Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

„Diesmal war mir klar, dass die Men­schen ‚erwacht‘ waren.“ – ein Gespräch mit Vitalij Aleksejonok

Der aus Belarus stam­mende und in Deutsch­land lebende Diri­gent Vitalij Alek­se­jonok [Vitali Alek­seenok] war von der – wie er schreibt – „maß­losen Unge­rech­tig­keit und skru­pel­losen Gesetz­lo­sig­keit“ bereits bei der Vor­be­rei­tung der Wahlen 2020 in Belarus so tief erschüt­tert, dass er dann im August nach Minsk reiste, um soli­da­risch an den dor­tigen Pro­testen teil­zu­nehmen. Mit „Die weißen Tage von Minsk. Unser Traum von einem freien Belarus“ tritt er erst­mals als Autor in die Öffent­lich­keit und lie­fert auf Basis seiner per­sön­li­chen Erfah­rungen nicht nur eine Chronik, son­dern auch ein nach­fühl­bares Zeugnis der elek­tri­sie­rend-ver­bin­denden Emo­tionen der bela­ru­si­schen Freiheitsbewegung. 

 

Timo Daus: Vitalij Alek­se­jonok, mit Ihrem Buch „Die weißen Tage von Minsk“ sind Sie neben Ihrer künst­le­ri­schen Tätig­keit als Diri­gent auch Autor eines poli­ti­schen Buches. Wie haben Sie es geschafft, die Emo­tionen der Pro­test­be­we­gung in Belarus so ein­drück­lich an uns Leser_innen weiterzugeben?

Vitalij Alek­se­jonok: Ich bin Musiker, aktiver Leser, aber kein Schrift­steller. Aller­dings hat mir meine Arbeit als Diri­gent beim Ver­fassen des Buchs sehr geholfen. Als Diri­gent bin ich es gewohnt, eine dra­ma­tur­gi­sche Ver­bin­dung von Inhalt und Form zu schaffen und gleich­zeitig die Wir­kung der Prä­sen­ta­tion eines Werkes vor­aus­zu­denken. Beim Schreiben habe ich sehr viel „lear­ning by doing“ prak­ti­ziert, hatte aber immer das Inhalt­liche, also meine Ein­drücke und Erleb­nisse wäh­rend der Pro­teste in Belarus, als Leit­linie vor Augen. Ohne selbst die Bewe­gung live mit­er­lebt zu haben, ohne die Emo­tionen gefühlt zu haben, hätte ich es nicht gewagt, ein Buch zu ver­öf­fent­li­chen. Den ersten Ent­wurf habe ich auf Rus­sisch geschrieben und unserer Nobel­preis­trä­gerin Svjat­lana Alek­sievič [Swet­lana Ale­xi­je­witsch] mit der Bitte um Durch­sicht gegeben. Neben meinen Lek­toren war sie die aller­erste Leserin.

Der 1991 in der Nähe von Minsk gebo­rene Diri­gent Vitalij Alek­se­jonok ging 2011 nach Sankt Peters­burg, um am dor­tigen Kon­ser­va­to­rium zu stu­dieren. Aktuell ist er Diri­gent sowie künst­le­ri­scher Leiter des Abaco-Sin­fo­nie­or­ches­ters in Mün­chen, einem seit mehr als 33 Jahren bestehenden Orchester von über 100 Student_innen unter­schied­lichster Fach­rich­tungen, die in ihrer Frei­zeit „am liebsten sym­pho­ni­sche, laute, schwung­volle, träu­me­ri­sche, mit­rei­ßende Musik“ machen (so Aleksejonok).

T.D.: In ihren Werken wie Second­hand-Zeit ver­wendet Svjat­lana Alek­sievič eine eigene Methode, bei der sie in meh­reren Schritten die Inhalte von sehr vielen – wie sie es nennt – „Gesprä­chen über das Leben“ zu einer Gesamt­kom­po­si­tion ver­bindet, sodass daraus eine Dar­stel­lung indi­vi­duell-kol­lek­tiver Grenz­erfah­rungen ent­steht, die der Nach­welt zur Erin­ne­rung wei­ter­ge­geben wird. Haben Sie in Alek­sie­vičs Feed­back etwas von diesem Vor­gehen erkennen können? 

V.A.: Tat­säch­lich ver­folge ich eine ähn­liche Inten­tion, ich möchte, dass Außen­ste­hende die beson­deren Motive und Ziele der bela­ru­si­schen Frei­heits­be­we­gung ver­stehen und nicht ver­gessen. Alek­sievič hat mir dazu geraten, das Buch etwas zu kürzen, wor­über ich im Nach­hinein sehr froh bin.

T.D.: Sie beschreiben gleich zu Beginn des Buches, dass Corona ein „Weg­be­reiter“ der soli­da­ri­schen Groß­de­mons­tra­tionen war. Das hört sich wider­sprüch­lich an, da man Covid-19 vor­der­gründig mit Distanz­halten und Verbot von Men­schen­an­samm­lungen ver­bindet. Wie meinen Sie das mit dem „Weg­be­reiter“?

V.A.: Das bela­ru­si­sche Regime hat genau – ent­ge­gen­ge­setzt bei­spiels­weise zur deut­schen Regie­rung – auf die Pan­demie reagiert. In Belarus wurde die Pan­demie von Aljaksandr Lukašenka [Alex­ander Lukaschenko] tot­ge­schwiegen, er behaup­tete, das sei alles eine Psy­chose. Dass dies nicht der Fall war, erfuhren die Belarus_innen jedoch schnell über die sozialen Netz­werke; die Regie­rung hatte sich in eine absurde Außen­sei­ter­po­si­tion gebracht. In der Bevöl­ke­rung ent­stand eine sehr große Soli­da­ri­täts­welle, und es gelang ganz ohne Hilfe des Regimes, ein Netz­werk gegen­sei­tiger Hilfe und Unter­stüt­zung zu orga­ni­sieren. Das meinte ich, wenn ich vom „Weg­be­reiter Corona“ gespro­chen habe: von dieser „Übung der Soli­da­rität“ haben wir beim Wider­stand gegen das unde­mo­kra­ti­sche Vor­gehen bei den Prä­si­dent­schafts­wahlen enorm pro­fi­tiert. Die Zivil­ge­sell­schaft hat gelernt, sich selbst ohne und gegen das Regime zu organisieren.

T.D.: Sie haben in Sankt Peters­burg stu­diert, seit 2017 hatten Sie Ihren Lebens­mit­tel­punkt in Mün­chen bzw. waren unter­wegs auf Kon­zerten. Durch ihre regel­mä­ßigen Besuche in Belarus waren Sie dem Land aber weiter eng ver­bunden, trotzdem haben Sie 2020 in Minsk eine Ver­än­de­rung festgestellt?

V.A.: Als ich am 4. August 2020 nach Minsk kam, war da etwas ganz Neues. Ich war voll­kommen über­rascht von den Men­schen in Belarus. Früher dachte ich, die meisten wären apo­li­tisch, sie ver­standen sich nicht als Zivil­ge­sell­schaft, wollten ein­fach ihrem Leben nach­gehen und öffent­lich nicht in Erschei­nung treten, schon gar nicht bei Vor­gängen, von denen sie glaubten, dass sie sie ohnehin nicht beein­flussen könnten. Diesmal war mir klar, dass – auch wenn das roman­tisch klingt – die Men­schen ‘erwacht’ waren. Ein Gefühl von Soli­da­rität lag in der Luft. Der 4. August war der erste Tag, an dem man seine Stimme abgeben konnte, man musste nicht bis zum eigent­li­chen Wahltag, dem 9. August, warten. Die Bevöl­ke­rung war elek­tri­siert, das konnte man atmo­sphä­risch spüren. Das hat mich sehr beein­druckt: wie von selbst hatten sich Sym­bole der Soli­da­rität und Fried­fer­tig­keit eta­bliert und schnell weit ver­breitet. Men­schen trugen weiße Arm­bänder und das Eva-T-Shirt, das ich selbst später auch immer bei Pro­testen ange­zogen habe. Wenn man auf die Straße ging, erkannte man sofort, dass man nicht alleine war, es gab einen Zusam­men­schluss auf visu­eller Ebene, wodurch man selbst aktiver und mutiger wurde; es gab eine gegen­sei­tige ener­ge­ti­sche Auf­la­dung, die der Bewe­gung ihre Größe und Dynamik ver­liehen hat. Per­sön­lich habe ich das bei meiner ersten Teil­nahme an einer Demons­tra­tion, am 6. August, gespürt. Wir waren umgeben von Bereit­schafts­po­li­zisten, mir wurde klar, wie gefähr­lich es ist, in Belarus zu demons­trieren. Ich habe dann – und das kann ich mit Worten nur schlecht beschreiben – tief im Inneren gespürt, wie wenig wir, die Belaruss_innen im Aus­land, ris­kieren. Für uns in Deutsch­land exis­tiert keine oder nur eine geringe Gefahr, selbst wenn wir öffent­lich pro­tes­tieren. In Belarus hin­gegen musste jeder jeden Tag die Ent­schei­dung treffen, ob sie oder er raus­geht und sich der Gefahr durch das Regime aus­setzt. Dass so viele Men­schen bereit waren, sich zu zeigen, sich auf einer inof­fi­zi­ellen Demons­tra­tion der Gefahr einer Inhaf­tie­rung aus­zu­setzen, hat mich sehr beein­druckt, es hat mich im posi­tivsten Sinne schockiert.

Sym­bole der Pro­teste in Belarus
Das Gemälde „Eva“ von Chaim Sutin, einem auf heute bela­ru­si­schem Gebiet gebo­renen Expres­sio­nisten jüdi­scher Her­kunft, ist eines der der­zeit teu­ersten Kunst­werke in Belarus. Es wurde 2013 von Viktor Bab­a­riko für die von ihm gegrün­dete Kunst­samm­lung der “Bel­gas­prom­bank erworben. Das Bild­motiv, ein Eva-Por­trät, wurde durch die Beschlag­nah­mung des Bildes zum Frei­heits­symbol. „Eva“-Bilder sind Teil zahl­rei­cher Col­lagen, wurden zum beliebten Motiv auf T‑Shirts, Tassen und Auf­kle­bern. „Eva“ wird dabei auch mit Stin­ke­finger, in gestreifter Sträf­lings­kluft, mit Blumen in der Hand oder hinter Git­tern dar­ge­stellt, sie wurde zu einem bela­ru­si­schen Pop-Art-Phänomen.

“Eva” von Chaim Sutin, hier mit Stin­ke­finger als Protestsymbol.

T.D: Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass Sie das Gefühl der Angst beim Vor­bei­fahren von ver­meint­li­chen OMON-Klein­bussen, in denen will­kür­lich Demonstrant_innen ent­führt wurden und werden, auch nach Ihrer Rück­kehr nach Deutsch­land erst langsam abschüt­teln konnten. Sie sind durch Ihre Buch­ver­öf­fent­li­chung eine öffent­liche, offen regime­kri­ti­sche Person geworden. Das erfor­dert Mut. 

V.A.: Sechs Monate lang ein Buch zu schreiben und es zu ver­öf­fent­li­chen, braucht, finde ich, viel weniger Mut als nur einen ein­zigen Abend in Belarus auf die Straße zu gehen – jetzt aktuell natür­lich ganz besonders.

T.D.: In Kom­men­taren und Chats zu Ihren online ver­öf­fent­lichten Inter­views sind mir kri­ti­sche Bemer­kungen auf­ge­fallen wie z.B. „Wieder einer, der aus der Ferne zün­delt. Mit der­ar­tigem ‚Mut‘ werden sie den Mus­tache-Mann mit der Glatze nie­mals los.“ Oder solche, in denen Ihr Buch als Pro­pa­ganda abge­wertet und iro­nisch-sar­kas­tisch ver­han­delt wird. Wie gehen Sie mit sol­chen Reak­tionen um?

V.A.: Davon habe ich nichts gewusst. Würden solche Aus­sagen mir gegen­über direkt geäu­ßert, wäre es mein Ziel her­aus­zu­finden, welche Lebens­er­fah­rungen zu sol­chen Mei­nungen geführt haben. Ohne diese Per­sonen unbe­dingt über­zeugen zu wollen, würde ich den­noch mit ihnen reden – so wie ich auch mit AfD-Wäh­ler_innen in Deutsch­land reden würde. Wenn man Men­schen mit fehl­ge­lei­teten Ein­stel­lungen nur ver­achtet oder für dumm erklärt, stärkt das meines Erach­tens deren Posi­tion. Zwar glaube ich nicht, dass mein per­sön­lich Erlebtes die ein­zige Wahr­heit ist, aber den­je­nigen, die ohne dabei gewesen zu sein oder sich aus Pri­mär­quellen infor­miert zu haben, die Frei­heits­be­we­gung ver­ur­teilen, fehlt die Grund­lage für eine Ein­schät­zung. Sie können die Situa­tion doch gar nicht nach­emp­finden. Daher würde ich sie gerne mit Empa­thie auf­klären, nicht durch Kon­fron­ta­tion. Das halte ich für sehr wichtig.

T.D.: Sie sind fast durch Zufall Musiker geworden. Infolge einer Asthma-Erkran­kung begannen Sie, Posaune zu spielen – Jazz und Unter­hal­tungs­musik. Heute sind Sie Diri­gent klas­si­scher Musik. Wie kam es zu dem Wandel von Unter­hal­tungs­musik zur Klassik und vom Posau­nisten zum Dirigenten?

V.A.: Bis vor einer Stunde hatten wir noch eine Probe mit dem Kyiv Sym­phony Orchestra zu Wag­ners Tristan und Isolde in Vor­be­rei­tung der Auf­tritte im Fest­spiel­haus Neu­schwan­stein Ende Sep­tember in Füssen. Das ist natür­lich etwas ganz Anderes als Unter­hal­tungs­musik. Meine Liebe zur Klassik ent­wi­ckelte sich unge­wöhn­lich. Ich hatte keinen Lehrer, der mich an klas­si­sche Musik her­an­ge­führt hat, auch keine Klavierlehrer_in. Ich habe mir Kla­vier­spielen zunächst voll­kommen falsch selbst bei­gebracht, wes­halb ich es später neu lernen musste. Aber ich wollte es lernen, ich habe einen inneren Sog gespürt, der mich in diese Rich­tung geführt hat. Wenn man etwas so deut­lich aus sich selbst „her­aus­hört“, dann – davon bin ich über­zeugt – findet man einen Weg, es umzu­setzen. Aber man braucht natür­lich eine Gele­gen­heit und die habe ich durch einen Freund erhalten, der mir eine Samm­lung von 16 CDs mit klas­si­scher Musik aus­ge­liehen hat. Seitdem ist mein Leben anders geworden. Gute Musik wirkt, ohne dass Hörer_innen etwas ver­stehen müssen, ledig­lich eine Bereit­schaft zur Wahr­neh­mung wird vor­aus­ge­setzt. Ich war gleich­zeitig auf­nah­me­be­reit und voll­kommen geschockt – mit sech­zehn war ich noch quasi „jung­fräu­lich“, was klas­si­sche Musik betraf. Daher hat sie wahr­schein­lich so intensiv auf mich gewirkt.

 

T.D.: Musik ist für Sie Kunst, aber hat auch eine gesell­schaft­lich-poli­ti­sche Kom­po­nente: Sie selbst haben täg­liche Kon­zerte vor der Phil­har­monie in Minsk im August 2020 orga­ni­siert, sie haben beim Pro­jekt „Music and Dia­logue“ in der Ukraine mit­ge­wirkt. Welche Rolle kann klas­si­sche Musik und gemein­sames Musi­zieren im Rahmen einer poli­ti­schen Bewe­gung spielen? 

V.A.: Klas­si­sche Musik oder Musik gene­rell ist eine abs­trakte Kunst, gerade des­halb kann sie stark emo­tional wirken. Darin liegt eine Chance, aber auch eine Gefahr. Musik kann miss­braucht werden, man kann sie wegen des hohen Abs­trak­ti­ons­grades theo­re­tisch für alles ver­wenden. Ihr Kon­text kann bewusst ver­än­dert werden, um bestimmte Wir­kungen zu erzeugen. Bei­spiele dafür sind die Neunte Sin­fonie von Beet­hoven, Bruck­ners Siebte oder die Instru­men­ta­li­sie­rung von Wag­ners Musik durch die Natio­nal­so­zia­listen. „Schuldig“ sind dabei nicht die Komponist_innen, son­dern immer die­je­nigen, die diese Musik benutzen. Aber Musik hat natür­lich vor allem eine gute Seite, man kann mit­hilfe von Musik Men­schen ver­binden. Und das ver­suche ich zu tun – in ganz nor­malen Kon­zerten, aber eben auch in beson­deren Pro­jekten. Zum Bei­spiel durch meine Arbeit als musi­ka­li­scher Leiter in dem schon erwähnten, bereits seit drei Jahren lau­fenden Pro­jekt in der Ukraine: Wir arbeiten in unmit­tel­barer Nähe des Kriegs­ge­biets, nur zwanzig Kilo­meter ent­fernt von den Aus­ein­an­der­set­zungen zwi­schen Russ­land – ich nenne es ein­fach Russ­land – und der Ukraine. Die Bevöl­ke­rung dort ist arm, hat keine posi­tiven Zukunfts­aus­sichten und lebt wegen der Gefahren sehr iso­liert. Dabei konnten wir beob­achten, wie Musik zum eini­genden Brü­cken­bauer wurde – nicht nur für die Spie­lenden und Sin­genden aus ver­schie­denen Län­dern ein­schließ­lich Russ­land und der Ukraine, son­dern auch für das Publikum. Plötz­lich waren die Musiker_innen keine Feind_innen mehr, son­dern Kolleg_innen, das Publikum war eine Zuhö­rer­schaft. Diese Erfah­rung war für mich etwas sehr, sehr Schönes! Klas­si­sche Musik erfor­dert gene­rell eine gewisse musi­ka­li­sche Reife, um in Men­schen Ver­än­de­rungen zu bewirken. Diese Reife hatten natür­lich nicht alle, aber mit unseren Bil­dungs­pro­jekten und sozialen Akti­vi­täten konnten wir auch musi­ka­lisch noch nicht Aus­ge­bil­dete anspre­chen und viel Posi­tives bewirken. Das finde ich an Musik wirk­lich wunderbar!

TD: In Koope­ra­tion mit den Uni­ver­si­täten Frei­burg und Inns­bruck fand im Som­mer­se­mester 2021 an der Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin das Seminar „Belarus 2020: Revo­lu­tion der Geduld“ unter Mit­wir­kung von unmit­tel­baren Teilnehmer_innen der Pro­teste in Belarus in Form von Autor_innenlesungen und Expert_innenvorträgen statt. Einige denken, dass die Bewe­gung bereits wesent­liche Ziele erreicht hat und auch heute noch aktiv ist, da gehan­delt wird: „wir han­deln, denn Spa­zie­ren­gehen ist Han­deln.“ Gemeint sind die heim­li­chen Spa­zier­gänge durch Hin­ter­höfe. Mir erscheint das ein sehr intel­lek­tu­eller Zugang. In Ihrem Buch schreiben Sie im Kon­text des August 2020 von der „bela­ru­si­schen Freude“ und for­dern Leser_innen auf, sich mit­zu­freuen. Gilt das heute noch oder ist das genau die Nai­vität, mit der Lukaschenko rechnet und mit der er sehr gut klar­kommt, solange Putin hinter ihm steht. Wie schätzen Sie das ein?

Poli­ti­sche Ver­fol­gung in Belarus

In Belarus gibt es mit Stand Oktober 2021 nach der von der Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tion VIASNA geführten Liste über 800 poli­ti­sche Gefan­gene. Den meisten wird wegen der Teil­nahme an den fried­li­chen Pro­testen “Orga­ni­sa­tion von und Teil­nahme an gemeinsam began­genem Land­frie­dens­bruch” (§ 342 des Straf­ge­setz­buchs) oder “Teil­nahme an Mas­sen­un­ruhen” (§ 293 des Straf­ge­setz­buchs) vor­ge­worfen. Zahl­reiche Per­sonen wurden bereits zu mehr­jäh­rigen Haft­strafen verurteilt.

V.A.: Ich weiß nicht, ob Lukaschenko mit dieser Nai­vität rechnet. Aber ja, die Nai­vität gab und gibt es tat­säch­lich, weil wir poli­tisch als Zivil­ge­sell­schaft noch so jung sind.  Wie Kinder mussten wir eine neue Welt erst ken­nen­lernen, alles sahen wir bunt und far­ben­froh, manchmal aber mit rea­li­täts­fremden Augen. Wie in der Pubertät erleben wir jetzt Ent­täu­schungen. Es ist eine sehr schwie­rige ethi­sche Frage, ob man sich über­haupt freuen darf, solange es so viele poli­ti­sche Gefan­gene gibt und Men­schen vom Regime umge­bracht werden. Ich glaube, wir können uns nicht (mehr) ein­fach so freuen, manche haben sogar nahe Ange­hö­rige ver­loren, was einen für immer ver­än­dert. Auch wenn es viele unter­schied­liche Mei­nungen und Pro­gnosen hin­sicht­lich der Zukunft gibt, ist meine Über­zeu­gung, dass wir uns auf einem Weg befinden, an dessen Ende wieder Licht scheint! Frus­tra­tion, Hoff­nungs­lo­sig­keit, die Aus­sicht, sich über­haupt nicht mehr freuen zu können, wäre jetzt das Schlimmste. Mit etwas Distanz betrachtet, sieht man, dass wir Belaruss_innen schon sehr, sehr viel in einem ein­zigen Jahr geschafft haben: Wir sind jetzt in der ganzen Welt aner­kannt, nicht das Lukaschenko-Regime. Zum ersten Mal wollen west­eu­ro­päi­sche und ame­ri­ka­ni­sche Poli­tiker nicht mit diesem Regime spre­chen, son­dern mit der bela­ru­si­schen Oppo­si­ti­ons­be­we­gung. Es wurde ver­standen, dass es Oppo­si­tio­nelle als legi­time Gesprächs­partner gibt. Das ist unum­kehrbar. Rück­schläge gibt es natür­lich; wel­chen Preis das Wei­ter­ma­chen noch haben wird, ist nicht absehbar. Aber wir müssen jetzt trotzdem weitergehen!

T.D.: Sie erwähnen in Ihrem Buch die drei in Belarus exis­tie­renden Spra­chen: Bela­ru­sisch, Rus­sisch und Trass­janka (eine bela­ru­sisch-rus­sisch dia­lek­tale Misch­sprache) sowie deren sich ver­än­dernde Bedeu­tung. Könnte eine gemein­same Sprache ein ver­bin­dendes Ele­ment der Frei­heits­be­we­gung werden?

V.A.: In der Oppo­si­ti­ons­be­we­gung finden viele unter­schied­liche Pro­zesse gleich­zeitig statt, aber sie haben nicht unbe­dingt etwas mit einer gemein­samen Sprache zu tun. Iden­ti­fi­ka­tion und Soli­da­rität kommt in Belarus m. E. nicht über Sprache zustande. In den letzten Jahr­zehnten haben zwar viele Oppo­si­tio­nelle Bela­ru­sisch gespro­chen, in der aktu­ellen Bewe­gung aus alten und jungen Men­schen war das aber gerade nicht die wich­tigste Sprache. Die vielen jungen Pro­tes­tie­renden haben eher Rus­sisch gespro­chen. Aktuell geht es (noch) um Inhalte wie freie Wahlen. Die Frage der spä­teren Lan­des­sprache in einem demo­kra­ti­schen Staat war bis jetzt noch kein Thema. Aller­dings hat Bela­ru­sisch eine Auf­wer­tung erfahren. Früher war es, genauso wie Trass­janka, die Sprache der Unge­bil­deten und der Natio­na­listen, in letzter Zeit ist das Bela­ru­si­sche „in Mode“ gekommen, gilt als stil­voll. Bela­ru­sisch zu spre­chen, bedeutet, sich zur bela­ru­si­schen Iden­tität zu bekennen und gegen das Regime zu sein.

T.D.: In Ihrem Buch betonen Sie, dass die Bewe­gung keine Anführer_innen hat, son­dern „alles von jedem ein­zelnen von uns abhängt.“ Können Sie sich auch vor­stellen, dass sich einige Belarus_innen leichter mit einem füh­renden Oppo­si­tio­nellen iden­ti­fi­zieren könnten, der ihnen ein kon­kretes Zukunfts­mo­dell anzu­bieten hat? 

V.A.:  Im Gegen­teil glaube ich tat­säch­lich, dass viele Belarus_innen jetzt keine/n starke/n Anführer_in haben wollen. Sie haben vor 27 Jahren einen gewählt mit der Folge, dass sie seitdem in einer Auto­kratie leben. Das ist eine Erfah­rung, die es schwer macht, wieder an eine Person zu glauben. Es gibt die Gefahr, dass die Macht der gesell­schaft­li­chen Kon­trolle ent­gleitet und es wieder einen Dik­tator geben kann. Wir wollten 2020 faire Wahlen abhalten, wollten uns äußern, konnten es aber nicht, unsere Stimmen wurden unter­drückt. Viktor Bab­a­riko ist seit über einem Jahr im Gefängnis. Er wäre viel­leicht einer, der ein demo­kra­ti­scher Führer werden könnte. Meine Utopie ist, dass wir das Sta­dium zwi­schen Auto­kratie und Demo­kratie über­springen, dass wir, ohne die Erfah­rungen der poli­ti­schen Ent­wick­lung West­eu­ropas erst nach­zu­holen, gleich am Ziel der Demo­kratie z. B. nach Schweizer Vor­bild ankommen. Aber dazu sind viel­leicht nicht alle bereit.


T.D.: Die poli­ti­sche Situa­tion hat sich mit der erzwun­genen Zwi­schen­lan­dung der Ryanair-Pas­sa­gier­ma­schine
am 23. Mai 2021 in Minsk und der damals erfolgten Ver­haf­tung des Oppo­si­ti­ons­ak­ti­visten Raman Pra­ta­sevič [Roman Protas­se­witsch] und seiner Freundin Sofija Sapega deut­lich zum Schlech­teren ver­än­dert. Der Ein­satz eines OSZE-Son­der­be­auf­tragten für die Wah­rung der Men­schen­rechte in Belarus, ein fried­li­cher Dia­log­pro­zess nach Genfer Modell, die Anklage von Schlüs­sel­fi­guren des Lukaschenko-Regimes vor dem Euro­päi­schen Straf­ge­richtshof sowie här­tere Wirt­schafts­sank­tionen werden gefor­dert. Aus­blei­bende Gene­ral­streiks in Belarus stoßen auf Ver­wun­de­rung im „Westen“. Was erwarten Sie per­sön­lich von der EU und den USA?

V.A.: Nicht weg­zu­sehen, am Ball zu bleiben, zu erkennen, dass Belarus kein fernes Land, son­dern ein Nachbar ist, der über ein in Betrieb befind­li­ches Atom­kraft­werk in nur 50 Kilo­me­tern Ent­fer­nung von der Grenze zur EU ver­fügt. Tscher­nobyl vor 35 Jahren hat gezeigt, wozu ein Reak­tor­un­fall führen kann. Belarus mit einer unbe­re­chen­baren Regie­rung ist für die EU ein schlechter und gefähr­li­cher Nachbar. Die Ent­füh­rung des Ryanair-Flug­zeugs hat deut­lich gemacht, welche direkte Gefahr für EU-Bürger vom Lukaschenko-Regime aus­geht. Trotzdem kommen nicht viel deut­li­chere Zei­chen aus Europa, ich habe mich gefragt, warum nicht mehr Hal­tung bei der wich­tigen Frage der Ver­let­zung von Men­schen­rechten gezeigt wird. Men­schen­rechte sind für die EU eigent­lich wichtig, aber das öko­no­mi­sche Denken bewirkt, dass der Außen­handel mit Belarus und natür­lich Russ­land ein ent­schei­dender Faktor ist. Die west­eu­ro­päi­schen Regie­rungen sind in eine Falle geraten, sie machen sich selbst zu Sklaven eines kapi­ta­lis­ti­schen Profitdenkens.

T.D.: Die Exporte von Deutsch­land nach Belarus betrugen 2020 laut Sta­tis­ti­schem Bun­desamt nur 0,1%, Importe von Belarus ledig­lich 0,05% des Gesamt­vo­lu­mens. Würden Sie sagen, wenn man auf das Geschäft mit Belarus ver­zich­tete, dass dadurch wirk­lich das Regime zum Ein­lenken gebracht werden könnte? 

V.A.: Das könnte viel­leicht funk­tio­nieren, aber ich kann mich dazu nicht fach­kundig äußern. Ein Grund­pro­blem bleibt ohnehin: die Frage der Kom­mu­ni­ka­tion. Es wäre schwierig, der Bevöl­ke­rung zu ver­mit­teln, dass die Sank­tionen nur gegen die Regie­rung, die gegen Men­schen­rechte ver­stößt, gerichtet sind, und nicht gegen sie selbst. Die rus­si­sche Pro­pa­ganda würde das ganz anders erklären, womit die Pro­ble­matik leider kom­plex bleibt.

24. Juni 2021: Wirt­schafts­sank­tionen in Kraft
Die EU hat beschlossen, Wirt­schafts­sank­tionen gegen Belarus in Kraft zu setzen. Die Straf­maß­nahmen treffen unter anderem die Kali- und Dün­ge­mit­tel­in­dus­trie sowie Tabak- und Mine­ral­öl­un­ter­nehmen und den Zugang zum Kapi­tal­markt der EU.

T.D.: Vitalij Alek­se­jonok, vielen Dank für das Gespräch!

V.A.: Ich danke Ihnen für Ihr Inter­esse. Das ist nicht selbstverständlich.

Timo Daus führte das Gespräch im Juni 2021.

Wei­ter­füh­rende Links:

Infor­ma­tionen zu den poli­ti­schen Gefan­genen auf der Seite von “VIASNA human rights center”: https://prisoners.spring96.org/en

Infor­ma­tionen zu den EU-Wirt­schafts­sank­tionen: https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.belarus-eu-setzt-wirtschaftssanktionen-in-kraft.7d4cbca2-0e95-4d7b-8abc-2c06d3c7e419.html