Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Die Kunst des Lügens

Elena Gor­ok­hova, die mit dem auto­bio­gra­fi­schen Roman „Goodbye Lenin­grad“ („A Moun­tain of Crumbs“) ihr Debüt vor­ge­legt hat, begriff schon als Kind, was die sowje­ti­sche Gesell­schaft zusam­men­hält: Im Gleich­schritt mit dem Kol­lektiv gehen, um keinen Preis aus­scheren. Doch min­des­tens genauso ent­schei­dend, wenn nicht gar noch ent­schei­dender war ein anderes Ele­ment: die Kunst des Lügens.

 

Goodbye-Leningrad-cover

Die im Jahr 1955 in Lenin­grad gebo­rene Elena Gor­ok­hova ver­brachte die ersten 25 Jahre ihres Lebens in der Sowjet­union. Anfang der 80er Jahre emi­grierte sie in die USA, wo sie bis heute lebt. Auf die Frage, welche Inschrift eines Tages auf ihrem Grab­stein stehen solle, ant­wor­tete die Autorin: „Hat zwei Leben gelebt.“ In ihrem auto­bio­gra­fi­schen Roman Goodbye Lenin­grad, der im Ori­ginal in eng­li­scher Sprache erschien (A Moun­tain of Crumbs, 2010), reflek­tiert Gor­ok­hova aus ihrem „zweiten Leben“ heraus über das erste. Dabei beschreibt die für ihr Debüt hoch­ge­lobte Autorin auf eine leicht­fü­ßige Art und Weise ihren inneren Kampf gegen ihr Heimatland.

 

Wer nicht lügt, der nicht gewinnt

„Das Spiel heißt w r a n j o [враньё russ. das Lügen]. Meine Eltern spielen es bei der Arbeit und meine ältere Schwester spielt es in der Schule. Wir tun alle so, als würden wir etwas machen, und die­je­nigen, die uns beob­achten, tun so, als würden sie uns tat­säch­lich beob­achten und wüssten nicht, dass wir nur so tun.“ W r a n j o ist das Fun­da­ment, auf dem das gesamte sowje­ti­sche System fußt. Überall wird gelogen oder ein­ander etwas vor­ge­spielt – in der Familie, im Kin­der­garten, in der Schule, im Berufs­leben, im Urlaub, im Kran­ken­haus und selbst am Sterbebett.

Wer von Goodbye Lenin­grad grund­sätz­lich neue oder über­ra­schende Ein­sichten in das Leben in der Sowjet­union erwartet, wird ent­täuscht. Viel­mehr bestä­tigt der Roman das, was man über den ehe­mals größten Staat der Welt bereits weiß. Den­noch ist das Erst­lings­werk der heute als Eng­lisch­pro­fes­sorin in New Jersey arbei­tenden Gor­ok­hova kei­nes­falls eine lang­wei­lige Indi­vi­du­al­bio­grafie, keine Schwarz-Weiß-Erzäh­lung oder bloße Abrech­nung mit ihrem Geburts­land. Gor­ok­hova gelingt es, die unter­schied­li­chen Gefühle, Gedanken und sehr per­sön­li­chen Geschichten der Men­schen aus ihrer unmit­tel­baren Umge­bung auf­zu­greifen und das Auf­ein­an­der­prallen ihrer Lebens­welten ein­drück­lich zu beschreiben.

Elena hat keine Schwie­rig­keiten, sich in das w r a n j o‑Spiel ein­zu­finden. Nur mit der Anpas­sung an das Kol­lektiv klappt es nicht. Und das, obwohl sich Elenas Mutter, die wie das Mut­ter­land „her­risch, wachsam, schwer zu fassen“ ist, eine über­zeugte Sowjet­bür­gerin, die in ihrem Ver­trauen gegen­über der Obrig­keit der­einst sogar einen Brief an Stalin schrieb, jeg­liche Aus­sche­rungs­ver­suche ihrer beiden Töchter zu unter­drü­cken ver­sucht. Ein Medi­zin­stu­dium, so wie sie es selbst absol­viert hat, und die Ein­hal­tung der vor­ge­schrie­benen Ord­nung – das ist in den Augen von Elenas Mutter der einzig rich­tige Lebensweg.

 

Fas­zi­na­tion Englisch

Zum Ent­setzen der Mutter wird ihre ältere Tochter Marina Schau­spie­lerin und Elena, die Jün­gere, ent­wi­ckelt zu einer Zeit, in der der Kalte Krieg seinen Höhe­punkt erreicht, eine Lei­den­schaft für Eng­lisch, die Sprache des Sys­tem­feindes. Der Eng­lisch­un­ter­richt wird für sie zum ein­zigen Licht­blick in dem sonst büro­kra­ti­schen und ein­tö­nigen Alltag; die eng­li­sche Sprache wird zur Ver­hei­ßung einer anderen bes­seren Wirk­lich­keit und zum Symbol eines Lebens in Frei­heit. Mit zehn Jahren begegnet Elena im Eng­lisch­un­ter­richt dem Wort Pri­vat­sphäre, für das es keine Über­set­zung ins Rus­si­sche gibt. „Dieser Moment war einer der ersten, in denen ich begriff, in was für einer gespal­tenen Rea­lität wir eigent­lich leben“, sagte Gor­ok­hova in einem Inter­view mit dem US-ame­ri­ka­ni­schen Magazin The Daily Beast.

 

Die ret­tende Hand?

Es kommt, wie es kommen muss: Je länger die Prot­ago­nistin sich mit der eng­li­schen Sprache beschäf­tigt, desto stärker wird ihr Traum vom Leben „in der geheimen, unbe­greif­li­chen Welt“. Sie glaubt aber zu keinem Zeit­punkt daran, dass dies jemals mög­lich sein würde. Zumin­dest mit sich selbst will sie das w r a n j o‑Spiel nicht spielen. Voll­kommen uner­wartet bietet der texa­ni­sche Sprach­schüler Robert ihr eine Scheinehe an, damit sie die Sowjet­union ver­lassen kann. Die Beschrei­bungen der Ehe­schlie­ßung und der darauf fol­genden Aus­reise haben etwas Mecha­ni­sches. Erst­mals in ihrem Leben funk­tio­niert Elena nach den Maß­stäben des Sys­tems. Tut sie dies, um die Aus­reise mög­lichst schnell zu voll­ziehen? Oder ist dies ein Ver­drän­gungs­me­cha­nismus, der die auf­kom­menden Zweifel über die Rich­tig­keit der Ent­schei­dung her­un­ter­spielen soll? Zwi­schen­durch richtet sie den Blick näm­lich auch auf die schönen Klei­nig­keiten des sowje­ti­schen All­tags. Die nahezu nost­al­gisch-melan­cho­li­schen in den Roman­ver­lauf ein­ge­streuten Rück­blenden, die von den Fami­li­en­wo­chen­enden auf der Dat­scha, dem Urlaub auf der Krim oder den Spa­zier­gängen durch das male­ri­sche Lenin­grad han­deln, lassen ver­muten, dass die Nabel­schnur zum Mut­ter­land doch nicht ein­fach zu trennen war.

Der ein­zige Vor­wurf, den man dem Buch machen kann, ist das abrupte Ende, wel­ches gerade die span­nenden Fragen offen lässt – etwa: Wie gestaltet sich Elenas neues Leben in den Ver­ei­nigten Staaten? Ist ihr Blick auf ihre alte Heimat aus der Ferne der gleiche wie aus der Nähe? Gegen­über dem Radio­sender The Voice of Russia erklärt die Autorin: „Für mich war meine Abreise der per­fekte Zeit­punkt, die Geschichte zu beenden. Goodbye Lenin­grad ist eine rus­si­sche Geschichte. Und hinter dem Grenz­über­gang begann mein Leben in den Ver­ei­nigten Staaten.“

Außerdem bietet das Leben hinter dem Grenz­über­gang selbst genug Stoff für ein wei­teres Buch: Eine Art Fort­set­zung von Goodbye Lenin­grad soll in den USA im Januar 2015 unter dem Titel Rus­sian Tattoo: A Memoir erscheinen.

 

Gor­ok­hova, Elena: Goodbye Lenin­grad. Aus dem Eng­li­schen von Saskia Bontjes van Beek. Mün­chen 2013.

 

Wei­ter­füh­rende Links:

http://elenagorokhova.com/