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Das wilde Fleisch der Sprache

Posted on 8. Februar 2010 by Tatjana Hofmann
Igor' Klech schreibt auf Russisch, obwohl oder gerade weil er aus der Ukraine kommt. Wie die Ukraine mit dem Schreiben des Moskauer Autors zusammenhängt, erzählt er im Gespräch.

Igor’ Klechs dokumentarisch-ästhetischer Radikalismus

 

KlechIgor’ Klech, geboren 1952 im ukrainischen Cherson, lebt seit 1994 in Moskau und schreibt Prosa, die von seinen Kritikern leichtfertig als schwerfällig bezeichnet wird. Er schreibt modernistisch und postmodern – in Genres, die in keine der gängigen Schubladen passen, mal mit einem scheinbar biografisch fassbaren Autor und mal mit einem sich entziehenden Erzähler. Galizien ist ebenso ein Thema in seinem Werk wie der literarische Galizientext und das postsowjetische Moskau. Essayistisches Erzählen und wissenschaftliches Erörtern sind ihm ebenso Anliegen, wie die Lust, erst im Schreiben einen Gedanken durchzudenken.

 

novinki: Sie sind ein Autor mit einer ‚gemischten Herkunft‘, einem abwechslungsreichen Leben und einem Werk, das in keine literarische Schublade zu passen scheint. In welche würden Sie sich selbst stecken, um sich grob einzuordnen?

 

Igor’ Klech: Eine solche Richtung gibt es noch nicht, aber es wird sie möglicherweise geben. Kurz gesagt: Das ist Prosa, die Kunst der Prosa – so, wie sie Mandel’štam in der Vierten Prosa (Četvёrtaja proza) verstanden hat. Es gibt eine Kunst des Geschichtenerzählens, die Belletristik. Nachdem die klassische Literatur ihre Aufgabe erfüllt hat, indem sie eine erschöpfende Anzahl menschlicher Typen und typischer Kollisionen geschaffen hat, kommt es der Belletristik nun zu, dies alles auf eine zeitgenössische Art „umzukleiden“, und das Limit ihrer Wünsche ist es, als Vorlage für ein Drehbuch zu dienen. Das ist die „Trostliteratur“. Die „Literatur des Urteils“ (Dostoevskij, Kafka, Brodskij u. a.) ist aus meiner Sicht zu totalitär – Machtliebe, auch noch pervertiert, hasse ich, obwohl ich Kafka über alles liebe. Auch sollte eine Literatur der Suche existieren: nicht als eine Methode, eine Geschichte zu erzählen, sondern als ein Verfahren, sozusagen den Gedanken aufzulösen – selbst von der Lebensohnmacht aufzuwachen und andere aufzuwecken. Daher interessieren mich am meisten nicht vorhandene symbolische Genres, von denen man das Ungewisse erwarten kann.

 

n.: Sie haben erwähnt, dass Sie im „Westen“ gerne als „Galizinist“ gelesen werden. Ihr 2009 erschienener Essayband, Migrationen (Migracii), bedient zum Teil diese Erwartung. Was genau heißt es eigentlich, „Galizinist“ zu sein? Welche Rolle spielt das galizische Thema – für Sie persönlich und für Ihr Schreiben?

 

K.: Hm, wahrscheinlich ist es für westliche Übersetzer, Herausgeber und Leser bequemer, mich und meine Essays so wahrzunehmen. Wie Gender, Nationalität, Sprache werden auch die Orte, wo der meiste und beste Teil des Lebens verlaufen ist, zu deinem Los (einem machtlosen), welches du im besten Fall als Schicksal (muskulöses) anzunehmen in der Lage bist, so dass es dann zum Thema (künstlerischen) werden kann.

Ich habe mich immer als niemanden sonst außer als Russen angesehen, aber ich hatte Glück, dass meine durchs Land umherirrenden Eltern Ende der 1950er Jahre in der Westukraine sesshaft wurden und in mir die ukrainischen, polnischen, litauischen Vorfahren zum Leben und zur Sprache geweckt wurden, diese ewig zerstrittene Sippe. Die mitteleuropäische Sphäre, die urbane und die dörfliche, die naturgegebene und die historische, hat es mir erlaubt, in den Geschmack der süßen Gifte des österreichisch-habsburgischen Imperiums zu kommen, was mich hellhörig, aber unempfindlich ihnen gegenüber gemacht hat – ich habe eine Injektion und Impfung der eigenen Sorte erhalten. Viel später habe ich verstanden, dass sich hier die Mühlsteine der germanischen und slawischen Welten drehen, und dies meist tödlich, aber des teuren Preises wert.

Was Galizien angeht, so ist es ein Einzelfall, dass eine ganze Region nach den Gesetzen eines Dorfes organisiert ist und sich verzweifelt gegen die Globalisierung wehrt – im wertfreien Sinn. Das verdammte Moskau geistert immer noch jede Nacht in meinen Träumen, obwohl ich hier schon das sechzehnte Jahr überlebe.

 

n.: Wie sind Sie darauf gekommen, ihren Beruf als Glasmaler bzw. -restaurator für die unsichere Existenz eines Schriftstellers aufzugeben?

 

K.: Der Beruf des Glasmalers war eine Notlösung: Unter den Bedingungen des Sozialismus war das eine Möglichkeit so zu leben, als ob es ihn nicht geben würde. Geschrieben habe ich seit der Schulzeit, habe russische Literatur an der L’viver Universität studiert, aber nachdem ich mich überzeugt hatte, dass man dem Diktat der verhassten Ideologie nur entgehen kann, wenn man sich auf den sozialen Bodensatz begibt, traf ich eine Entscheidung: „Wenn ich nicht das machen darf, was ich möchte, dann werde ich wenigstens nicht das tun, was ich nicht möchte.“ Zum Beispiel die Vorträge Brežnevs mitzuschreiben und Schüler zu vertölpeln. Jemand wurde Hausmeister und jemand Schornsteinfeger. Ich hatte das Glück, dass sich im geschichtsträchtigen L’viv für mich die Arbeit als Glasrestaurator gefunden hat. So ergab sich die Gelegenheit, auf eigenes Risiko unabhängig in der Underground-Künstlerszene mit meiner eigenen Angst zu leben. Ich bin diesem Beruf dankbar, aber ich bin da ein Handwerker geblieben, wie es viele gibt.
Mich gänzlich als Schriftsteller verwirklichen konnte ich erst, als ich mich von der Glasmalerei und L’viv verabschiedete und umgezogen bin – wie mit dem Kopf in ein Eisloch. Allein das Gefühl der erfüllten Bestimmung – das Glück der verspäteten Realisierung und eine Arbeit nach Neigung bis zur Abnutzung – entlohnt alle Nachteile und Schwierigkeiten der eigenen Situation. Es ist eine Sünde sich zu beklagen, wenn du in den Augen vieler als geschickt und fast als ein Glückspilz giltst.

 

n.: Es hat Konjunktur, L’viv als ein oder auch DAS Zentrum des ukrainischen Undergrounds zu sehen. Einige bekannte westukrainische Autoren beziehen sich auf das vorsowjetische L’viv, wenn sie in ihrer eigenen Biografie das Oppositionelle betonen – welches Verhältnis haben Sie dazu?

 

K.: Es gibt die ukrainische Kultur und die Kultur der Ukraine, und das ist nicht dasselbe, was man aber in L’viv nicht verstehen möchte: Odessa und Charkiv sind keine weniger bedeutsamen kulturellen und künstlerischen Zentren der Ukraine. Aber es gibt die Schönheit der Oppositionen, und die Bipolarität schmückt die Kulturen vieler Länder: Wie Moskau und Petersburg in Russland, Warschau und Krakau in Polen, so schaffen auch Kyïv und L’viv in der Ukraine eine besondere Polarisierung der Potentiale, entsprechend fließt Strom, es entstehen Entladungen, die Funken sprühen. Die künstlerischen Traditionen des Undergrounds waren in L’viv immer stark, aber nicht in der Literatur, und schon lange nicht in der zeitgenössischen ukrainischen. Durch L’viv, die Hauptstadt der Region, sind einfach die Ukrainer der gesamten Westukraine gefahren oder haben diese Stadt mit Pietät behandelt.
L’viv selbst ist in literarischer Hinsicht längst unfruchtbar wie ein Durchgangslager: Lyšeha ist aus Tysmienyca nach Kyïv, Rjabčuk ist eben dorthin, Andruchovyč ist aus Ivano-Frankivs’k nach Berlin, Izdryk ist zurück nach Kaluš, Čubaj – in die Welt der Toten. Im Übrigen bin ich in allen anderen Beziehungen außer der literarischen damit einverstanden. Obwohl ich es vorziehen würde, dass L’viv als das Tor der Ukraine in die große Welt dienen würde, statt den zweifelhaften Titel der Hauptstadt der Marginalisierten zu tragen.
Und glauben Sie nicht der hartnäckigen Idealisierung des österreichisch-ungarischen Imperiums und des Vorkriegspolens, wo ukrainische Galizier Leute der letzten Sorte waren (erinnern Sie sich zumindest an die Geschichte des Oberst Redl und die Emigration ganzer Dörfer von hier über den Ozean. Zu 10% ist das Identitätssuche und zu 90% – den Moskowitern den Vogel zeigen. Ich könnte meine Behauptung argumentativ untermauern und illustrieren, möchte allerdings nicht auf das Verständnisniveau der drückenden Mehrheit der Opponenten absteigen. Wenn jedes Argument gelegen kommt, ist eine Diskussion nicht möglich. Ein ernstes Gespräch ist unausweichlich, aber man muss abwarten.

 

n.: Wie gehen Sie damit um, dass man Ihnen eine „imperiale“ Perspektive unterstellt und man Sie leicht – von verschiedenen Lesergruppen aus – als unbequem wahrnehmen kann?

 

K.: Die Antwort ist einfach und ohne Koketterie: Ich bin Nonkonformist und keine Formen des Gruppenbewusstseins sind für mich richtungsweisend. Wenn man dir etwas andichtet, ist es zwar unangenehm, aber wie Čechov seinem älteren Bruder geschrieben hat: Rechtfertige dich nie, selbst wenn die Zeitungen drucken, du seist ein Geldfälscher. Was Russland angeht – heute es kein Imperium, sondern ein Großes Land und PROJEKT, was anzuerkennen einigen Einwohnern kleiner und unselbstständiger Länder unmöglich oder für sie beleidigend ist. Und für die reichen und starken Länder ist es bequem, ihre Unzufriedenheit für eigene Interessen zu nutzen. Leider hat sich hier seit 1000 Jahren nichts Wesentliches geändert. Derzeit wütet die ukrainisch-russische Polemik um sich. Um Obsessionen und halbgebildete Angriffe loszuwerden, musste ich das vor ein paar Jahren in Moskau erschienene Buch Westliche Ränder des russischen Imperiums (Zapadnye okrainy Rossijskoj imperii) kaufen, eine gemeinsame Arbeit professioneller Historiker – seitdem hat das Herzspannen nachgelassen. Das Buch ist weder pro- noch antirussisch, sondern wissenschaftlich, mit Verweisen auf Quellen, mit begründeten Fakten und Kommentaren, ausgewogen wie eine wertfreie Expertise der analytischen Abteilung des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten irgendeines 19. Jahrhunderts. Was für ein Glück, dass nicht alle verrückt geworden sind.
Übrigens, die Zukunft der Ukraine entscheidet sich heute auf der Ebene des Kampfes zweier Konzeptionen. Ist es ein Land, wo Berge, Meere, Wälder, Steppen, große Flüsse, natürliche Ressourcen, ökonomisches und demografisches Potential, ethnische, sprachliche und kulturelle Vielfalt (Ukrainer und Galizier, Russen und Russischsprachige, Juden, Krimtataren, Huzulen, Russinen u.a.) und mehrere Konfessionen (Orthodoxe, Katholiken, Moslems) existieren – klar, was ich meine? Oder siegt das Paradigma „ein Volk, eine Sprache, ein Glaube, eine Partei, ein Führer“ (in seiner weichen Variante, dem Polen Piłsudskij ähnlich), also eine archaische Konzeption eines mono-ethnischen, homogenen Staats, aufgesammelt auf dem Müllhaufen der Geschichte?

 

n.: Zahlreiche Texte, die sich mit L’viv beschäftigen, sind Gedichte. Von Ihnen ist mir keines bekannt, auch sonst keine Lyrik. Wie kommt es, dass sie ausschließlich Prosaist sind?

 

K.: Es gibt vier Genres, in denen ich nicht arbeite. Mit einzelnen Ausnahmen sind es Gedichte, Publizistik, der Roman (da ich ihn für abgestorben, epigonenhaft, für geschickt verpackte Ware halte, mit dessen Produktion einander überholende Belletristen beschäftigt sind) sowie das Drama (die oberflächlichen Wellenbewegungen menschlicher Beziehungen interessieren mich wenig, obwohl es Ausnahmen gibt). Aus allem anderen – aus der Prosakunst, der Essayistik und dokumentarischen Genres schaffe ich diesen oder jenen „Cocktail“. Ich will niemandem etwas erzählen, sondern selbst etwas erfahren. Und wenn es für mich interessant wird, dann wird es für meinen Leser nicht uninteressant.

 

n.: Wenn wir schon bei der gestalterischen Ebene angekommen sind: Es fällt einerseits die hohe metaphorische Dichte auf, die Ihre Prosa poetisch macht, und andererseits der ständig durchschimmernde oder bewusst signalisierte Bezug zu Ihrer Biografie und zur Zeitgeschichte. Haben Sie dabei ein bestimmtes Ziel?

 

K.: Der stilistische Prozess des Alterns kann wie ein allmählicher Verzicht auf den Gebrauch der Metapher zugunsten der Metonymie beschrieben werden. Wenn Metaphern in meinen Texten immer noch anzutreffen sind, so heißt das, dass ich noch nicht gänzlich alt geworden bin. Andererseits haben mich rohe Dokumente und dokumentarische Genres schon seit dem Studentenalter bewegt. Seit ich dreißig geworden bin, konnte ich einfach nichts mehr lesen, was in realistischen Konventionen geschrieben war (wenn es kein klassisches, per definitionem mythologisches Werk ist), ebenso die meisten meiner Bekannten (was viele nicht gerne zugeben). Ich schätze nur das wilde Fleisch der Sprache und von dem Ausgedachten nur den Fieberwahn, die Halluzinationen, nur echtes Blut und Schweiß, keines von der Leinwand. Schon lange ist kein Extremismus mehr dabei – nur ästhetischer Radikalismus. Ich liebe anspruchsvolle populärwissenschaftliche Literatur und übe mich selbst mit riesigem Vergnügen in diesem Genre, um mich zu erholen und Geld zu verdienen, obwohl der Hedonismus einem Prosaiker nicht gut bekommt. Ein Ziel? Die Bestimmung erfüllen, ein anderes gibt es nicht. Mit Prozenten all das zurückgeben, was ich vom Freudenbecher des Lebens erhalten habe, die ganze Wehmut bei mir behaltend.

 

n.: Hin und wieder schreiben Kritiker, dass man bei Ihnen „barocke Prosa“ vorfände – man könnte es als eine an Verzierungen reiche, schwer lesbare Kost verstehen. Oder hat es etwas mit einer textuellen Suche nach rhetorischen Vorbildern wie Nikolaj Gogol’ und Bruno Schulz zu tun? Ihre Geister spuken an verschiedenen Stellen in ihrem Oeuvre. Welchen Platz nehmen sie in ihrem jüngsten Buch ein?

 

K.: Es gab auch mal den Barock bei mir, ich habe mich oft verändert und nicht (nur?) wenige Räder erfunden. Moskau – das ist nicht nur eine „kulturelle Repatriation“, sondern auch eine Art „Arbeit“, unser „inneres Amerika“, und ein gigantischer „Destillator, um einen allrussischen Selbstgebrannten zu 40%igem Alkoholgehalt zu bringen“ (verzeihen Sie die Autozitate). Der Schicksalswechsel nach vierzig Jahren hat mir unglaublich viel gegeben. Aber leider bin ich erst zur Literatur als Kunst gekommen, als sie ihr Totenmahl gefeiert hat. Heute ist das nur Produktion.
Das Buch, über das Sie sprechen, erscheint, so Gott will, in diesem Jahr in kleiner Auflage, finanziert durch ein Stipendium, und wird irgendwann von irgendjemandem gelesen. Mein Land benötigt es noch nicht. Es besteht aus einem halben Hundert Essays über bedeutende Bücher und ihre Autoren: von Cäsar (Autor des besten Buches über den Krieg) und Plutarch (Erfinder des biografischen Genres), über Montaigne (Erfinder des essayistischen Genres), Pascal, Rousseau, Adam Smith, Darwin, Napoleon und Nietzsche, Poe, Puškin, Gogol’, Tolstoj, Platonov mit Nabokov und Schulz bis zu einigen zeitgenössischen Autoren. In diesem Buch beute ich den „biografischen Zugang“ zur Literatur aus: Der Schlüssel zum Text liegt im Autor, der Schlüssel zum Autor – im Text.
All diese Texte habe ich übrigens zweifach verkauft, und einige auch dreifach – als Vorworte zu sehr teuren Büchern in einer Auflage von 100 Exemplaren für die „neuen Russen“ und fast umsonst einigen Zeitungen mit einer Auflage von einigen Tausend Exemplaren und dicken Literaturzeitschriften. „Die unsichtbare Hand des Markts“ fühle ich heute auf dem eigenen Hals – danke dir, Adam Smith.

 

n.: Ein anderes sehr junges Buch, das Sie ihr opus magnum nennen, sind die Chroniken des Jahres 1999 (Chroniki 1999 goda). Eine pessimistische und zynische Abrechnung mit der postsowjetischen ukrainischen und russischen Situation, der immer ein wenig fehlt, um rund zu laufen...

 

K.: Verzeihen Sie den Truismus, aber nur Tote haben keine Probleme. Aus meiner Sicht ist es im Gegenteil ein optimistisches Werk darüber, wie schwer ein gesamtes großes Land gesund wird, Abstand vom Todesrand gewinnt. Meine bescheidene und fast anonyme (wie bei Proust) biografische Erzählung (eines untypischen Rastignac) schreibt sich, wie mir scheint, ideal in dieses Sujet ein. Anfangs sollte es eine Erzählung über den Tod meiner Mutter sein, und es gab eine Möglichkeit, sie in der Schweiz zu schreiben, aber ich habe die Ausführung der Idee auf viele Jahre verlegt – und es war richtig. Unbewusst habe ich gespürt, dass die Geschichte nicht beendet ist, so lange mein Vater lebt. Später habe ich verstanden, dass in diesem unglückseligen Jahr meine Mutter nicht anders konnte als zu sterben. Es wurde ein Kulminationsjahr (in Erwartung des „Milleniums“) und ein Wendejahr vom „Steine schmeißen“ zu ihrem „Aufsammeln“. Ein Jahr der zwei Kriege – in Serbien und auf dem Kaukasus, der Explosion von Wohnhäusern in Moskau, der Abdankung des „Zaren Boris“ und der Ankunft Putins, der Abreise meiner Tochter nach Israel und meiner Fahrt mit der Transsib, des Todes meiner Mutter – alles hat sich miteinander verwebt. Als ich endlich angefangen habe, die „Chroniken“ zu schreiben, starb Jelzin, danach mein Vater – und so weiter, eine Todesparade, von klein bis groß und von oben bis unten: Eine andere Truppe spielt schon ein anderes Stück. Vielleicht liege ich falsch, aber darüber habe ich geschrieben. Die Vielzahl der fast namenlosen Protagonisten auf einer Fläche von den Karpaten bis nach Vladivostok und eine epische Beziehung zum Zeitverlauf erlauben mir, auf Grund der Unwiederbringlichkeit des Verlorenen mein Opus für etwas wie ein Epos zu halten. Es ist einfach so, dass lang zu schreiben mir wie eine Gier des Schriftstellers erscheint, und kurz zu schreiben wie Großzügigkeit. Der letzte Satz des Buches lautet: „Weil das Leben kein Ort für Urlaub ist.“ Ist das Pessimismus oder Optimismus? Außerdem ist das lang erwartete Buch mit Illustrationen erschienen, wovon ich immer geträumt habe – dass Federzeichnungen vor jedem Kapitel stehen, wie in Abenteuerbüchern für Kinder! Der Traum ist erfüllt. Die ausgezeichnete Moskauer Malerin Tanja Nazarenko hat das Manuskript eine Nacht über durchgelesen, zwei Tage lang gezeichnet und zwei Monate später ist das Buch erschienen. Ich hatte schon mal Erzählungen und Bücher mit mehr Inspiration, aber es gab bisher kein wichtigeres. Wenn ich mich irre, heißt es, dass ich an meiner Zeit komplett vorbei lebe – aber ich bereue nichts, denn ich habe mehr getan, als ich konnte.

Das wilde Fleisch der Sprache - novinki
Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Das wilde Fleisch der Sprache

Igor’ Klechs doku­men­ta­risch-ästhe­ti­scher Radikalismus

 

KlechIgor’ Klech, geboren 1952 im ukrai­ni­schen Cherson, lebt seit 1994 in Moskau und schreibt Prosa, die von seinen Kri­ti­kern leicht­fertig als schwer­fällig bezeichnet wird. Er schreibt moder­nis­tisch und post­mo­dern – in Genres, die in keine der gän­gigen Schub­laden passen, mal mit einem scheinbar bio­gra­fisch fass­baren Autor und mal mit einem sich ent­zie­henden Erzähler. Gali­zien ist ebenso ein Thema in seinem Werk wie der lite­ra­ri­sche Gali­zi­en­text und das post­so­wje­ti­sche Moskau. Essay­is­ti­sches Erzählen und wis­sen­schaft­li­ches Erör­tern sind ihm ebenso Anliegen, wie die Lust, erst im Schreiben einen Gedanken durchzudenken.

 

novinki: Sie sind ein Autor mit einer ‚gemischten Her­kunft‘, einem abwechs­lungs­rei­chen Leben und einem Werk, das in keine lite­ra­ri­sche Schub­lade zu passen scheint. In welche würden Sie sich selbst ste­cken, um sich grob einzuordnen?

 

Igor’ Klech: Eine solche Rich­tung gibt es noch nicht, aber es wird sie mög­li­cher­weise geben. Kurz gesagt: Das ist Prosa, die Kunst der Prosa – so, wie sie Mandel’štam in der Vierten Prosa (Čet­vёr­taja proza) ver­standen hat. Es gibt eine Kunst des Geschich­ten­er­zäh­lens, die Bel­le­tristik. Nachdem die klas­si­sche Lite­ratur ihre Auf­gabe erfüllt hat, indem sie eine erschöp­fende Anzahl mensch­li­cher Typen und typi­scher Kol­li­sionen geschaffen hat, kommt es der Bel­le­tristik nun zu, dies alles auf eine zeit­ge­nös­si­sche Art „umzu­kleiden“, und das Limit ihrer Wün­sche ist es, als Vor­lage für ein Dreh­buch zu dienen. Das ist die „Trost­li­te­ratur“. Die „Lite­ratur des Urteils“ (Dostoevskij, Kafka, Brod­skij u. a.) ist aus meiner Sicht zu tota­litär – Macht­liebe, auch noch per­ver­tiert, hasse ich, obwohl ich Kafka über alles liebe. Auch sollte eine Lite­ratur der Suche exis­tieren: nicht als eine Methode, eine Geschichte zu erzählen, son­dern als ein Ver­fahren, sozu­sagen den Gedanken auf­zu­lösen – selbst von der Lebens­ohn­macht auf­zu­wa­chen und andere auf­zu­we­cken. Daher inter­es­sieren mich am meisten nicht vor­han­dene sym­bo­li­sche Genres, von denen man das Unge­wisse erwarten kann.

 

n.: Sie haben erwähnt, dass Sie im „Westen“ gerne als „Gali­zi­nist“ gelesen werden. Ihr 2009 erschie­nener Essay­band, Migra­tionen (Migracii), bedient zum Teil diese Erwar­tung. Was genau heißt es eigent­lich, „Gali­zi­nist“ zu sein? Welche Rolle spielt das gali­zi­sche Thema – für Sie per­sön­lich und für Ihr Schreiben?

 

K.: Hm, wahr­schein­lich ist es für west­liche Über­setzer, Her­aus­geber und Leser bequemer, mich und meine Essays so wahr­zu­nehmen. Wie Gender, Natio­na­lität, Sprache werden auch die Orte, wo der meiste und beste Teil des Lebens ver­laufen ist, zu deinem Los (einem macht­losen), wel­ches du im besten Fall als Schicksal (mus­ku­löses) anzu­nehmen in der Lage bist, so dass es dann zum Thema (künst­le­ri­schen) werden kann.

Ich habe mich immer als nie­manden sonst außer als Russen ange­sehen, aber ich hatte Glück, dass meine durchs Land umher­ir­renden Eltern Ende der 1950er Jahre in der West­ukraine sess­haft wurden und in mir die ukrai­ni­schen, pol­ni­schen, litaui­schen Vor­fahren zum Leben und zur Sprache geweckt wurden, diese ewig zer­strit­tene Sippe. Die mit­tel­eu­ro­päi­sche Sphäre, die urbane und die dörf­liche, die natur­ge­ge­bene und die his­to­ri­sche, hat es mir erlaubt, in den Geschmack der süßen Gifte des öster­rei­chisch-habs­bur­gi­schen Impe­riums zu kommen, was mich hell­hörig, aber unemp­find­lich ihnen gegen­über gemacht hat – ich habe eine Injek­tion und Imp­fung der eigenen Sorte erhalten. Viel später habe ich ver­standen, dass sich hier die Mühl­steine der ger­ma­ni­schen und sla­wi­schen Welten drehen, und dies meist töd­lich, aber des teuren Preises wert.

Was Gali­zien angeht, so ist es ein Ein­zel­fall, dass eine ganze Region nach den Gesetzen eines Dorfes orga­ni­siert ist und sich ver­zwei­felt gegen die Glo­ba­li­sie­rung wehrt – im wert­freien Sinn. Das ver­dammte Moskau geis­tert immer noch jede Nacht in meinen Träumen, obwohl ich hier schon das sech­zehnte Jahr überlebe.

 

n.: Wie sind Sie darauf gekommen, ihren Beruf als Glas­maler bzw. ‑restau­rator für die unsi­chere Exis­tenz eines Schrift­stel­lers aufzugeben?

 

K.: Der Beruf des Glas­ma­lers war eine Not­lö­sung: Unter den Bedin­gungen des Sozia­lismus war das eine Mög­lich­keit so zu leben, als ob es ihn nicht geben würde. Geschrieben habe ich seit der Schul­zeit, habe rus­si­sche Lite­ratur an der L’viver Uni­ver­sität stu­diert, aber nachdem ich mich über­zeugt hatte, dass man dem Diktat der ver­hassten Ideo­logie nur ent­gehen kann, wenn man sich auf den sozialen Boden­satz begibt, traf ich eine Ent­schei­dung: „Wenn ich nicht das machen darf, was ich möchte, dann werde ich wenigs­tens nicht das tun, was ich nicht möchte.“ Zum Bei­spiel die Vor­träge Brež­nevs mit­zu­schreiben und Schüler zu ver­töl­peln. Jemand wurde Haus­meister und jemand Schorn­stein­feger. Ich hatte das Glück, dass sich im geschichts­träch­tigen L’viv für mich die Arbeit als Glas­re­stau­rator gefunden hat. So ergab sich die Gele­gen­heit, auf eigenes Risiko unab­hängig in der Under­ground-Künst­ler­szene mit meiner eigenen Angst zu leben. Ich bin diesem Beruf dankbar, aber ich bin da ein Hand­werker geblieben, wie es viele gibt.
Mich gänz­lich als Schrift­steller ver­wirk­li­chen konnte ich erst, als ich mich von der Glas­ma­lerei und L’viv ver­ab­schie­dete und umge­zogen bin – wie mit dem Kopf in ein Eis­loch. Allein das Gefühl der erfüllten Bestim­mung – das Glück der ver­spä­teten Rea­li­sie­rung und eine Arbeit nach Nei­gung bis zur Abnut­zung – ent­lohnt alle Nach­teile und Schwie­rig­keiten der eigenen Situa­tion. Es ist eine Sünde sich zu beklagen, wenn du in den Augen vieler als geschickt und fast als ein Glücks­pilz giltst.

 

n.: Es hat Kon­junktur, L’viv als ein oder auch DAS Zen­trum des ukrai­ni­schen Under­grounds zu sehen. Einige bekannte west­ukrai­ni­sche Autoren beziehen sich auf das vor­so­wje­ti­sche L’viv, wenn sie in ihrer eigenen Bio­grafie das Oppo­si­tio­nelle betonen – wel­ches Ver­hältnis haben Sie dazu?

 

K.: Es gibt die ukrai­ni­sche Kultur und die Kultur der Ukraine, und das ist nicht das­selbe, was man aber in L’viv nicht ver­stehen möchte: Odessa und Charkiv sind keine weniger bedeut­samen kul­tu­rellen und künst­le­ri­schen Zen­tren der Ukraine. Aber es gibt die Schön­heit der Oppo­si­tionen, und die Bipo­la­rität schmückt die Kul­turen vieler Länder: Wie Moskau und Peters­burg in Russ­land, War­schau und Krakau in Polen, so schaffen auch Kyïv und L’viv in der Ukraine eine beson­dere Pola­ri­sie­rung der Poten­tiale, ent­spre­chend fließt Strom, es ent­stehen Ent­la­dungen, die Funken sprühen. Die künst­le­ri­schen Tra­di­tionen des Under­grounds waren in L’viv immer stark, aber nicht in der Lite­ratur, und schon lange nicht in der zeit­ge­nös­si­schen ukrai­ni­schen. Durch L’viv, die Haupt­stadt der Region, sind ein­fach die Ukrainer der gesamten West­ukraine gefahren oder haben diese Stadt mit Pietät behandelt.
L’viv selbst ist in lite­ra­ri­scher Hin­sicht längst unfruchtbar wie ein Durch­gangs­lager: Lyšeha ist aus Tys­mie­nyca nach Kyïv, Rja­bčuk ist eben dorthin, Andruchovyč ist aus Ivano-Frankivs’k nach Berlin, Izdryk ist zurück nach Kaluš, Čubaj – in die Welt der Toten. Im Übrigen bin ich in allen anderen Bezie­hungen außer der lite­ra­ri­schen damit ein­ver­standen. Obwohl ich es vor­ziehen würde, dass L’viv als das Tor der Ukraine in die große Welt dienen würde, statt den zwei­fel­haften Titel der Haupt­stadt der Mar­gi­na­li­sierten zu tragen.
Und glauben Sie nicht der hart­nä­ckigen Idea­li­sie­rung des öster­rei­chisch-unga­ri­schen Impe­riums und des Vor­kriegs­po­lens, wo ukrai­ni­sche Gali­zier Leute der letzten Sorte waren (erin­nern Sie sich zumin­dest an die Geschichte des Oberst Redl und die Emi­gra­tion ganzer Dörfer von hier über den Ozean. Zu 10% ist das Iden­ti­täts­suche und zu 90% – den Mos­ko­wi­tern den Vogel zeigen. Ich könnte meine Behaup­tung argu­men­tativ unter­mauern und illus­trieren, möchte aller­dings nicht auf das Ver­ständ­nis­ni­veau der drü­ckenden Mehr­heit der Oppo­nenten absteigen. Wenn jedes Argu­ment gelegen kommt, ist eine Dis­kus­sion nicht mög­lich. Ein ernstes Gespräch ist unaus­weich­lich, aber man muss abwarten.

 

n.: Wie gehen Sie damit um, dass man Ihnen eine „impe­riale“ Per­spek­tive unter­stellt und man Sie leicht – von ver­schie­denen Leser­gruppen aus – als unbe­quem wahr­nehmen kann?

 

K.: Die Ant­wort ist ein­fach und ohne Koket­terie: Ich bin Non­kon­for­mist und keine Formen des Grup­pen­be­wusst­seins sind für mich rich­tungs­wei­send. Wenn man dir etwas andichtet, ist es zwar unan­ge­nehm, aber wie Čechov seinem älteren Bruder geschrieben hat: Recht­fer­tige dich nie, selbst wenn die Zei­tungen dru­cken, du seist ein Geld­fäl­scher. Was Russ­land angeht – heute es kein Impe­rium, son­dern ein Großes Land und PROJEKT, was anzu­er­kennen einigen Ein­woh­nern kleiner und unselbst­stän­diger Länder unmög­lich oder für sie belei­di­gend ist. Und für die rei­chen und starken Länder ist es bequem, ihre Unzu­frie­den­heit für eigene Inter­essen zu nutzen. Leider hat sich hier seit 1000 Jahren nichts Wesent­li­ches geän­dert. Der­zeit wütet die ukrai­nisch-rus­si­sche Polemik um sich. Um Obses­sionen und halb­ge­bil­dete Angriffe los­zu­werden, musste ich das vor ein paar Jahren in Moskau erschie­nene Buch West­liche Ränder des rus­si­schen Impe­riums (Zapadnye okrainy Ros­s­ijskoj imperii) kaufen, eine gemein­same Arbeit pro­fes­sio­neller His­to­riker – seitdem hat das Herz­spannen nach­ge­lassen. Das Buch ist weder pro- noch anti­rus­sisch, son­dern wis­sen­schaft­lich, mit Ver­weisen auf Quellen, mit begrün­deten Fakten und Kom­men­taren, aus­ge­wogen wie eine wert­freie Exper­tise der ana­ly­ti­schen Abtei­lung des Minis­te­riums für Aus­wär­tige Ange­le­gen­heiten irgend­eines 19. Jahr­hun­derts. Was für ein Glück, dass nicht alle ver­rückt geworden sind.
Übri­gens, die Zukunft der Ukraine ent­scheidet sich heute auf der Ebene des Kampfes zweier Kon­zep­tionen. Ist es ein Land, wo Berge, Meere, Wälder, Steppen, große Flüsse, natür­liche Res­sourcen, öko­no­mi­sches und demo­gra­fi­sches Poten­tial, eth­ni­sche, sprach­liche und kul­tu­relle Viel­falt (Ukrainer und Gali­zier, Russen und Rus­sisch­spra­chige, Juden, Krim­ta­taren, Huzulen, Rus­sinen u.a.) und meh­rere Kon­fes­sionen (Ortho­doxe, Katho­liken, Mos­lems) exis­tieren – klar, was ich meine? Oder siegt das Para­digma „ein Volk, eine Sprache, ein Glaube, eine Partei, ein Führer“ (in seiner wei­chen Vari­ante, dem Polen Pił­sud­skij ähn­lich), also eine archai­sche Kon­zep­tion eines mono-eth­ni­schen, homo­genen Staats, auf­ge­sam­melt auf dem Müll­haufen der Geschichte?

 

n.: Zahl­reiche Texte, die sich mit L’viv beschäf­tigen, sind Gedichte. Von Ihnen ist mir keines bekannt, auch sonst keine Lyrik. Wie kommt es, dass sie aus­schließ­lich Pro­saist sind?

 

K.: Es gibt vier Genres, in denen ich nicht arbeite. Mit ein­zelnen Aus­nahmen sind es Gedichte, Publi­zistik, der Roman (da ich ihn für abge­storben, epi­go­nen­haft, für geschickt ver­packte Ware halte, mit dessen Pro­duk­tion ein­ander über­ho­lende Bel­le­tristen beschäf­tigt sind) sowie das Drama (die ober­fläch­li­chen Wel­len­be­we­gungen mensch­li­cher Bezie­hungen inter­es­sieren mich wenig, obwohl es Aus­nahmen gibt). Aus allem anderen – aus der Pro­sa­kunst, der Essay­istik und doku­men­ta­ri­schen Genres schaffe ich diesen oder jenen „Cock­tail“. Ich will nie­mandem etwas erzählen, son­dern selbst etwas erfahren. Und wenn es für mich inter­es­sant wird, dann wird es für meinen Leser nicht uninteressant.

 

n.: Wenn wir schon bei der gestal­te­ri­schen Ebene ange­kommen sind: Es fällt einer­seits die hohe meta­pho­ri­sche Dichte auf, die Ihre Prosa poe­tisch macht, und ande­rer­seits der ständig durch­schim­mernde oder bewusst signa­li­sierte Bezug zu Ihrer Bio­grafie und zur Zeit­ge­schichte. Haben Sie dabei ein bestimmtes Ziel?

 

K.: Der sti­lis­ti­sche Pro­zess des Alterns kann wie ein all­mäh­li­cher Ver­zicht auf den Gebrauch der Meta­pher zugunsten der Met­onymie beschrieben werden. Wenn Meta­phern in meinen Texten immer noch anzu­treffen sind, so heißt das, dass ich noch nicht gänz­lich alt geworden bin. Ande­rer­seits haben mich rohe Doku­mente und doku­men­ta­ri­sche Genres schon seit dem Stu­den­ten­alter bewegt. Seit ich dreißig geworden bin, konnte ich ein­fach nichts mehr lesen, was in rea­lis­ti­schen Kon­ven­tionen geschrieben war (wenn es kein klas­si­sches, per defi­ni­tionem mytho­lo­gi­sches Werk ist), ebenso die meisten meiner Bekannten (was viele nicht gerne zugeben). Ich schätze nur das wilde Fleisch der Sprache und von dem Aus­ge­dachten nur den Fie­ber­wahn, die Hal­lu­zi­na­tionen, nur echtes Blut und Schweiß, keines von der Lein­wand. Schon lange ist kein Extre­mismus mehr dabei – nur ästhe­ti­scher Radi­ka­lismus. Ich liebe anspruchs­volle popu­lär­wis­sen­schaft­liche Lite­ratur und übe mich selbst mit rie­sigem Ver­gnügen in diesem Genre, um mich zu erholen und Geld zu ver­dienen, obwohl der Hedo­nismus einem Pro­sa­iker nicht gut bekommt. Ein Ziel? Die Bestim­mung erfüllen, ein anderes gibt es nicht. Mit Pro­zenten all das zurück­geben, was ich vom Freu­den­be­cher des Lebens erhalten habe, die ganze Wehmut bei mir behaltend.

 

n.: Hin und wieder schreiben Kri­tiker, dass man bei Ihnen „barocke Prosa“ vor­fände – man könnte es als eine an Ver­zie­rungen reiche, schwer les­bare Kost ver­stehen. Oder hat es etwas mit einer tex­tu­ellen Suche nach rhe­to­ri­schen Vor­bil­dern wie Nikolaj Gogol’ und Bruno Schulz zu tun? Ihre Geister spuken an ver­schie­denen Stellen in ihrem Oeuvre. Wel­chen Platz nehmen sie in ihrem jüngsten Buch ein?

 

K.: Es gab auch mal den Barock bei mir, ich habe mich oft ver­än­dert und nicht (nur?) wenige Räder erfunden. Moskau – das ist nicht nur eine „kul­tu­relle Repa­tria­tion“, son­dern auch eine Art „Arbeit“, unser „inneres Ame­rika“, und ein gigan­ti­scher „Destil­lator, um einen all­rus­si­schen Selbst­ge­brannten zu 40%igem Alko­hol­ge­halt zu bringen“ (ver­zeihen Sie die Auto­zi­tate). Der Schick­sals­wechsel nach vierzig Jahren hat mir unglaub­lich viel gegeben. Aber leider bin ich erst zur Lite­ratur als Kunst gekommen, als sie ihr Toten­mahl gefeiert hat. Heute ist das nur Produktion.
Das Buch, über das Sie spre­chen, erscheint, so Gott will, in diesem Jahr in kleiner Auf­lage, finan­ziert durch ein Sti­pen­dium, und wird irgend­wann von irgend­je­mandem gelesen. Mein Land benö­tigt es noch nicht. Es besteht aus einem halben Hun­dert Essays über bedeu­tende Bücher und ihre Autoren: von Cäsar (Autor des besten Buches über den Krieg) und Plut­arch (Erfinder des bio­gra­fi­schen Genres), über Mon­taigne (Erfinder des essay­is­ti­schen Genres), Pascal, Rous­seau, Adam Smith, Darwin, Napo­leon und Nietz­sche, Poe, Puškin, Gogol’, Tol­stoj, Pla­tonov mit Nabokov und Schulz bis zu einigen zeit­ge­nös­si­schen Autoren. In diesem Buch beute ich den „bio­gra­fi­schen Zugang“ zur Lite­ratur aus: Der Schlüssel zum Text liegt im Autor, der Schlüssel zum Autor – im Text.
All diese Texte habe ich übri­gens zwei­fach ver­kauft, und einige auch drei­fach – als Vor­worte zu sehr teuren Büchern in einer Auf­lage von 100 Exem­plaren für die „neuen Russen“ und fast umsonst einigen Zei­tungen mit einer Auf­lage von einigen Tau­send Exem­plaren und dicken Lite­ra­tur­zeit­schriften. „Die unsicht­bare Hand des Markts“ fühle ich heute auf dem eigenen Hals – danke dir, Adam Smith.

 

n.: Ein anderes sehr junges Buch, das Sie ihr opus magnum nennen, sind die Chro­niken des Jahres 1999 (Chroniki 1999 goda). Eine pes­si­mis­ti­sche und zyni­sche Abrech­nung mit der post­so­wje­ti­schen ukrai­ni­schen und rus­si­schen Situa­tion, der immer ein wenig fehlt, um rund zu laufen…

 

K.: Ver­zeihen Sie den Tru­ismus, aber nur Tote haben keine Pro­bleme. Aus meiner Sicht ist es im Gegen­teil ein opti­mis­ti­sches Werk dar­über, wie schwer ein gesamtes großes Land gesund wird, Abstand vom Todes­rand gewinnt. Meine beschei­dene und fast anonyme (wie bei Proust) bio­gra­fi­sche Erzäh­lung (eines unty­pi­schen Ras­tignac) schreibt sich, wie mir scheint, ideal in dieses Sujet ein. Anfangs sollte es eine Erzäh­lung über den Tod meiner Mutter sein, und es gab eine Mög­lich­keit, sie in der Schweiz zu schreiben, aber ich habe die Aus­füh­rung der Idee auf viele Jahre ver­legt – und es war richtig. Unbe­wusst habe ich gespürt, dass die Geschichte nicht beendet ist, so lange mein Vater lebt. Später habe ich ver­standen, dass in diesem unglück­se­ligen Jahr meine Mutter nicht anders konnte als zu sterben. Es wurde ein Kul­mi­na­ti­ons­jahr (in Erwar­tung des „Mil­le­niums“) und ein Wen­de­jahr vom „Steine schmeißen“ zu ihrem „Auf­sam­meln“. Ein Jahr der zwei Kriege – in Ser­bien und auf dem Kau­kasus, der Explo­sion von Wohn­häu­sern in Moskau, der Abdan­kung des „Zaren Boris“ und der Ankunft Putins, der Abreise meiner Tochter nach Israel und meiner Fahrt mit der Transsib, des Todes meiner Mutter – alles hat sich mit­ein­ander ver­webt. Als ich end­lich ange­fangen habe, die „Chro­niken“ zu schreiben, starb Jelzin, danach mein Vater – und so weiter, eine Todes­pa­rade, von klein bis groß und von oben bis unten: Eine andere Truppe spielt schon ein anderes Stück. Viel­leicht liege ich falsch, aber dar­über habe ich geschrieben. Die Viel­zahl der fast namen­losen Prot­ago­nisten auf einer Fläche von den Kar­paten bis nach Vla­di­vostok und eine epi­sche Bezie­hung zum Zeit­ver­lauf erlauben mir, auf Grund der Unwie­der­bring­lich­keit des Ver­lo­renen mein Opus für etwas wie ein Epos zu halten. Es ist ein­fach so, dass lang zu schreiben mir wie eine Gier des Schrift­stel­lers erscheint, und kurz zu schreiben wie Groß­zü­gig­keit. Der letzte Satz des Buches lautet: „Weil das Leben kein Ort für Urlaub ist.“ Ist das Pes­si­mismus oder Opti­mismus? Außerdem ist das lang erwar­tete Buch mit Illus­tra­tionen erschienen, wovon ich immer geträumt habe – dass Feder­zeich­nungen vor jedem Kapitel stehen, wie in Aben­teu­er­bü­chern für Kinder! Der Traum ist erfüllt. Die aus­ge­zeich­nete Mos­kauer Malerin Tanja Naza­renko hat das Manu­skript eine Nacht über durch­ge­lesen, zwei Tage lang gezeichnet und zwei Monate später ist das Buch erschienen. Ich hatte schon mal Erzäh­lungen und Bücher mit mehr Inspi­ra­tion, aber es gab bisher kein wich­ti­geres. Wenn ich mich irre, heißt es, dass ich an meiner Zeit kom­plett vorbei lebe – aber ich bereue nichts, denn ich habe mehr getan, als ich konnte.