen Jahren über­haupt mög­lich ist, Geschichten zu erzählen, die sich mit diesem Kapitel der let­ti­schen Geschichte befassen. Erst 1991, nach dem Zer­fall der Sowjet­union, konnte Melā­nija Vanaga ihr auto­bio­gra­phi­sches Buch ver­öf­fent­li­chen, auf dem der Film basiert. Die Auf­ar­bei­tung der Trau­mata die aus den sta­li­nis­ti­schen Depor­ta­tionen resul­tierten, wird auch durch Filme wie diesen ermög­licht. Seither ist die Erin­ne­rung an die Opfer der sta­li­nis­ti­schen Depor­ta­tionen eines der wich­tigsten natio­nalen Nar­ra­tive. Trotz des gezeigten spe­zi­fi­schen Schick­sals sind die Themen uni­ver­sell: Tod, Ver­lust der Familie, Depor­ta­tion, Auf­op­fe­rung, erzwun­gene Aus­lö­schung der eigenen Iden­tität und Soli­da­rität unter den Opfern.
Der Aus­bruch und das Ende des Zweiten Welt­kriegs sind für Melā­nijas per­sön­li­ches Schicksal bei­nahe neben­säch­lich. Denn sie wird noch vor dem deut­schen Über­fall auf die Sowjet­union depor­tiert. Die Rück­kehr des Sohnes nach Riga macht sie schluss­end­lich nur noch ein­samer; sie selbst bekommt durch die Depor­ta­tion vom gesell­schaft­li­chen Wandel nach Kriegs­ende nichts mit.

Der Fokus auf die Haupt­figur und das natio­nale Nar­rativ sorgen jedoch dafür, dass andere Opfer­gruppen nicht behan­delt werden und die Täter/Opfer-Dar­stel­lung sehr ein­di­men­sional bleibt: Die Letten sind gut, die Sowjets böse. Grau­zonen gibt es nicht, auch die let­ti­sche Kol­la­bo­ra­tion mit der SS und deut­sche Kriegs­ver­bre­chen werden nicht erwähnt. Jakob, der ein­zige Deut­sche im Film, wird recht sym­pa­thisch dar­ge­stellt. Melā­nija nimmt ihn bei sich auf und küm­mert sich um ihn. Beide, Melā­nija und Jakob, werden von Sowjets als Faschist_innen beschimpft und ver­bünden sich gegen den gemein­samen Feind. Auch wenn sie wenig mit­ein­ander spre­chen, ist ihr Ver­hältnis doch von gegen­sei­tigem Ver­ständnis geprägt: Gemeinsam rezi­tieren sie deut­sche Gedichte.

Abge­sehen von der ‚harm­losen‘ Dar­stel­lung der Deut­schen gibt es auch eine ver­harm­lo­sende Aus­sage über den Holo­caust, als eine Frau nach Kriegs­ende sagt: „Mein Trost ist, dass meine Eltern in den Gas­kam­mern schnell gestorben sind. Im Gegen­satz zu meinem Leben in den rus­si­schen Lagern.“ Dass die beiden Erin­ne­rungen an den Holo­caust und die sta­li­nis­ti­schen Depor­ta­tionen hier gegen­ein­ander aus­ge­spielt werden, ist sicher­lich auch his­to­risch problematisch.

Leider wirkt das Hel­dentum Melā­nijas manchmal etwas über­trieben und unglaub­würdig. Etwa, als sie ihre Schuhe im eisigen Winter her­gibt, um ein Paket an ihren Bruder schi­cken zu können. Auch leichte Spuren von Pathos und Kitsch werden nicht immer umgangen, wenn ein Kind nach seiner gerade ver­stor­benen und in einer Trage abtrans­por­tierten Mutter schreit oder Melā­nija immerzu von ihrem Mann träumt und ihm aus letzter Kraft noch Briefe schreibt.

Nichts­des­to­trotz werden die phy­si­schen und psy­chi­schen Qualen und Demü­ti­gungen, Unge­rech­tig­keiten und sexu­ellen Über­griffe in voller Ein­drück­lich­keit gezeigt; das Lager­leben wird nicht roman­ti­siert oder instru­men­ta­li­siert, son­dern Szene für Szene ein­ge­fangen. Grau­sam­keit und Willkür zeigen sich zum Bei­spiel, wenn die Frauen ver­su­chen das für die Schweine bestimmte Brot in ihren Klei­dern zu ver­ste­cken. Eine nach der anderen werden sie von einem Auf­seher gezwungen, das Brot fallen zu lassen, wor­aufhin sich die Schweine sofort darauf stürzen.

Eine – trotz einiger dra­ma­tur­gi­scher Schwä­chen – ange­mes­sene und berüh­rende Erin­ne­rung an die let­ti­schen Opfer der sta­li­nis­ti­schen Depor­ta­tionen, deren Geschichten hier­zu­lande noch immer zu selten gehört werden.

Kai­rišs, Viesturs: Melā­nijas hro­nika (The Chro­nicles Of Melanie). Lett­land, 2016, 120 Min.