Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

„Erlöse mich und bewahre“

Aus der Serie „A One-Sto­ried Country “, 2020

 

Cuprum ist ein che­mi­sches Ele­ment mit dem Ele­ment­symbol Cu und der Ord­nungs­zahl 29. Dank seiner her­vor­ra­genden Wärme- und elek­tri­schen Leit­fä­hig­keit ist dieses Halb­edel­me­tall in vielen Tech­no­lo­gien, die unser modernes Leben kom­for­tabel machen, uner­setzbar. Die Ent­de­ckung des Kup­fers hat die Mensch­heits­ge­schichte nach­haltig geprägt, denn Kupfer war das erste Metall, das der Mensch auf viel­fäl­tige Weise ver­wen­dete. Der Kup­fer­bergbau führte noch vor dem Eisen­bergbau zur Grün­dung kleiner Sied­lungen im Süd­ural, die sich im Laufe der Jahr­hun­derte in diesem Gebiet ent­wi­ckelten und die Region prägten. Auch heute formt das stadt­bil­dende Unter­nehmen „Kara­bašmed‘“ die Umwelt. Seit 1910 wird dort aus dem Kup­fer­kon­zen­trat Roh­kupfer gewonnen. Das Schwe­fel­di­oxid, das bei der Bear­bei­tung des Kup­fer­erzes frei­ge­setzt wird und sich mit Regen mischt, ver­än­dert die Land­schaft inner­halb und außer­halb der Stadt Karabaš zur Unkennt­lich­keit. Svet­lana Bierl (Text) und Chris Bierl (Foto­gra­fien) doku­men­tieren in A One-Sto­ried Country die bizarren Land­schafts­bilder und erkunden ihre Geschichte. Novinki ver­öf­fen­ticht den Foto­essay über Karabaš als Pre­view für das im “The Velvet Cell Verlag” erschei­nende Buch sowie eine Ausstellung.

 

 

Das ist etwas Außer­ir­di­sches. Das erste, woran ich denke, als ich in Karabaš ankomme. Rechts von mir erhebt sich einige Meter hoch eine schwarze Halde. Bereits in den ersten Minuten wird mir bewusst, dass dieser Ort anders ist, als ich mir vorgestellt habe. Ich fahre die Haupt­straße ent­lang und beob­achte die Pas­santen. Die Russen haben einen beson­deren Blick, einen Blick, der voll von Skepsis und Miss­trauen ist. „Was hast du hier zu suchen?“ – kann man darin lesen. Tat­säch­lich, Karabaš stellt keinen beson­deren Ort dar, an dem man seinen Urlaub gerne ver­bringen möchte. Es ist kein Ort, den es, wenn man aus Deutsch­land kommt, zu besu­chen gilt. Was habe ich hier also zu suchen? Viele ver­glei­chen Karabaš mit einer Mars- oder Mond­land­schaft, andere mit Island. Jeder, der im Internet nach Karabaš sucht, bekommt sur­reale Bilder von Bergen und Flüssen zu sehen und, was nicht weniger wichtig ist, Ange­bote von Exkur­sionen in diese Stadt. Karabaš ist in der Liste der TOP-Sehens­wür­dig­keiten der Region Čel­ja­b­insk. Viel­leicht war das der Aus­löser meines Inter­esses oder eher die Neu­gierde ange­sichts des Paradox‘. Auch der Berg Poklon­naja steht in der Liste der Must See Orte in Karabaš. Den Namen hat dieser Berg wegen des an seiner Spitze angeb rachten 12 Meter hohen Kreu zes bekommen, das im Jahr 2005 auf­ge­stellt wurde. Neben dem Kreuz sieht man dort eine rie­sen­große weiße Schrift „Erlöse mich und bewahre“. Es scheint, dass das ein­zige, was diese Ort­schaft zusam­men­hält, der Glaube ist. Der Glaube an Gott, der Glaube an die Regie­rung, der Glaube, dass es eines Tages besser kommen wird, man muss nur noch ein wenig mehr Geduld haben. Der Glaube daran, dass man glauben muss, sonst fährt alles zur Hölle. Aber der stärkste Glaube ist der Glaube an Märchen.

 

 

In den 1990er Jahren wurde Karabaš von der UNESCO zur schmut­zigsten Stadt der Welt erklärt, obwohl der Haupt­ver­wal­tungs­be­amte das vehe­ment leugnet. Die Aus­sage der UNESCO scheint aber nicht grundlos zu sein. Man kann kaum ein­atmen ohne dabei zu husten, und schon nach ein paar Stunden in dieser Stadt brennen die Augen und der Hals kratzt, und wenn man auf dem Poklon­naja Berg neben dem Kreuz steht und das volle Pan­orama der Stadt über­blickt, ver­steht man. Links blasen die Schorn­steine des „Kara­bašmed‘“ den dunklen Rauch aus, gera­deaus stehen schiefe Holz­häuser und hinter ihnen Chruščёovki, in denen in Glauben und Hoff­nung die Ein­wohner von Karabaš wohnen. Rechts befindet sich dieser schwarze Berg aus den Pro­duk­ti­ons­ab­fällen, den die Men­schen eigen­händig errichtet haben. Dieser Berg ist wie ein Grab­stein auf dem Grab der gestor­benen Holzhäuser.

 

 

Tagaus tagein gehen die Ange­stellten des Kup­fer­werks zur Arbeit, um ihren Bei­trag zur Ent­wick­lung der rus­si­schen Indus­trie zu leisten. Eine Werk­ma­schine steu­ernd, ein­fach einen Knopf drü­ckend oder viel­leicht bloß am Tisch mit Papier­sta­peln sit­zend, ver­än­dern sie die Rea­lität, die sich hinter den Wänden dieses Werkes befindet, und wan­deln sie in etwas um, worauf sie später stolz sein werden. Oder viel­leicht ist es ein wei­terer Glaube, der dem Leben etwas Sinn gibt. Das Gefühl, wichtig zu sein. Das Gefühl, etwas zu bewirken. Diese Euphorie, die ent­steht, wäh­rend man das Gemein­same in das Eigene umwan­delt. Die künst­li­chen Berg­land­schaften domi­nieren die natür­li­chen. Neben den alten Seen werden die neuen erschaffen, obgleich man in ihnen auch nicht mehr schwimmen kann. Die Flüsse werden gelenkt in die Rich­tung, die dem Men­schen heute passt, und morgen… soll der Fluss viel­leicht woan­ders fließen. Aber das ent­scheidet der Mensch erst morgen, denn heute ist noch nicht zu Ende. Man muss nicht so viel an das Morgen denken. Denn das Denken an Morgen kann diese End­los­schleife, die uns schon so nah und ver­traut geworden ist, zerstören.

 

 

„Schau, da vorne gab es früher einen Bir­ken­wald, in dem die Pilze nur so sprossen.“ – erzählt Saša, der früher in dem Werk arbei­tete und nun in Rente ist. Aus dem Fenster seines Hauses ist dieses 12 Meter hohe Kreuz zu sehen und das Haus selbst steht auf einer Mine, die vor langer Zeit geschlossen, aber nicht kon­ser­viert wurde. Saša kam nach Karabaš aus der Nach­bar­stadt Zla­toust für zunächst drei geplante Jahre, blieb jedoch für 30. Nun hat sein Sohn seine Schicht im Werk über­nommen. „Hast du schon unseren Fluss gesehen? Schön, nicht wahr?“ Im Ver­gleich zu anderen Flüssen in der Čel­ja­b­insk Oblast‘ lenkt der Fluss Sak-Ėlga die Auf­merk­sam­keit mit seiner unge­wöhn­li­chen Was­ser­farbe auf sich, oran­gerot teil­weise gelb­braun. Ungern erin­nere ich mich in diesem Moment an den Che­mie­un­ter­richt. Die ganze Schön­heit des Flusses kann man bereits am Stadt­rand betrachten. Dem, der noch ein biss­chen weiter aus der Stadt fluss­ab­wärts fährt, eröffnet sich die sich stetig ver­än­dernde Landschaft.

 

 

Der orange Fluss wird durch das blasse Moor­wasser abge­löst, das alles Leben­dige unter sich für immer begräbt. Es sind die Tailings – die kleinen fein­kör­nigen Rück­stände nach der Auf­ar­bei­tung von rohen Erzen. Sie sollten in Form von Schleim in einem Teich gela­gert werden, sickern jedoch per­ma­nent in den Boden und ziehen mit dem Fluss, der zusätz­lich mit sons­tigen Abwäs­sern „belastet“ wird, tal­wärts. Nach nur sieben Kilo­me­tern trifft diese Tailings­brühe auf den Fluss Miass, der seinen Anfang auf 600 Höhen­me­tern an der Ost­flanke des Süd­li­chen Urals nimmt und durch Berg­quellen immer wieder ver­grö­ßert wird. Gemeinsam münden sie ins Arga­zinskoe-Reser­voir, das nicht nur als eine Was­ser­quelle für Čel­ja­b­insk, son­dern auch als ein Ver­gnü­gungsort für Erho­lung­su­chende und Fischer gilt. Als Tailings kann man nicht nur diese Auf­ar­bei­tungs­reste, son­dern auch die Gescheh­nisse bezeichnen, die sich aus der Ver­gan­gen­heit durch die Gegen­wart in die Zukunft dahinschleppen.

Kara­bašmed‘ wurde im Jahr 2004 vom Unter­nehmen „Rus­sian Copper Com­pany“ über­nommen, das für sich die Moder­ni­sie­rung der Tech­no­lo­gien sowie das Schonen der Öko­logie pro­kla­miert und dessen Leit­bild ziem­lich vor­bild­lich zu sein scheint. Das Beachten von Umwelt­schutz, Arbeits­schutz und der Betriebs­si­cher­heit sind die Haupt­punkte, die einem Unter­nehmen den Weg in die Zukunft sichern sollten. Das zusätz­liche Enga­ge­ment bei der Ver­bes­se­rung der Stadt­in­fra­struktur gibt noch ein paar extra Punkte für das gute Karma. Seit sech­zehn Jahren wird dieser Wandel im Leben von Karabaš beschworen. Die Frage ist nur, wie soll dieser Ort aus­sehen? Ein Ort, der die Selbst­ver­sor­gung mit Obst und Gemüse rea­lis­tisch macht? Ein Ort, an dem man seine Gesund­heit nicht für ein biss­chen finan­zi­elle Sicher­heit ein­tauscht? Ein Ort, an dem man über 50 Jahre alt werden kann? Ein Ort, der zukunfts­fähig ist? Wie vieles andere in Russ­land bleiben diese Fragen unbe­ant­wortet und geben Raum für Eigen­in­ter­pre­ta­tionen. Es bleibt einem nichts anderes übrig als daran zu glauben, dass die Hand­lungen des stadt­bil­denden Unter­neh­mens nicht allzu oppor­tu­nis­tisch sind und die Einwohner_innen nicht ihrer Zukunft beraubt werden. Bis­lang sind diese Hand­lungen genauso ‚trans­pa­rent‘ wie das Wasser im Fluss Sak-Ėlga…

 

 

Ich ver­lasse die Stadt durch die schwarze Straße, die wahr­schein­lich mit den Auf­ar­bei­tungs­resten des Erzes bedeckt ist, und frage mich, worin besteht denn dieser Glaube? Ein Glaube an die Ver­än­de­rung? Ein Glaube an die längst gege­benen Ver­spre­chen? Oder ein Glaube an die Zukunft? Aber was für eine Zukunft wird es sein? Eine helle oder eine dunkle wie der mit schwarzem Staub bedeckte Schnee?

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Ein Text von Svet­lana Bierl mit Foto­gra­phien von Chris Bierl.