Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

So schmeckt der Krieg, oder: „Ich muss mich gleich übergeben.“

Geor­gien war eines der ersten Länder, die nach dem Zer­fall der Sowjet­union unab­hängig wurden,  seither wurde es immer wieder zum Schau­platz geo­po­li­ti­schen Kräf­te­mes­sens. Seit den 90ern for­ciert die Regie­rung einen NATO-Bei­tritt, heute steht das Land irgendwo zwi­schen aus­beu­te­ri­schem Neo­li­be­ra­lismus und tota­li­tärer Sowjet-Ver­gan­gen­heit, zwi­schen der meta­phy­si­schen Sehn­sucht nach einem glor­rei­chen Mit­tel­alter und dem Traum von einer para­die­si­schen Zukunft, die irgendwo im Himmel ver­borgen liegt.

 

Bei dem Krieg im August 2008 drangen rus­si­sche Truppen bis ins geor­gi­sche Kern­land ein. Dar­über wurde in den Medien viel berichtet, aller­dings nicht davon, wie so ein Krieg von den Men­schen dort erlebt wird. Die Men­schen, das sind auch Frauen und Kinder, die ihren eigenen, ver­bor­genen Krieg erfahren. Und dieser ist viel­leicht noch grau­samer und unge­rechter als der der Männer an der Front.

 

Die junge geor­gi­sche Autorin Tamta Mela­schwili zeigt uns mit ihrem Debüt­roman Abzählen diesen anderen Krieg, abseits von den medialen Dar­stel­lungen mili­tä­ri­scher Ein­sätze. Und das ohne direkt über den Krieg in Geor­gien zu schreiben: Es kommen keine Orts­namen oder Natio­na­li­täten vor, die Hand­lung könnte überall dort spielen, wo es Kon­flikte gibt.

 

Tamta Mela­schwili schreibt femi­nis­tisch. Bei ihr bekommt man nicht das Blut ver­wun­deter Sol­daten, son­dern Regel­blut zu schme­cken. So erzählt sie uns 3 Tage Krieg aus der Per­spek­tive zweier junger Mäd­chen, und das mit enormer Inten­sität: Zknapi, die Ich-Erzäh­lerin, und ihre Freundin Ninzo leben in der Kon­flikt­zone, um sie herum tobt der Krieg. Die beiden sind 13, und neben dem täg­li­chen Elend mitten in der Pubertät. Hier ist man ein­ge­schlossen, an einem gott­ver­las­senen Ort, an dem nach und nach alle weg­sterben oder schon längst geflüchtet sind. Die Väter sind an der Front, und die hier zurück­ge­blie­benen Men­schen kämpfen jeden Tag ums Über­leben. Ninzo muss sich um die Groß­mutter küm­mern, die nur noch ins Leere starrt und deren ein­zige Reak­tion ein paar Tränen sind, wenn man sie auf­mun­tern will. Zknapis Mutter hat keine Milch, der kleine Bruder ist kurz vor dem ver­hun­gern. In der Schlucht liegt eine Leiche, sie riecht schon schlecht und man sieht das aus­ge­tre­tene Gehirn. Hier ist alles so zum Kotzen, dass man sich freut, hin und wieder mal Ziga­retten zu bekommen – auch, wenn einem davon noch übler wird.

 

Ninzo hat schon einen Busen und die Regel, sowie die ersten Begeg­nungen mit Män­nern – das heißt mit geg­ne­ri­schen Sol­daten an den Kon­troll­punkten. Zknapi ist kleiner. Noch ein Kind zu sein scheint manchmal Vor­teile zu haben, wenn man bei­spiels­weise Drogen über die Grenze schmug­gelt, und dabei nicht so schnell ver­däch­tigt wird. Oder wenn man näch­tens in die ver­las­sene Apo­theke ein­steigt, durch das kleine Fenster, um Baby­nah­rung zu klauen. „Wir müssen laut schreien, dass wir Kinder sind. Dann werden sie nicht auf uns schießen.“

 

Das Klein-Sein steht aber auch für einen Grund­zu­stand, aus dem man nicht her­aus­kommt. Nie­mand hört dich, nie­mand inter­es­siert sich für dich in dieser Zone. „Viel­leicht werden sie einen Kor­ridor öffnen“ – das ist genauso eine Illu­sion, wie der Traum eines nor­malen Erwach­sen­wer­dens. Dein Leben ist hier nichts wert. Man hat nur noch ein­ander, und auch dafür gibt es keine Garantie – wer weiß, wen es als nächstes erwischt. Irgend­wann bleibt ein Auto stehen, und jemand gibt dir Kuverts in die Hand: „Ihr habt drei Tote im Dorf. Nicht öffnen und rein­schauen, ver­standen? Sag ich: Jawohl.“ Und dann wird abge­zählt, unter den Vätern, die an der Front gefallen sind.

 

Hier wird einem nicht nur das Erwach­sen­werden genommen, son­dern auch die Kind­heit geraubt. Zu Hause drehen sich die Rollen um, plötz­lich müssen sich Kinder um ihre Eltern küm­mern: „Sagt Mutter: Ver­flucht sei dein Vater, dass er uns hier allein hat sit­zen­lassen. Ich sag nichts mehr, lege mich zu ihr, umarme sie von hinten und drück sie fest an mich. […] Mein Kopf ver­sinkt in ihrem Haar. Sie hat irgend­einen anderen Geruch. Ich bleib so lange bei ihr liegen, bis sie ein­ge­schlafen ist. Mein Bruder schläft auch. Er sieht einem kleinen ver­schrum­pelten Spiel­zeug ähn­lich. Ich steh leise auf, such die Taschen­lampe, trink ein wenig vom kalten Tee und zieh die Tür hinter mir zu. So ein langer Tag.“

 

Die Gescheh­nisse werden nicht chro­no­lo­gisch dar­ge­stellt, son­dern immer abwech­selnd Mitt­woch, Don­nerstag, Freitag, in relativ kurzen Sequenzen. Die Sprache ist unmas­kiert und direkt, in ihr zeigt sich die Dis­pro­por­tio­na­lität der Phase zwi­schen Kind­heit und Erwach­sen­sein. Tragik und Humor liegen manchmal eng bei­ein­ander, jeder ein­zelne Satz kommt mit voller Wucht. Der Erzähl­takt wird immer schneller und kürzer, die Span­nung steigt kon­stant an – genauso wie auch die Übel­keit. Und dann schließ­lich, in der Nacht, findet man sich plötz­lich auf dem ver­minten Feld wieder: „Es pas­siert mir schon nichts. Ich bin doch ein Vogel, so klein wie ein Vögelchen.“

 

Die Figuren im Roman schwanken zwi­schen Pas­si­vität und Hys­terie. Alte Men­schen starren in die Luft, warten nur noch auf den Tod. Dann kommt wieder irgendwo ein Aus­bruch, in dem das Leid auf fast schon absurde Weise beklagt wird. Die älteren Frauen scheinen sich zu wie­der­holen, als seien sie in einer End­los­schleife gefangen. Die jungen hin­gegen haben nicht mehr viel Zeit, bevor sie inner­lich zer­bre­chen: „Schau, wie die her­um­läuft. Eine rich­tige Schlampe wird das mal.“

 

Frauen sind hier nicht Trä­ge­rinnen irgend­einer Exotik, nicht geheim­nis­voll-schön, son­dern durch die Trau­mata eher irgendwie ent­stellt: „Sie ist ganz ein­ge­hüllt in schwarzen Sachen, hat Augen­ringe, und aus ihrem mageren Gesicht tritt die Nase scharf hervor. Wie bei irgend so einem Vogel.“ Tra­di­tio­nelle Frau­en­bilder ver­sagen, die Mutter kann ihre Rolle nicht erfüllen, die Groß­mutter schweigt. Das ein­zige biss­chen Sexua­lität scheint es in der Liebe der beiden Mäd­chen zu geben, und das auf ganz unro­man­ti­sche Art. So löst die Autorin auch das Mys­te­rium der Mäd­chen­freund­schaft völlig auf. Denn roman­tisch ist hier gar nichts – nicht die Armut, nicht das Leiden, und schon gar nicht die Frauen.

 

Tamta Mela­schwili zeigt uns eine neue Per­spek­tive auf den Krieg, und das mit unglaub­lich kraft­voller Stimme. Sie schreibt mit jugend­li­cher Bru­ta­lität, räumt dabei den Platz für die Mäd­chen und setzt so ihre Hoff­nung auf die nächste Gene­ra­tion. Zurecht – denn der gehört sie selbst an. Viel­leicht ist es so eine indi­rekte Bot­schaft des Romans, dass wir von den jungen Frauen in Geor­gien einiges zu erwarten haben.

 

Es gibt auch ein Inter­view mit der Autorin auf unseren Seiten.

 

Tamta Mela­schwili: Abzählen.
Der Roman ist 2012 beim Uni­ons­verlag erschienen, ins Deut­sche über­setzt von Natia Mik­eladze-Bach­so­liani. In Geor­gien wurde das Buch mit dem SABA-Lite­ra­tur­preis aus­ge­zeichnet, in Deutsch­land kam es unter die Top-10 der Neu­erschei­nungen unab­hän­giger Ver­lage 2012.

Im März 2013 ist eine Antho­logie erschienen mit einer Erzäh­lung von Tamta Mela­schwili: Techno der Jaguare: Neue Erzäh­le­rinnen aus Geor­gien her­aus­ge­geben von Manana Tan­da­schwili und Jost Gippert.