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„Das ist keine Kunst, sondern alltägliche Praxis.“ Interview mit Giorgi Khasaia

Posted on 31. März 2014 by Philomena Grassl
Giorgi Khasaia stellt heute mit seinem Cyber-Theater eine der radikalsten Stimmen Georgiens dar. Mit Gedichten, Soundexperimenten und Videoperformances geht er an die Öffentlichkeit, nebenbei übersetzt er russische und amerikanische politische Lyrik ins Georgische. In Kutaisi sprach er mit "novinki" über seine Experimente, die Marginalisierung der Kultur und sein Projekt, die Sprache von alten Machtstrukturen zu befreien.

Giorgi Khasaia lebt in der postindustriellen Stadt Kutaisi, die einst als wichtiges Zentrum der georgischen (und russischen) Moderne galt. Dieser literarischen Tradition folgend stellt er heute mit seinem Cyber-Theater eine der radikalsten Stimmen des Landes dar. Mit Gedichten, Soundexperimenten und Videoperformances geht er an die Öffentlichkeit, nebenbei übersetzt er russische und amerikanische politische Lyrik ins Georgische. Wir trafen ihn in Kutaisi und sprachen mit ihm über seine Experimente, die Marginalisierung der Kultur und sein Projekt, die Sprache und Literatur von alten Machtstrukturen zu befreien.

 

Khasaia 

novinki: Was genau ist das Cyber-Theater?

 

Giorgi Khasaia: Das Cyber-Theater ist ein Internetprojekt, das wir begonnen haben, politische Kommentare zu bestimmten politischen Prozessen in Georgien. Manche Leute sagen, es ist Kunst, aber wir erkennen es eigentlich nicht als Kunst an. Es sind vordergründig politische und soziale Kommentare. Wir, das sind Giorgi Tsurtsumia, Vako Nacvlishvili, Mirian Gorgodze, Levan Bibileishvili und ich.

 

n.: Wie und wann habt Ihr damit angefangen?

 

G.K.: Das hängt mit der Saakashvili-Periode zusammen, die nach der Rosenrevolution 2003 begonnen hat. Da hat im Grunde eine radikal rechtsgerichtete Politik angefangen, und wir haben uns entschieden, unsere Meinungen auszudrücken, und Videos zu drehen. Nichts Besonderes eigentlich, das machen viele Menschen hier. Wir haben schon seit unserer Kindheit Gedichte geschrieben und auch übersetzt. Jetzt übersetzen wir zeitgenössische russische und amerikanische politische Poesie.

 

n.: Welche AutorInnen übersetzt Ihr?

 

G.K.: Aus Russland zum Beispiel Kirill Medvedev, Pavel Arsen'ev und Valerij Nugatov, die ich sehr interessant finde. Arsen'ev hat auch unsere Gedichte in dem Magazin Translit veröffentlicht. Aber wir übersetzen auch amerikanische DichterInnen, dabei haben wir herausgefunden, dass russische und amerikanische zeitgenössische politische Poesie einander sehr ähnlich sind.
Von den amerikanischen Autoren übersetzen wir vor allem language poetry, da sind am interessantesten Michael Palmer und Charles Bernstein, aber auch junge DichterInnen wie Shane Allison.

 

n.: Seid Ihr mit ihnen auch in aktivem Dialog?

 

G.K.: Mit den amerikanischen AutorInnen nicht, mit den russischen schon. Manche meiner Gedichte gibt es auch auf Russisch. Das ist natürlich auch eine politische Frage, Georgien und Russland sind kulturell enger verbunden. Jetzt gibt es mehr Einfluss aus den USA, aber eher durch Hollywood und Pop-Kultur. Für mich ist es ein sehr interessanter Moment, wie russische und amerikanische Kultur gleichzeitig hier wirken. Es gibt auch ein Gedicht von mir auf Englisch, Killing a cop.

n.: Über welche Themen schreibst Du?

 

G.K.: Über die Rolle des „kleinen Mannes“ im Spätkapitalismus, in der heutigen Situation. Über die Probleme des Prekariats – denn wir sind das Prekariat. Die georgische Gesellschaft teilt sich in Gewinner und Verlierer, das ist der Hauptunterschied zwischen den Menschen. Hier herrscht wilder Kapitalismus, aber unsere Probleme sind nicht nur der Kapitalismus, sondern vor allem kulturell. Wenn eine Kultur in eine andere übergeht, interessieren mich dabei vor allem die Grenzen und Zwischenräume. Georgien ist ein Treffpunkt verschiedener Kulturen, wie es in vielen kleinen Ländern der Fall ist. Mit Grenzen meine ich dabei, wo beispielsweise das Russische aufhört und das Amerikanische beginnt. Heidegger sagte „Die alten Götter sind tot, aber die neuen sind noch nicht da“. Unsere Situation zeigt das sehr gut.

 

n.: Befindet sich die georgische Kultur generell in einer Art Zwischenphase?

 

G.K.: Einmal habe ich die Situation in Georgien als commandant times bezeichnet, als Ausnahmezustand. So wie es das zum Beispiel in Chile gab, so eine Situation, in der das Militär bestimmte Sachen verbietet, wie etwa nachts auf die Straße zu gehen. Die Freiheit wird massiv eingeschränkt. Ich denke, dass dieser Zustand hier jetzt in der Kultur existiert, und für bestimmte Zwecke instrumentalisiert wird. An der Macht ist immer noch die sogenannte Rote Intelligenzia. Das heißt, die, die sich damals als Kommunisten und dann als Liberale ausgegeben haben, lügen uns heute vor, Nationalisten zu sein. Diese Leute waren es gewöhnt, im Kommunismus gut zu leben, und nach dem Zerfall der Sowjetunion waren sie plötzlich Liberale. Gamsachurdia war zwar radikaler Nationalist, aber ich habe noch mehr gegen die Rote Intelligenzia als gegen ihn – gegen die alten Leute, die sich heute als Nationalisten ausgeben, denn sie besetzen das kulturelle Feld. Sie lassen niemanden durch ohne Passierschein:Du brauchst im Kulturbetrieb einen Ausweis, um teilnehmen zu können. Alle wirklich neuen Ideen in der Kunst oder Kultur, die seit den 1990ern entstanden sind, wurden von den Menschen, die der Macht nahe stehen, marginalisiert. Sie haben jahrelang gelernt, wie man an die Macht kommt, sie sind immer noch hier und wurden die wichtigsten Kultur-Kommandanten. Und jetzt haben sie neue Verbündete gefunden, neue Partner wie etwa die orthodoxe Kirche.

 

n.: War das kulturelle Leben in den 1990er Jahren fruchtbarer als heute?

 

G.K.: In den 1990ern war das Leben sehr interessant, trotz Bürgerkrieg und Armut. Plötzlich traten da solche Figuren auf wie der Dichter und Künstler Karlo Kacharava, David Chixladze, Shota Iatashvili, Davit Barbakadze – das heißt, Leute mit verschiedenen Ansichten und ästhetischen Projekten, die waren alle irgendwie „Engel der Revolution“. Und plötzlich passierte etwas Komisches: Die Großväter der Roten Intelligenzia haben diese talentierten Menschen aus der kulturellen Szene verdrängt. Und in meiner Generation wurden die Leute von diesen Großvätern erzogen und sind so den Großvätern ähnlicher als den Vätern. Es entstand eine Allianz der Großväter und Enkel gegen die Väter. Das ist eine sehr seltsame Situation, und ich denke, es ist ein Resultat dieses sogenannten Ausnahmezustands. Die Enkel sind jetzt eine Mischung aus der Roten Intelligenzia und der orthodoxen Kirche, das ist eine eigenartige Hybride. Unsere Generation ist heute die Hauptstütze der orthodoxen Kirche.

n.: Was ist Eure Strategie, um dem etwas entgegenzusetzen?

 

G.K.: Man muss unter anderem die kulturellen Helden der 1990er rehabilitieren. Ein wichtiges Moment ist, einen Prozess zu starten, auch wenn es eine Imitation ist, einen neuen Kanon zu erschaffen, neue Gesetze. Alles, was wir machen, mit unseren Übersetzungen aus dem Englischen und Russischen, ist die Erschaffung eines neuen Kanons. In Georgien gibt es heute einen Haupt-Diskurs in der Literatur und der lautet: Ein georgischer Dichter ist zweimal Dichter, weil jeder Georgier schon an sich ein Dichter ist. Gedichte sind ein wichtiger Bestandteil der georgischen Kultur und Geschichte, und wir wollen uns davon befreien. Literatur soll Literatur sein, und soll auch politisch sein. Das ist nicht unsere Idee, sondern kommt natürlich aus der Avantgarde-Bewegung Anfang des 20. Jahrhunderts. Majakovskij ist mein Lieblingsdichter und eine große Inspiration.

 

n.: Wie ist Deine Beziehung zur Sprache?

 

G.K.: Die Sprache muss befreit werden. Erstens ist die Sprache gefangen in der Kirche, zweitens in den Medien. Das heißt, wir reden und schreiben in der Sprache, die schon geschrieben ist, von diesen beiden Institutionen. In diesem Sinne fanden auch sehr interessante Experimente in Amerika statt, in den 1960ern beispielsweise, da gab es die Gruppe Language Poetry. In Georgien gab es ähnliche Versuche bei Davit Barbakadze, Zaza Burchuladze, auch bei Giorgi Maisuradze – sein letztes Buch Kill Tbilisi ist beeindruckend, er macht meiner Meinung nach auch Experimente mit der Sprache. Nur unsere Literaturexperten hier wissen nicht, was sie mit diesem Buch tun sollen, weil niemand bisher so etwas oder Ähnliches geschrieben hat.
Wir experimentieren viel, das kommt natürlich aus einer gewissen Liebe zur Sprache. Wir lieben unsere Muttersprache, so wie Roland Barthes die Muttersprache mit dem Körper der Mutter verglichen hat. Du arbeitest mit der Muttersprache wie mit dem Körper der eigenen Mutter, es ist also etwas sehr Inzestuöses. Sprache ist etwas sehr Erotisches. Oder etwa nicht?

n.: Und auch etwas Magisches, gerade in Verbindung mit Performance und Stimme?

 

G.K.: Ja, natürlich. Das sind Rituale, Sprach-Rituale. Sprache ist überhaupt immer ein Ritual.

 

Das Interview führte Philomena Grassl.

 

Weiterführende Links:

vimeo.com/user8747430
https://soundcloud.com/user2599633
http://cytheatre.wordpress.com/http://www.youtube.com/watch?v=wKi4zTulpJU
http://www.youtube.com/watch?v=RQcfbA0GpVM
http://www.youtube.com/watch?v=bs-ym_b5PkI

 

Youtube-Channel des Festivals Ventilation:
http://www.youtube.com/channel/UC_oEszA-dsioCYTyi9iq76Q

„Das ist keine Kunst, sondern alltägliche Praxis.“ Interview mit Giorgi Khasaia - novinki
Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

„Das ist keine Kunst, son­dern all­täg­liche Praxis.“ Inter­view mit Giorgi Khasaia

Giorgi Kha­saia lebt in der post­in­dus­tri­ellen Stadt Kutaisi, die einst als wich­tiges Zen­trum der geor­gi­schen (und rus­si­schen) Moderne galt. Dieser lite­ra­ri­schen Tra­di­tion fol­gend stellt er heute mit seinem Cyber-Theater eine der radi­kalsten Stimmen des Landes dar. Mit Gedichten, Sound­ex­pe­ri­menten und Vide­oper­for­mances geht er an die Öffent­lich­keit, nebenbei über­setzt er rus­si­sche und ame­ri­ka­ni­sche poli­ti­sche Lyrik ins Geor­gi­sche. Wir trafen ihn in Kutaisi und spra­chen mit ihm über seine Expe­ri­mente, die Mar­gi­na­li­sie­rung der Kultur und sein Pro­jekt, die Sprache und Lite­ratur von alten Macht­struk­turen zu befreien.

 

Khasaia

 

novinki: Was genau ist das Cyber-Theater?

 

Giorgi Kha­saia: Das Cyber-Theater ist ein Inter­net­pro­jekt, das wir begonnen haben, poli­ti­sche Kom­men­tare zu bestimmten poli­ti­schen Pro­zessen in Geor­gien. Manche Leute sagen, es ist Kunst, aber wir erkennen es eigent­lich nicht als Kunst an. Es sind vor­der­gründig poli­ti­sche und soziale Kom­men­tare. Wir, das sind Giorgi Tsu­rtsumia, Vako Nacv­lish­vili, Mirian Gor­godze, Levan Bibileish­vili und ich.

 

n.: Wie und wann habt Ihr damit angefangen?

 

G.K.: Das hängt mit der Saa­kash­vili-Periode zusammen, die nach der Rosen­re­vo­lu­tion 2003 begonnen hat. Da hat im Grunde eine radikal rechts­ge­rich­tete Politik ange­fangen, und wir haben uns ent­schieden, unsere Mei­nungen aus­zu­drü­cken, und Videos zu drehen. Nichts Beson­deres eigent­lich, das machen viele Men­schen hier. Wir haben schon seit unserer Kind­heit Gedichte geschrieben und auch über­setzt. Jetzt über­setzen wir zeit­ge­nös­si­sche rus­si­sche und ame­ri­ka­ni­sche poli­ti­sche Poesie.

 

n.: Welche AutorInnen über­setzt Ihr?

 

G.K.: Aus Russ­land zum Bei­spiel Kirill Med­vedev, Pavel Arsen’ev und Valerij Nugatov, die ich sehr inter­es­sant finde. Arsen’ev hat auch unsere Gedichte in dem Magazin Translit ver­öf­fent­licht. Aber wir über­setzen auch ame­ri­ka­ni­sche Dich­te­rInnen, dabei haben wir her­aus­ge­funden, dass rus­si­sche und ame­ri­ka­ni­sche zeit­ge­nös­si­sche poli­ti­sche Poesie ein­ander sehr ähn­lich sind.
Von den ame­ri­ka­ni­schen Autoren über­setzen wir vor allem lan­guage poetry, da sind am inter­es­san­testen Michael Palmer und Charles Bern­stein, aber auch junge Dich­te­rInnen wie Shane Allison.

 

n.: Seid Ihr mit ihnen auch in aktivem Dialog?

 

G.K.: Mit den ame­ri­ka­ni­schen AutorInnen nicht, mit den rus­si­schen schon. Manche meiner Gedichte gibt es auch auf Rus­sisch. Das ist natür­lich auch eine poli­ti­sche Frage, Geor­gien und Russ­land sind kul­tu­rell enger ver­bunden. Jetzt gibt es mehr Ein­fluss aus den USA, aber eher durch Hol­ly­wood und Pop-Kultur. Für mich ist es ein sehr inter­es­santer Moment, wie rus­si­sche und ame­ri­ka­ni­sche Kultur gleich­zeitig hier wirken. Es gibt auch ein Gedicht von mir auf Eng­lisch, Kil­ling a cop.

n.: Über welche Themen schreibst Du?

 

G.K.: Über die Rolle des „kleinen Mannes“ im Spät­ka­pi­ta­lismus, in der heu­tigen Situa­tion. Über die Pro­bleme des Pre­ka­riats – denn wir sind das Pre­ka­riat. Die geor­gi­sche Gesell­schaft teilt sich in Gewinner und Ver­lierer, das ist der Haupt­un­ter­schied zwi­schen den Men­schen. Hier herrscht wilder Kapi­ta­lismus, aber unsere Pro­bleme sind nicht nur der Kapi­ta­lismus, son­dern vor allem kul­tu­rell. Wenn eine Kultur in eine andere über­geht, inter­es­sieren mich dabei vor allem die Grenzen und Zwi­schen­räume. Geor­gien ist ein Treff­punkt ver­schie­dener Kul­turen, wie es in vielen kleinen Län­dern der Fall ist. Mit Grenzen meine ich dabei, wo bei­spiels­weise das Rus­si­sche auf­hört und das Ame­ri­ka­ni­sche beginnt. Heid­egger sagte „Die alten Götter sind tot, aber die neuen sind noch nicht da“. Unsere Situa­tion zeigt das sehr gut.

 

n.: Befindet sich die geor­gi­sche Kultur gene­rell in einer Art Zwischenphase?

 

G.K.: Einmal habe ich die Situa­tion in Geor­gien als com­man­dant times bezeichnet, als Aus­nah­me­zu­stand. So wie es das zum Bei­spiel in Chile gab, so eine Situa­tion, in der das Militär bestimmte Sachen ver­bietet, wie etwa nachts auf die Straße zu gehen. Die Frei­heit wird massiv ein­ge­schränkt. Ich denke, dass dieser Zustand hier jetzt in der Kultur exis­tiert, und für bestimmte Zwecke instru­men­ta­li­siert wird. An der Macht ist immer noch die soge­nannte Rote Intel­li­genzia. Das heißt, die, die sich damals als Kom­mu­nisten und dann als Libe­rale aus­ge­geben haben, lügen uns heute vor, Natio­na­listen zu sein. Diese Leute waren es gewöhnt, im Kom­mu­nismus gut zu leben, und nach dem Zer­fall der Sowjet­union waren sie plötz­lich Libe­rale. Gamsachurdia war zwar radi­kaler Natio­na­list, aber ich habe noch mehr gegen die Rote Intel­li­genzia als gegen ihn – gegen die alten Leute, die sich heute als Natio­na­listen aus­geben, denn sie besetzen das kul­tu­relle Feld. Sie lassen nie­manden durch ohne Passierschein:Du brauchst im Kul­tur­be­trieb einen Aus­weis, um teil­nehmen zu können. Alle wirk­lich neuen Ideen in der Kunst oder Kultur, die seit den 1990ern ent­standen sind, wurden von den Men­schen, die der Macht nahe stehen, mar­gi­na­li­siert. Sie haben jah­re­lang gelernt, wie man an die Macht kommt, sie sind immer noch hier und wurden die wich­tigsten Kultur-Kom­man­danten. Und jetzt haben sie neue Ver­bün­dete gefunden, neue Partner wie etwa die ortho­doxe Kirche.

 

n.: War das kul­tu­relle Leben in den 1990er Jahren frucht­barer als heute?

 

G.K.: In den 1990ern war das Leben sehr inter­es­sant, trotz Bür­ger­krieg und Armut. Plötz­lich traten da solche Figuren auf wie der Dichter und Künstler Karlo Kacha­rava, David Chix­ladze, Shota Iata­sh­vili, Davit Bar­bak­adze – das heißt, Leute mit ver­schie­denen Ansichten und ästhe­ti­schen Pro­jekten, die waren alle irgendwie „Engel der Revo­lu­tion“. Und plötz­lich pas­sierte etwas Komi­sches: Die Groß­väter der Roten Intel­li­genzia haben diese talen­tierten Men­schen aus der kul­tu­rellen Szene ver­drängt. Und in meiner Gene­ra­tion wurden die Leute von diesen Groß­vä­tern erzogen und sind so den Groß­vä­tern ähn­li­cher als den Vätern. Es ent­stand eine Allianz der Groß­väter und Enkel gegen die Väter. Das ist eine sehr selt­same Situa­tion, und ich denke, es ist ein Resultat dieses soge­nannten Aus­nah­me­zu­stands. Die Enkel sind jetzt eine Mischung aus der Roten Intel­li­genzia und der ortho­doxen Kirche, das ist eine eigen­ar­tige Hybride. Unsere Gene­ra­tion ist heute die Haupt­stütze der ortho­doxen Kirche.

n.: Was ist Eure Stra­tegie, um dem etwas entgegenzusetzen?

 

G.K.: Man muss unter anderem die kul­tu­rellen Helden der 1990er reha­bi­li­tieren. Ein wich­tiges Moment ist, einen Pro­zess zu starten, auch wenn es eine Imi­ta­tion ist, einen neuen Kanon zu erschaffen, neue Gesetze. Alles, was wir machen, mit unseren Über­set­zungen aus dem Eng­li­schen und Rus­si­schen, ist die Erschaf­fung eines neuen Kanons. In Geor­gien gibt es heute einen Haupt-Dis­kurs in der Lite­ratur und der lautet: Ein geor­gi­scher Dichter ist zweimal Dichter, weil jeder Geor­gier schon an sich ein Dichter ist. Gedichte sind ein wich­tiger Bestand­teil der geor­gi­schen Kultur und Geschichte, und wir wollen uns davon befreien. Lite­ratur soll Lite­ratur sein, und soll auch poli­tisch sein. Das ist nicht unsere Idee, son­dern kommt natür­lich aus der Avant­garde-Bewe­gung Anfang des 20. Jahr­hun­derts. Maja­kovskij ist mein Lieb­lings­dichter und eine große Inspiration.

 

n.: Wie ist Deine Bezie­hung zur Sprache?

 

G.K.: Die Sprache muss befreit werden. Ers­tens ist die Sprache gefangen in der Kirche, zwei­tens in den Medien. Das heißt, wir reden und schreiben in der Sprache, die schon geschrieben ist, von diesen beiden Insti­tu­tionen. In diesem Sinne fanden auch sehr inter­es­sante Expe­ri­mente in Ame­rika statt, in den 1960ern bei­spiels­weise, da gab es die Gruppe Lan­guage Poetry. In Geor­gien gab es ähn­liche Ver­suche bei Davit Bar­bak­adze, Zaza Bur­ch­ul­adze, auch bei Giorgi Mai­su­radze – sein letztes Buch Kill Tbi­lisi ist beein­dru­ckend, er macht meiner Mei­nung nach auch Expe­ri­mente mit der Sprache. Nur unsere Lite­ra­tur­ex­perten hier wissen nicht, was sie mit diesem Buch tun sollen, weil nie­mand bisher so etwas oder Ähn­li­ches geschrieben hat.
Wir expe­ri­men­tieren viel, das kommt natür­lich aus einer gewissen Liebe zur Sprache. Wir lieben unsere Mut­ter­sprache, so wie Roland Bar­thes die Mut­ter­sprache mit dem Körper der Mutter ver­gli­chen hat. Du arbei­test mit der Mut­ter­sprache wie mit dem Körper der eigenen Mutter, es ist also etwas sehr Inzes­tuöses. Sprache ist etwas sehr Ero­ti­sches. Oder etwa nicht?

n.: Und auch etwas Magi­sches, gerade in Ver­bin­dung mit Per­for­mance und Stimme?

 

G.K.: Ja, natür­lich. Das sind Rituale, Sprach-Rituale. Sprache ist über­haupt immer ein Ritual.

 

Das Inter­view führte Phi­lo­mena Grassl.

 

Wei­ter­füh­rende Links:

vimeo.com/user8747430
https://soundcloud.com/user2599633
http://cytheatre.wordpress.com/http://www.youtube.com/watch?v=wKi4zTulpJU
http://www.youtube.com/watch?v=RQcfbA0GpVM
http://www.youtube.com/watch?v=bs-ym_b5PkI

 

You­tube-Channel des Fes­ti­vals Ven­ti­la­tion:
http://www.youtube.com/channel/UC_oEszA-dsioCYTyi9iq76Q