Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

“Eval­ju­cija” – ein neues Wort in der neuen Sprache der Belaruss_innen

Ein Inter­view mit dem Dichter Dmitrij Strocev

 

Dmitrij Strocev (geb. 1963 in Minsk) gehört zu den wich­tigsten Stimmen der rus­sisch­spra­chigen Lyrik in Belarus und Russ­land. Nach einem Archi­tek­tur­stu­dium beginnt er Ende der 1980er Jahre Gedichte zu schreiben. Autor von zehn Lyrikbänden, “Russ­kaja Pre­mija” für Poesie (2007), Her­aus­geber der Lyrik­reihe »Minsker Schule«, Mit­glied des Bela­rus­si­schen Schrift­stel­ler­ver­bandes und PEN-Zen­trums, Kurator des Kul­tur­fes­ti­vals “Pamežža” (“Grenz­land”). Strocev ist seit vielen Jahren der Bür­ger­rechts­be­we­gung in Belarus ver­bunden, poe­ti­sche Kom­men­tare zu den Ver­hält­nissen und Ereig­nissen in seinem Hei­mat­land nehmen einen wich­tigen Teil seines Schaf­fens ein. Die jüngsten Pro­teste in Minsk und ganz Belarus hat er hautnah als Demons­tra­ti­ons­teil­nehmer und scharf­sin­niger Beob­achter der Ereig­nisse mit­er­lebt und dich­te­risch und publi­zis­tisch begleitet. Das fol­gende Inter­view mit Dmitrij Strocev (D. S.) erschien am 25. August 2020 in der “Ukrainska Pravda”, Inter­viewerin ist Larissa Dani­lenko (L. D.), eine ukrai­ni­sche Journalistin.

БЕЛОРУССКАЯ МЕДИТАЦИЯ

терпение

время работает на нас

единый ритм страны

вдох
выдох

вдох выдох

с драконом говорить нельзя
на языке насилия

на его языке

только психиатр

не убивать

только долгая жизнь

на ферме
на свиноферме

где цмок у себя
как дома

говорить с людьми

с чиновниками
с военными
с врачами

с людьми

говорить между собой
искать общий язык

новый

с доверием и надеждой
с любовью

дышать полной грудью
одной грудью

всей страной

вход выдох

вдох
выдох

время работает на нас

терпение

 

Minsk, 05.06.2020

BELARUSSISCHE MEDITATION

geduld

die zeit arbeitet für uns

der ver­einte rhythmus des landes

ein­atmen
ausatmen

ein­atmen ausatmen

mit dem dra­chen darf man nicht
in der sprache der gewalt sprechen

in seiner sprache

nur der psychiater

nicht töten

nur ein langes leben

auf der farm
auf der schweinefarm

wo sich das ungeheuer
zuhause fühlt

mit den men­schen sprechen

mit den beamten
mit den militärs
mit den ärzten

mit den menschen

mit­ein­ander sprechen
eine gemein­same sprache finden

eine neue

mit ver­trauen und hoffnung
mit liebe

aus voller brust atmen
aus einer brust

das ganze land

ein­atmen ausatmen

ein­atmen
ausatmen

die zeit arbeitet für uns

geduld

 

Über­setzt aus dem Rus­si­schen von Andreas Weihe.

Mit freund­li­cher Erlaubnis des Auto­nomen Forums für Poesie “Signa­turen”.

Larissa Dani­lenko: Leckere süße Kon­dens­milch, intakte Straßen, eine Insel der Sta­bi­lität, ein starker Prä­si­dent und Wirt­schafts­fach­mann – das sind die wich­tigsten Mythen über Lukašėnkas Belarus. Wer nicht ver­folgt hat, was in dem Land wäh­rend der letzten Jahr­zehnte pas­siert ist, dem könnten die Pro­teste von heute wie Blitz und Donner aus hei­terem Himmel vor­kommen. Wie über­ra­schend waren sie für die Bela­russen selbst?

 

Dmitrij Strocev: Pro­teste hat es in Belarus prak­tisch von dem Moment an gegeben, als Lukašėnka an die Macht kam. Und die Ant­wort darauf war immer Gewalt. All die 26 Jahre.

Von der Mitte der 1990er Jahre an wurde es brutal. Man hat die Men­schen mit Stie­feln trak­tiert, ihnen den Bauch auf­ge­rissen. Es gab mehr­fach Momente, in denen sich die Lage zuspitzte. In den Jahren 2006 und 2010 war der Wider­stand enorm.

Aber das waren immer Pro­teste bestimmter Oppo­si­ti­ons­gruppen und ihrer Sym­pa­thi­santen. In der Rhe­torik der Macht­haber waren das stets vom Westen finan­zierte ter­ro­ris­ti­sche Orga­ni­sa­tionen, die es zu besiegen galt.

Aber unge­achtet des auto­ri­tären Sys­tems ver­än­derte sich das Land über die gesamten 26 Jahre. Diese Ver­än­de­rungen blieben der euro­päi­schen Öffent­lich­keit ver­borgen und wurden auch von den Bela­russen selbst nicht aus­rei­chend reflektiert.

All diese Jahre war das Volk auf der Suche nach einer Sprache für seinen Pro­test, nach einer Sprache für seine Würde. Jetzt voll­zieht sich die Geburt einer neuen Gemein­schaft. Wie lange das dauern wird, wissen wir nicht, aber das ist der Stand der Dinge.

 

L.D.: Was zeichnet die gegen­wär­tigen Pro­teste aus? Nur ihr Ausmaß?

 

D.S.: Ver­stehen Sie, was jetzt in Belarus pas­siert, das ist kein gewöhn­li­cher Kampf einer Oppo­si­tion gegen eine bestimmte Macht. Bis vor kurzem war es das, jetzt ist es anders.

Jetzt gibt es eine echte Oppo­si­tion, eine Gemein­schaft des bela­rus­si­schen Volkes, die enorm gewachsen ist. Die Prä­si­den­ten­wahl und die Fäl­schung ihrer Ergeb­nisse sind zu einem Faktor geworden, der die Gesell­schaft eint. Der Macht steht ein Volk gegen­über, das seine neue, eigene Qua­lität ver­spürt – unge­fähr so, wie ein Mensch seinen Körper spürt.

 

L.D.: Worin noch bestehen die Beson­der­heiten der bela­rus­si­schen Proteste?

 

D.S.: In der Fähig­keit der blitz­ar­tigen Soli­da­ri­sie­rung an jedem belie­bigen Ort. Es gibt in Belarus nur andert­halb tau­send OMON-Poli­zisten. Wenn Pro­teste überall auf­flammen, schaffen sie es nicht. Ver­aus­gaben sich mit all ihrem Eisen. Sie werden von einem Ende der Stadt ans andere geworfen. Ein­wohner von Minsk haben beob­achtet, wie sie tags­über, ohne ihre Schutz­montur abzu­legen, in der Stadt schlafen.

Man kann gegen eine Oppo­si­tion kämpfen, die über­schaubar ist. Gegen das ganze Volk zu kämpfen, ist unmöglich.

Heute gibt es ein bela­rus­si­sches Volk – und es gibt die Dra­chen­haut, den Panzer, den die Gesell­schaft abwerfen muss. Das neue Selbst­ge­fühl wird soli­da­risch erlebt.

 

Frauen in Weiß, 12. August, ©Anna Stro­ceva und Dmitrij Strocev

 

L.D.: Was hat das Her­an­reifen dieses Gemein­schafts­ge­fühls beschleunigt?

 

D.S.: Ers­tens, die Nähe zu Europa, die freie Inte­gra­tion. Die Men­schen reisen, arbeiten, wo sie wollen, haben freien Zugang zu Infor­ma­tionen aus der ganzen Welt.

Zwei­tens, die Geburt der bela­rus­si­schen Staat­lich­keit. Ein Staat Belarus hat nie exis­tiert. Alle Ver­weise auf das Groß­fürs­tentum Litauen, auf die Rzecz­pos­po­lita, auf das Rus­si­sche Impe­rium helfen da nicht weiter.

Irgend­wann musste das einmal geschehen. Jetzt geschieht es vor unseren Augen.

Zu einem wei­teren Faktor ist das geworden, was ich in meinen Gedichten “Ver­trauen auf Gewalt” nenne. Die Men­schen, die auf der bela­rus­si­schen Erde leben, haben jahr­hun­der­te­lang Gewalt erfahren, in ver­schie­denen Formen. Eine christ­liche Grund­hal­tung hat sich hier nie durchgesetzt.

In Belarus war immer ein stam­mes­ge­schicht­li­ches Hei­dentum prä­gend, in dem es keine Begriffe von Gut und Böse, von Gerech­tig­keit gab. Dafür hat sich die Vor­stel­lung von Gewalt und Stärke bewahrt, die alles regeln.

 

L.D.: Wer die Macht hat, der hat auch die Wahrheit?

 

D.S.: So unge­fähr. Um nicht weiter unter der Macht zu leiden, muss man sie recht­zeitig akzep­tieren. Lukašėnka hat das sofort gespürt.

Er hat seine Kom­mu­ni­ka­tion mit der Gesell­schaft auf diesem heid­ni­schen Fun­da­ment gegründet. Das ist ihm lange geglückt. Pro­teste hat er in Blut erstickt. Er hat an der Todes­strafe fest­ge­halten und beharrt unver­blümt auf dem Prinzip der Gewalt als letztem und ein­zigem Argument.

Erst heute über­winden die Bela­russen ihre Abhän­gig­keit von der Macht, von der sie ver­ge­wal­tigt wurden.

 

L.D.: Die muss in Gefan­ge­nen­trans­por­tern, in Poli­zei­sta­tionen und Ret­tungs­stellen über­wunden werden. Man gewinnt den Ein­druck, dass Lukašėnka vor­be­reitet war und die Ereig­nisse im August 2020 ihn nicht über­raschten. Ist das so?

 

D.S.: Lukašėnka erkannte, dass ein ernst­hafter Pro­test her­an­ge­reift war. Er berei­tete alles für eine gewalt­same Aus­ein­an­der­set­zung vor. Er erwar­tete sie.

Ein gewalt­samer Pro­test hätte Lukašėnka alle Trümpfe in die Hand gegeben. Seht, da haben sich Gesindel und Dro­gen­süch­tige zusam­men­ge­rottet, die wollen eine Rebel­lion anzet­teln, wollen die Gesell­schaft von ihrem sta­bilen Fun­da­ment stoßen.

Aber er bekam es mit einer “Eval­ju­cija” zu tun, einem Phä­nomen, das zu Beginn der Pro­teste ent­stand. Ein sehr wich­tiges Phä­nomen, ein sehr wich­tiges Wort, in dem nicht nur ein revo­lu­tio­näres, son­dern auch ein evo­lu­tio­näres Echo nach­hallt. Ein neues Wort in der neuen Sprache der Belarussen.

 

L.D.: Diesmal hat der Kampf um Unab­hän­gig­keit ein weib­li­ches Gesicht, sogar drei Gesichter: Svet­lana Tich­a­novs­kaja, Vero­nika Čep­kalo und Maria Koles­ni­kova. Die Bereit­schaft, sich um ein femi­nines Symbol zu scharen – könnte das den Ver­ge­wal­tiger aus dem Kon­zept bringen?

 

“Eva” von Chaim Sou­tine, Symbol des bela­rus­si­schen Pro­tests seit Mai 2020.

D.S.: Es ist das geschehen, womit Lukašėnka nicht gerechnet hat. Die “Eva” von Chaim Sou­tine, das teu­erste Gemälde im Land, ein Juwel aus der Samm­lung der Bel­gas­prom­bank (der Auf­sichts­rats­vor­sit­zende dieser Bank war bis zum Mai 2020 einer der Anführer der Oppo­si­tion, Viktor Bab­a­riko, der im Juni ver­haftet wurde. – Ukr. Pravda) wurde zum ersten weib­li­chen Symbol des bela­rus­si­schen Protests.

Das Gemälde zeigt eine ein­fache Frau, ein weib­li­ches Por­trät. Gleich nach der Ver­haf­tung Bab­a­rikos wurde das Bild kon­fis­ziert und in das Ver­fahren gegen ihn ein­ge­bracht. Aber es wurde im ganzen Land umge­hend ver­viel­fäl­tigt – auf T‑Shirts und Taschen, und bis zu den Wahlen wurde es zu einem Schlüs­sel­symbol der Proteste.

Lukašėnkas Mann­schaft reagierte darauf mit einem Schachzug, der das alles ersti­cken sollte. Viktor Bab­a­riko und Valerij Čep­kalo wurden von der Wahl aus­ge­schlossen. Nur Tich­a­novs­kaja wurde zugelassen.

 

L.D.: Warum wurde Tich­a­novs­kaja auf der Wahl­liste belassen?

 

D.S.: Weil Lukašėnka ein mas­ku­liner Führer ist. Eine Frau als Anfüh­rerin nimmt er ein­fach nicht wahr. Und begeht einen Fehler. Er ist davon über­zeugt, dass eine Haus­frau, die Fri­ka­dellen brät, sich nicht gegen ihn behaupten kann. Er äußert sich zu diesem Thema unge­niert, macht Scherze. Doch plötz­lich wird der von “Eva” vor­ge­ge­bene Ton, von Tich­a­novs­kaja beför­dert, vom ganzen Land auf­ge­nommen. Es kommt ein Pro­zess in Gang, den Lukašėnka nicht nur nicht ver­stehen, son­dern noch nicht einmal erkennen kann. An den er nicht glaubt.

Die Leiter in den Stäben der Kan­di­daten, die nicht zur Wahl zuge­lassen worden waren, ver­stän­digten sich sofort mit Svet­lana. So kam es zu einem weib­li­chen Triumvirat.

 

L.D.: Situativ, ohne System?

 

D.S.: Es geht nicht um die poli­ti­schen oder irgend­welche anderen Qua­li­täten dieser Frauen. Son­dern um das weib­liche Symbol, das sofort die ganze Gesell­schaft mobi­li­siert und geeint hat.

Nochmal: Lukašėnka ist ein Ver­ge­wal­tiger, ein mas­ku­lines Monster, er ist bereit, gegen Männer zu kämpfen, das kann er, darauf hat er sich vorbereitet.

Und da tau­chen plötz­lich drei Frauen auf, die umge­hend die Auf­merk­sam­keit und Sym­pa­thie der ganzen Gesell­schaft erobern.

Es ist nicht wichtig, was sie sagen. Wichtig ist ihr Bild, all die großen und kleinen Zei­chen, die sie setzen. Mit Herz­chen-Geste, erho­bener Faust und Vic­tory-Zei­chen beginnt das Tri­um­virat durchs Land zu reisen und Mahn­wa­chen zu orga­ni­sieren. Über ihnen klingt Tich­a­novs­kajas Stimme. Diese wird sehr vernehmbar.

Svet­lana ist keine Kunst­figur, kein Kon­strukt. Ich war bei einem ihrer Treffen mit der alten Oppo­si­tion anwe­send. Es gab einen Runden Tisch mit Per­sonen ihres Ver­trauens. Ich habe mir angeschaut, wie sie sich ver­hält, was sie sagt.

Sie sprach davon, dass sie nicht bereit sei für die Macht, dass das nicht “ihre Sache” sei – und das nahm die Men­schen noch mehr für sie ein.

 

L.D.: Stimmt es, dass die Fäl­schung der Wahl­er­geb­nisse diesmal wirk­lich bei­spiellos war?

 

D.S.: Ein Vor­fall, dessen Zeuge ich war: In meinem Wahl­lokal, in einer Minsker Schule, gab es durch­sich­tige Wahl­urnen. In der Urne waren alle Wahl­scheine auf eine bestimmte Weise gefaltet, als Zei­chen dafür, dass das Stimmen für Tich­a­novs­kaja waren.

Am Abend kamen die Leute zum Wahl­lokal und fragten nach den Ergeb­nissen der Stimm­aus­zäh­lung. Sie war­teten drei Stunden, dann raste ein rie­siger Bus mit OMON-Leuten vor die Schule. Die Men­schen wichen zurück. Die OMON-Poli­zisten liefen an den Men­schen vorbei, klet­terten über den Zaun und stürmten in das Gebäude. Eilig führten sie die Wahl­helfer heraus und fuhren mit ihnen weg.

Dafür gibt es nur eine Erklä­rung: Unter den Wahl­hel­fern waren Leute, die sich wei­gerten, die gefälschten Pro­to­kolle zu unter­schreiben. Die wurden einige Stunden lang bekniet, als man ihren Wider­stand nicht bre­chen konnte, brachte man sie weg, um zu ver­hin­dern, dass sie Kon­takt zu den Leuten auf­nahmen, die sich vor der Schule ver­sam­melt hatten.

Etwas später wurde klar, was im Stab von Tich­a­novs­kaja geschehen war. Der Stab erklärte, er werde bedroht. Das KGB reagierte wie geplant – es bot sich “zum Schutz” an.

Wäh­rend der Wahl war der Stab im Grunde in Haft genommen worden, er wurde von zwanzig Poli­zisten einer Spe­zi­al­ein­heit “bewacht”. Tich­a­novs­kaja kam in die Zen­trale der Wahl­kom­mis­sion und legte Beschwerden über gefälschte Stimmen vor. Man hatte auf sie gewartet. Sie wurde gezwungen, einen Text zu ver­lesen, den sie nicht ver­lesen wollte. Und dann schaffte man sie über die Grenze.

Sie wurde nicht aus dem Land her­aus­ge­lassen, son­dern depor­tiert, hin­aus­ge­worfen. Man war über­zeugt, dass das den Wider­stand bre­chen würde.

 

L.D.: Wenn Anführer aus dem Land geworfen werden, ist das Volk gewöhn­lich demo­ra­li­siert. Wie sich her­aus­ge­stellt hat, trifft das auf die Bela­russen nicht zu. Wie lässt sich das erklären?

 

D.S.: Die Bela­russen haben eine sehr inter­es­sante Geschichte, es gibt da einen Prä­zen­denz­fall. Am 9. März 1918 wurde auf dem Ter­ri­to­rium des heu­tigen Belarus die Bela­rus­si­sche Volks­re­pu­blik (Bela­rus­kaja Narod­naja Res­pu­blika, BNR) aus­ge­rufen, ihr höchstes staat­li­ches Organ war die Rada der BNR.

Vom Jahr 1919 an, nachdem die Bol­sche­wiken Minsk ein­ge­nommen hatten, setzte die Regie­rung der BNR ihre Tätig­keit in der Emi­gra­tion fort. Das ist eine bis heute exis­tie­rende Regie­rung, die älteste in Europa. Die Bela­russen erin­nern sich an sie, achten sie, hören auf ihre Meinung.

Laryssa Heni­jusch, die große bela­rus­si­sche Dich­terin, war 1943 Sekre­tärin der Rada der BNR. Der KGB ent­führte sie aus Prag, sie wurde ins sowje­ti­sche Belarus gebracht, man wollte sie zwingen, die sowje­ti­sche Staats­bür­ger­schaft anzu­nehmen. Bis zum Ende ihres Lebens tat sie das nicht, selbst nach sieben Jahren Lager­haft nicht.

Das ist keine Ant­wort auf die Frage: “Was wird morgen sein?”. Das illus­triert nur, dass es in Belarus eine Tra­di­tion und Akzep­tanz dafür gibt, wenn sich ein Anführer in der Emi­gra­tion, in der Ferne befindet.

 

L.D.: Als eine der unver­ständ­lichsten fried­li­chen Aktionen inmitten der blu­tigen Exzesse von Lukašėnka erscheint die Aktion “Frauen in Weiß”. Ist das Nai­vität? Ein schlauer tak­ti­scher Zug? “Schwach­sinn und Hel­denmut” (russ. sla­bo­umie i otvaga, ein im rus­sisch­spra­chigen Internet ver­brei­tetes Meme- A.W.) freier Künstler?

 

D.S.: Das ist die Fort­set­zung der weib­li­chen Linie des bela­rus­si­schen Pro­tests. Es schien, er wäre nach zwei Tagen Gemetzel, an denen der Gewalt nicht Ein­halt geboten werden konnte, erstickt worden.

Zu jeder Tages- und Nacht­zeit kann ein Gefan­ge­nen­trans­porter vor­fahren, und es können wahllos Men­schen fest­ge­nommen werden. Es kommt ihnen darauf an, nicht “Rädels­führer”, son­dern gewöhn­liche Men­schen zu ver­haften. Aus dem Alltag her­aus­zu­reißen. Damit ihnen die Angst unter die Haut kriecht.

Ich habe an der aller­ersten Mahn­wache auf dem Koma­rovskij-Markt teil­ge­nommen. Stellen Sie sich vor, neben dem Markt steht ein Gefan­ge­nen­trans­porter. Frauen in weißen Klei­dern kaufen Blumen und legen sie in einer Reihe auf den Boden. Ein Auto mit Blau­licht kommt vor­ge­fahren. Die Frauen stehen etwas ent­fernt, trauen sich nicht näher­zu­treten. Schließ­lich gehen sie vor meinen Augen zu den Blumen und stellen sich in einer Reihe auf. Der Gefan­ge­nen­trans­porter fährt plötz­lich weg, ihm nach das Milizauto.

Das Symbol der weib­li­chen Energie erfasst ganz Belarus. Die Bela­russen scherzen, in diesen Tagen wäre im Land der rote und der weiße Stoff aus­ge­gangen. Die Leute haben ihre weißen Kleider aus den Truhen geholt, selbst die­je­nigen, die nie Weiß getragen haben.

Das ist noch so ein Wunder, aus­ge­löst vom Eva-Kam­merton. Erst war da “Eva”, dann das Tri­um­virat, nun alle Frauen.

 

L.D.: Die Mär­sche der Frauen wurden nicht attackiert?

 

D.S.: Nein. Es kam etwas zum Vor­schein, das im Arche­typus der Bela­russen exis­tiert, das das Mas­ku­line des Ter­ror­ap­pa­rats neutralisiert.

In diesen schreck­li­chen, ver­kom­menen Gene­rälen regt sich beim Anblick der Frauen und Blumen etwas Mensch­li­ches. Viel­leicht spüren diese Unge­heuer, dass man sie in Stücke reißen würde, wenn sie auch nur eine der Mar­schie­renden anrühren.

Durch diese Bekun­dung – durch die “Frauen in Weiß” – ver­spürten selbst die Spe­zi­al­ein­satz­kräfte den leben­digen Atem der Gesell­schaft. Diese Drecks­kerle sahen die Men­schen durch einen weißen Filter. Danach schlossen sich Männer mit Trans­pa­renten den Frauen an. Rie­sige, viel­tau­send­köp­fige Mär­sche durch­flu­teten die Stadt.

 

L.D.: Stellen wir uns vor, Lukašėnka ver­löre morgen die Macht. Wer wird das Land führen? Tich­a­novs­kaja, für die die Macht “nicht ihre Sache” ist?

 

D.S.: Svet­lana hat Per­sonen ihres Ver­trauens um sich geschart, die mit Akti­visten, Spe­zia­listen auf ver­schie­denen Gebieten zusam­men­ar­beiten, die Pakete an Vor­schlägen haben. An dem Runden Tisch, bei dem ich zugegen war, hat Tich­a­novs­kaja gesagt: “Unter Ihnen ist ein Mensch, dank dessen ich mich ent­schlossen habe zu kan­di­dieren. Dieser Mensch hat viele Stunden lang mit mir gespro­chen, mich über­zeugt, mich beru­higt, mir bestimmte Dinge erklärt.”

Ich habe nicht das Recht, Namen zu nennen, aber, glauben Sie mir, das ist nicht irgendein spon­taner, heroi­scher Wunsch, das Land zu führen. Welche der Vor­schläge der Oppo­si­ti­ons­gruppen grünes Licht erhalten, weiß ich nicht.

Im Stab von Tich­a­novs­kaja ist schon ein Koor­di­nie­rungsrat gebildet worden, zu dem ange­se­hene Bela­russen gehören – Juristen, Wis­sen­schaftler, Öko­nomen, Ver­treter von Streik­ko­mi­tees, Schrift­steller. Man kann vom Beginn einer Periode der Dop­pel­herr­schaft im Land reden.

 

L.D.: In Momenten wie diesen ergreifen gewöhn­lich die­je­nigen die Initia­tive, die man das “Gewissen der Nation” nennt. Man hört ihre Stimmen heute nicht. Aus­ge­nommen der Appell von Svet­lana Alek­sievič an Lukašėnka, der vor ein paar Tagen über Face­book ver­breitet wurde. Wo sind all diese Men­schen und ihre Stimmen?

 

D.S.: Ich sage es ehr­lich – die Stimme von Svet­lana Alek­sievič ist nicht zu hören. Sie hat nichts Offi­zi­elles ver­laut­bart. Man wendet sich an sie, sie gibt irgend­welche Ant­worten, so wie ich Ihnen jetzt.

Das ist eine bezeich­nende Situa­tion. Svet­lana schweigt nicht des­halb, weil sie nichts zu sagen hätte. Und nicht des­halb, weil sie in ihrem Gemü­se­garten beschäf­tigt wäre. Das “Gewissen der Nation” ist erschüt­tert von dem, was das Volk sagt.

Mir scheint, wir alle hören jetzt zu, ver­stehen Sie? Das ist ein ganz beson­derer Moment. Darin liegt eine gewisse Demut, viel­leicht auch Beson­nen­heit. In diesem Schweigen ist keine Rat­lo­sig­keit, kein Erschrecken.

Die offi­zi­elle Oppo­si­tion ver­sucht jetzt, ihre Stimme wie­der­zu­ge­winnen, aber auch ihr gelingt das nicht.

 

L.D.: Lassen Sie uns über die musi­ka­li­schen Stimmen des Pro­tests sprechen.

 

D.S.: Mit der Musik ver­hält es sich fast genauso. Sie kennen Sergej Mich­alok, einen im gesamten post­so­wje­ti­schen Raum bekannten Rock­mu­siker, ein sehr aktiver Mann, und sehr, sehr bela­rus­sisch. Wo ist er jetzt? In der Ukraine! Zu Gast­kon­zerten. Seine Lieder sind hier nicht zu hören. Nicht eins von ihnen.

Durch die Straßen von Minsk liefen Demons­tra­ti­ons­züge mit Boom-Boxen, aus denen Musik dröhnte. Der pol­ni­sche Pro­test­song Mury wurde gesungen, “die Mauern stürzen ein” heißt es darin, über­setzt von Andrej Chad­a­novič. Dieses Lied erklingt. Aber die “Krieger des Lichts” von Mich­alok sind nicht zu hören.

Mich­alok passte gut zu der gewalt­samen Kon­fron­ta­tion auf dem Majdan. Aber hier bei uns funk­tio­niert das nicht. Es passt nicht zur herr­schenden Situation.

 

L.D.: Aber Wiktor Zojs “Ich will Ver­än­de­rungen” har­mo­niert mit drei­ßig­jäh­riger Ver­spä­tung plötzlich?

 

D.S.: Mir ist ein­ge­fallen, warum. Zoj war ein Kind der Pere­stroika, in seinen Lie­dern gibt es diesen Drang nach Ver­än­de­rungen, sie rufen nicht zu gewalt­samer Kon­fron­ta­tion auf, in ihnen drückt sich der all­ge­meine Hunger nach Frei­heit aus.

Der Aus­gangs­punkt ist ein anderer. Das ist kein infan­tiler oder schwa­cher Punkt. Son­dern ein­fach ein anderer. Es gibt genü­gend Wille und Mut, aber eine bestimmte Grenze wird nicht über­schritten, das wäre für Belarus ein Fehler. Des­halb machen wir den Schritt nicht, den man von uns erwartet.

 

Dmitrij Strocev beim Pro­test­marsch gegen Wahl­fäl­schungen und Poli­zei­ge­walt (rechts), in Minsk am 30.08.2020, ©Alek­sandr Idel’čik

 

L.D.: Das Land durch Intui­tion ein­nehmen, die Schergen mit Blumen aufhalten…

 

D.S.: Rational lässt sich nichts aus­richten. Gar nichts. Sie haben alle logi­schen Schritte ein­kal­ku­liert und würden sie von vorn­herein mit här­testen Maß­nahmen unter­binden. Den­noch geschehen bestimmte Dinge, denen gegen­über sie hilflos sind.

 

L.D.: Gibt es Anzei­chen dafür, dass das alte System versagt?

 

D.S.: Ich habe keine große Erfah­rung im Umgang mit Ver­tre­tern der Macht. Was ich sagen kann ist: In der UdSSR wurde die Glie­de­rung der Gesell­schaft in Stände zer­stört, es wurde ein eph­emerer sowje­ti­scher Mensch erschaffen.

Nach dem Zusam­men­bruch der Sowjet­union kam es überall zu unter­schied­li­chen Ent­wick­lungen. In Mit­tel­asien, zum Bei­spiel, wurden die Stände zügig wiederhergestellt.

In Belarus wollte Lukašėnka den sowje­ti­schen Men­schen bewahren. Und eine Macht­elite schaffen, die vom Volk ernährt und vor Ein­dring­lingen von außen geschützt würde.

Der Aufbau der Macht­struk­turen, der OMON-Ein­heiten und anderer, ging auf ganz bestimmte Weise vor sich. Man rekru­tierte Jungen aus den Kin­der­heimen, für die Lukašėnka bis an ihr Lebens­ende ihr “Väter­chen” sein würde.

Der Beam­ten­ap­parat ist nach dem Prinzip der Vet­tern­wirt­schaft gebildet worden. Doch zu Beamten werden Men­schen aus dem Volk, Spe­zia­listen, die etwas bewegen können und nicht ein­fach parasitieren.

Ihnen ist es zu danken, dass sich kein wirk­li­cher Stand, keine Schicht ent­wi­ckelte, unge­achtet der Anstren­gungen Lukašėnkas. Seine Idee erwies sich als absolut lebensfern.

In Minsk gibt es einen Mann, Pawel Latuschko, der eine Zeit lang Kul­tur­mi­nister war, dann Bot­schafter in Frank­reich, in seiner letzten Funk­tion war er Direktor des Minsker Janka-Kupala-Theaters.

Jetzt hat Pawel die Pro­teste des Thea­ters gegen die Gewalt im Land ange­führt. Vor kurzem wurde er seines Direk­to­ren­pos­tens ent­hoben. Darauf reichten alle Mit­ar­beiter des Thea­ters ihre Kün­di­gung ein. Alle. Er schien ein Beamter zu sein, ein erfolg­rei­cher dazu. Und erwies sich als freier Mensch, nicht abhängig vom System.

Ich ver­mute, dass es in Lukašėnkas Umge­bung Leute gibt, die sich als Teil des Volkes fühlen. Dar­unter auch Mili­tärs, Leute aus dem Innenministerium.

 

L.D.: Inwie­weit ist sich Lukašėnka dessen bewusst, dass das von ihm errich­tete System ihn “abzu­schüt­teln” droht?

 

D.S.: Kürz­lich wurde im Internet dis­ku­tiert, warum Lukašėnka seinen Sohn zu einem Mee­ting in einer Fabrik mit­ge­nommen hätte. Er wusste, dass man ihn beschimpfen, “Hau ab!” rufen und ihm unflä­tige Flüche an den Kopf werfen würde.

Es wird gemut­maßt, dass er pani­sche Angst um ihn hat. Dass der Tyrann bereits ganz einsam ist. Wenn er den Sohn ohne Auf­sicht zurück­lässt, könnte man den sofort als Geisel nehmen.

Wir wissen nichts über Lukašėnka, aber es ist eine Tat­sache, dass schon Stimmen der von ihm begüns­tigten Leute laut werden, die sich gegen seine Dik­tatur auflehnen.

Lukašėnkas Macht­po­si­tion schmilzt dahin. Der Panzer geht zuse­hends in die Brüche.

 

L.D.: Hat es wirk­lich einen Wechsel von Sicher­heits­kräften auf die Seite der Pro­tes­tie­renden gegeben? Oder ist das ein revo­lu­tio­närer Mythos?

 

D.S.: Das ist kein Mythos. Eine Erschei­nung, die all­mäh­lich her­an­reift. Wie die Streiks. Bei uns hat es nie Streiks gegeben, das fängt gerade erst an. Ebenso wie die Losungen “Hau ab!”, “Lukašėnka in den Gefan­ge­nen­trans­porter!”, die gedrech­selten Flüche, die ihm die Arbeiter auf Mee­tings in den Fabriken ins Gesicht schreien.

Durch die Städte ziehen klei­nere Gruppen von Men­schen, ein­ge­hüllt in weiß-rot-weiße Flaggen, an den Mauern des KGB-Gebäudes kleben Protestplakate.

Tags­über sieht man in Minsk keine OMON-Leute. Sie kommen nur nachts heraus. Die Macht­haber ver­lieren die Initiative.

 

L.D.: Dabei schweigt die Armee.

 

D.S.: Das Militär ist nicht gegen Lukašėnka auf­ge­treten. Aber wir haben auch keine Akti­vi­täten zur Ver­tei­di­gung der Macht gesehen.

Ganz Minsk ist mit Armee­ein­heiten gespickt. Die Armee in Alarm­be­reit­schaft zu ver­setzen, wäre ein Kinderspiel.

Hätte man wäh­rend der ersten beiden Tage die Armee ein­ge­setzt, dann hätte man der Welt als Grund die schreck­li­chen Gräu­el­taten prä­sen­tieren können, die auf den Straßen statt­fanden. Und den Ein­satz der Truppen als unver­meid­bare Maß­nahme zum Schutz fried­li­cher Bürger aus­geben können.

Das hat man ver­passt. Jetzt die Truppen ein­zu­setzen, würde eine drei­fache Empö­rung auslösen.

 

L.D.: Was geschieht im Land jetzt?

 

D.S.: Gerade wird eine unge­heure Auf­klä­rungs­ar­beit geleistet. Streik­ko­mi­tees for­mieren sich. Wir kannten bisher keine Streiks, die Men­schen wissen nicht, wie das gemacht wird, es gibt keine Struk­turen, keine Erfahrung.

Die Euro­päi­sche Union hat ver­spro­chen, die Strei­kenden zu unter­stützen. Es gibt Ver­hand­lungen zwi­schen den Strei­kenden und den Werks­lei­tungen. Ein Pro­zess, der zur Aus­wei­tung der Streiks führen wird.

Vor ein paar Tagen gab es einen Vor­fall, der das ganze Internet in Auf­ruhr ver­setzt hat. In Zas­laue fuhr der Fahrer eines Müll­wa­gens laut hupend durch eine Ver­kehrs­kon­trolle, die Ver­kehrs­po­li­zisten konnten ihn nicht auf­halten – es war eine per­sön­liche Pro­test­ak­tion. Das ruft nicht Spott, son­dern große Dank­bar­keit hervor.

Die Offi­ziers­an­wärter der Suvorov-Mili­tär­schule haben einen Brief ans Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­rium von Belarus geschrieben – mit der For­de­rung, auf die Seite des Volkes zu wechseln.

In den Kran­ken­häu­sern melden sich Volon­täre, Geschenk­sen­dungen für Ver­wun­dete werden abge­geben, Taxi­fahrer nehmen kein Geld, wenn die Pas­sa­giere ins Okres­tina-Unter­su­chungs­ge­fängnis wollen…

 

L.D.: Das ähnelt den Aktionen auf dem Majdan, von dem sich Belarus jetzt ein wenig distan­ziert. Wirkt hier die Angst vor den “Maj­d­an­be­kloppten”?

 

D.S.: Wir distan­zieren uns nicht vom Majdan. Wir sind dem Majdan dankbar, wir sind soli­da­risch mit der Ukraine, wir ver­folgen schmerz­haft die Ereig­nisse, die mit dem Krieg im Osten der Ukraine ver­bunden sind. Wir fahren nicht auf die Krim.

Aber in unserer beson­deren Situa­tion ist uns wichtig, uns nicht eine fremde Erfah­rung, andere Modelle überzustülpen.

Wenn die Aus­ein­an­der­set­zungen noch härter werden sollten, werden wir gezwungen sein, uns diese Erfah­rung anzueignen.

Noch ist alles anders. Wir wün­schen uns sehr, nicht Krieg führen zu müssen.

 

Das Inter­view führte Larissa Dani­lenko in der “Ukrains­kaja Pravda“, 25.08.2020.

Über­setzt aus dem Rus­si­schen von Andreas Weihe.

Das Por­trait von Dmitrij Strocev (auf­ge­nommen 2019) wurde freund­li­cher­weise von Kris­tina Ursuljak zur Ver­fü­gung gestellt.