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„Ich bin ein Mensch ohne Biografie.“ Im Gespräch mit Serhij Zhadan

Posted on 12. Juli 2013 by Tatjana Hofmann
Lesung im Literaturhaus in Zürich, Teilnahme bei der Leipziger Buchmesse, auf Tournee durch die Ukraine mit seiner Band Sobaki v kosmose (Hunde im Kosmos) und immer präsenter in den deutschsprachigen Medien mit seinem letzten Buch "Die Erfindung des Jazz im Donbass": Der ostukrainische Autor Serhij Zhadan etabliert sich europaweit. "novinki" hat Zhadan in Zürich spontan auf ein Bier eingeladen, um eine kleine Bestandsaufnahme zu machen.

Lesung im Literaturhaus in Zürich, Teilnahme bei der Leipziger Buchmesse, auf Tournee durch die Ukraine mit seiner Band "Sobaki v kosmose" (Hunde im Kosmos) und immer präsenter in den deutschsprachigen Medien mit seinem letzten Buch "Die Erfindung des Jazz im Donbass": Der ostukrainische Autor Serhij Zhadan etabliert sich europaweit. novinki hat Zhadan in Zürich spontan auf ein Bier eingeladen, um eine kleine Bestandsaufnahme zu machen.

 

novinki: Was sollten Ihre Leser über Sie als Autor wissen?

 

Serhij Zhadan: Ich kann nichts Wichtiges über mich berichten. Auch wenn es banal klingen mag, ist das Wichtigste in den Büchern. Ganz objektiv – ich bin ein Mensch ohne Biografie. Also ist es besser, einfach meine Texte zu lesen.

 

n.: Ihre Lesungen sind dynamisch, Ihre Auftritte mit der Ska-Band "Sobaki v kosmose" ziehen viele ZuhörerInnen an. Brauchen Sie die Bühne?

 

S.Zh.: Mich interessiert der Moment des Kontakts mit dem Leser, Zuhörer. Mir ist die Antwortreaktion wichtig und die Möglichkeit zum Dialog. Der Prozess des Auftritts selbst hingegen nicht.

 

n.: Sie waren früher Literaturwissenschaftler. Welche Autoren waren Ihnen wichtig?

 

S.Zh.: Ich bin mit den üblichen Klassikern der ukrainischen und russischen Literatur aufgewachsen. In meiner Kindheit galt es als grosser Erfolg, ein Buch von Dumas oder von Cooper zu besorgen. Das ist wahrscheinlich für den europäischen Bürger schwer vorstellbar. Und für die zeitgenössischen jungen Ukrainer wohl auch. Aber wir haben zu unserer Zeit die Bücher noch gejagt. Wahrscheinlich waren die ersten „erwachsenen“ Schriftsteller, die ich selbständig und freiwillig gelesen habe, Ševčenko und Gogol’. Die Beziehung zum Erstgenannten hat nicht so ganz geklappt, aber Gogol’ hat mich wirklich beeinflusst. Und beeinflusst mich immer noch. Als Jugendlicher, also als „ich beschlossen habe, Dichter zu werden“, habe ich für mich die Poesie des beginnenden 20. Jahrhunderts entdeckt – die ukrainische Erschossene Renaissance (Chvyl’ovyj, Svidzins’kyj, Plužnyk), russische Poesie (natürlich Majakovskij und natürlich Chlebnikov). Später habe ich für mich den ukrainischen Futurismus entdeckt.

Manchmal schreiben ukrainische Kritiker über den Einfluss der Beatniks auf mein Schreiben. In Wirklichkeit haben sie mir nie besonders gefallen. Ich mag Bukowski, aber ich habe ihn spät gelesen, erst im „reifen“ Alter. Mir war – wie wahrscheinlich auch den Gleichaltrigen, die in der Poesie der 1990er Jahre debütiert haben – das Beispiel älterer Kollegen wichtig: Die Dichtergeneration der sogenannten 80er. Sie haben uns demonstriert, wie anders die ukrainische Poesie sein kann, wie wenig sie dem ähneln muss, was man uns in der Schule beigebracht hat.

 

n.: Welche Rolle spielt der ukrainische Futurismus für Sie?

 

S.Zh.: Der Futurismus ist unzweifelhaft wichtig – als Ideologie und als poetische Schule. Der ukrainische Futurismus ist sehr interessant, vor allem die Figur seines Begründers Mychajl Semenko. Er ist ein äusserst feiner und tiefer Lyriker, experimentell und innovativ. Zudem ein origineller Ideologe. Insgesamt ist der ukrainische Futurismus wahrscheinlich jene Seite unserer Poesie, die am meisten unterschätzt wird. Man mag ihn nicht, man hat Angst vor ihm, man verzichtet auf ihn. Und das, obwohl Semenko von den Dichtern sogar zur Sowjetzeit, als er komplett verboten gewesen ist, für eine Autorität gehalten wurde. Ich hatte das Glück, mich mit dem letzten Schüler von Semenko zu unterhalten. Er hat in uns jungen Dichtern die Fortsetzung dessen gesehen, was seine Kollegen in den 1920er bis 1930er Jahren gemacht haben und brachte uns (teilweise unverdiente) grosse Sympathie entgegen. Im Grunde hat er mir die Charkiver Literatur jener Zeit eröffnet, einen spannenden historischen Abschnitt.

 

n.: Was brennt Ihnen aktuell unter den Nägeln?

 

S.Zh.: Mich interessiert vor allem die Realität um mich herum, ihre Grenzen, ihre Möglichkeiten. Darin liegt sicherlich ein Schatten des Realismus, aber ich denke, man sollte eine solche Literatur nicht im Ernst als realistische bezeichnen.Die Probleme liegen in dem Staat, in der Gesellschaft. Der Staat ist totalitär. Die Gesellschaft ist passiv. Mir gefällt es dabei nicht, dass die Bürger nicht das Bedürfnis haben, ihre Rechte einzufordern. Ich versuche darüber zu sprechen, insofern dies möglich ist.

 

n.: Sind Sie eine Art literarischer Ethnologe der (Ost-)Ukraine?

 

S.Zh.: Eher Soziologe. Oder einfach Blogger. Ich führe tatsächlich einen wöchentlichen Blog. Dort schreibe ich die irgendwie bedeutsamen Sachen auf, die mit mir oder um mich herum passieren. So entsteht eine Art Tagebuch. Ich habe zwar nicht vor, es irgendwo zu publizieren, aber die Leute lesen es und reagieren darauf.

 

n.: Sie haben in Zürich Ihr neues Buch gemeinsam mit Jurko Prochasko präsentiert. Prochasko steht eher für die anachronistisch anmutende Sehnsucht der (West-)Ukraine nach mitteleuropäischer Zugehörigkeit. Sehen Sie sich als Mittel- oder Osteuropäer?

 

S.Zh.: Nun, ich bin natürlich ein Mensch aus dem Osten. Die Idee Mitteleuropas, die österreichisch-habsburgische Nostalgie und das „Stanislauer Phänomen“ liegen mir fern. Aber ich mag seine Adepten. Die Lesung im Literaturhaus ist dynamisch verlaufen – Jurko spürt und weiss alles sehr gut, das konnte auch gar nicht anders sein. Ich habe eine gute Beziehung zu westukrainischen Autoren und Intellektuellen, ungeachtet der verschiedenen politischen und weltanschaulichen Positionen. Ich denke, uns alle eint die Sprache – in der Ukraine ist die Sprachenfrage bis jetzt ein wichtiger Bestandteil der Selbstidentifikation. Mir scheint, dass in dem Konzept Mitteleuropa mehr Ästhetik als Politik drin ist – ein bewusster Konservatismus, eine speziell durchdachte Taktik der Hermetik. Das kann nach Stil aussehen. Obwohl ich mit Ihnen vollkommen einverstanden bin, dass es anachronistisch ist.

 

n.: Verfolgen Sie die Rezensionen Ihres neuen Buchs "Erfindung des Jazz im Donbass" in der deutschsprachigen Presse?

 

S.Zh.: Natürlich interessiert mich die Reaktion der deutschen Kritiker. Obwohl es mir scheint, dass es sich in der Mehrzahl der Fälle nicht so sehr um eine Kritik des Buchs handelt, sondern um eine Reaktion auf die darin beschriebene Realität. Meist lenken die Kritiker ihre Aufmerksamkeit auf den Inhalt, auf eine gewisse „Wildheit“ und Unechtheit unserer Wirklichkeit. Wahrscheinlich erscheint die ukrainische Realität aus der Sicht eines satten und erfolgreichen Schweizers oder Deutschen tatsächlich viel zu exotisch. Für uns ist das alles einfach nur alltäglich. Ich habe kein Interesse daran, Schreckensszenarien über mein Land auszudenken. Aber ich möchte auch nicht die scharfen, unangenehmen Momente vermeiden. Kurzum: Ich glaube, dass die russische und die polnische Literaturkritik besser spürt, was bei uns passiert, und wie das alles seinen Niederschlag in der Literatur findet. Das ist kein Vorwurf gegenüber den Kritikern – einige Dinge sind einfach nicht auf die Entfernung hin zu verstehen. Im Übrigen war mir immer die Präsenz von Ironie bei allem, was ich sage, wichtig. Pathos ist mir überhaupt nicht nah. Vielleicht trägt diese ironische Note beim Schreiben über im Grunde ernste Sachen zur Desorientierung bei. Aber für mich ist es selbstverständlich, die Welt so zu sehen.

 

n.: Wie würden Sie selbst über "Die Erfindung des Jazz im Donbass" urteilen, ich meine im Vergleich zu Ihren anderen Texten? 

 

S.Zh.: Aus meiner Sicht ist es mein gelungenster Text im Hinblick auf die künstlerischen Verfahren und den gewählten Ton. Ich wollte es genau so schreiben, wie ich es geschrieben habe. Das ist ein wichtiges Gefühl, wenn die Idee ihrer Realisierung entspricht.

 

n.: Warum taucht "Vorošilovhrad" – im Original der Titel des Buches und der Hauptschauplatz der Handlung – als Stadt gar nicht auf?

 

S.Zh.: Das ist eine Metapher. Eine Metapher der Erinnerung, der Vergangenheit, des Jenseits. Eine Stadt, die es nicht gibt, ein Land, das es nicht gibt, eine Vergangenheit, die es auch nicht zu geben scheint, welche dich aber nicht loslässt.

 

n.: Neben der sowjetischen Vergangenheit ist auch die Gegenwart in Ihren Texten sehr präsent. Verbinden Sie Ihre künstlerischen Aktivitäten mit politischem Engagement?

 

S.Zh.: Politik mache ich nicht, eher würde ich sagen, ich engagiere mich gesellschaftlich. Ich versuche, verschiedene Initiativen zu unterstützen, zuletzt die Bewegung für einen offenen Zugang von Krebspatienten zu Schmerzmitteln. Die Aktion hiess „Schmerzstopp“. Ich habe mich ausserdem der Initiative unserer Rechtschützer angeschlossen, die die öffentliche Aufmerksamkeit auf den Fall des nigerianischen Studenten Olaolu Femi lenken. Er wird beschuldigt, vier Ukrainer überfallen zu haben und sitzt seit über einem Jahr in Untersuchungshaft in Luhans’k. Mit der künstlerischen Tätigkeit hängt das wahrscheinlich gar nicht zusammen. Es ist einfach so, dass wenn man die Möglichkeit hat, eine richtige und notwendige Idee zu unterstützen – warum sollte man es nicht auch tun?

n.: Welche Rolle spielt dabei der Anarchismus?

 

S.Zh.: Für die Ukraine mit ihrer bedrohlichen Zentralisierung, dem Abgleiten ins Autoritäre und dem mächtigen Druck seitens des Staats ist das sehr aktuell. Wie widersteht man einem Staat, dessen Beziehung zu sich selbst mehr als feindlich ist, einem Staat, dessen einzige Funktion es ist, Steuern einzusammeln und die Macht zu schützen? Daher ist mir der Anarchismus mit seiner Idee der Nichtannahme der staatlichen totalitären Maschinerie wichtig. Generell haben wir im Land eine sehr komplizierte Beziehung zur linken Idee – hier zeigt sich die traurige Erfahrung der kommunistischen Epoche. Wahrscheinlich ist es das, was sich auf jeden Fall verändern wird – so oder so, ich bin der festen Überzeugung, dass es noch viel zu früh ist, die linke Idee abzuschreiben.

 

n.: Viele Linke werden später konservativ oder sogar rechts. Haben Sie keine Angst, dass Ihnen dies in 20 Jahren widerfährt?

 

S.Zh.: Ach, nein, davor habe ich keine Angst. Im Gegenteil, als ich 17 war, fand ich den Nationalismus und rechte Ideen interessant. Vielleicht musste ich da durch. Vielleicht auch nicht.

 

n.: In "Anarchy in the UKR" träumt der Protagonist davon, dass Huljajpole zum Touristenmekka für Anarchismus-Anhänger wird. Sie haben dort tatsächlich vor einigen Jahren das Machno-Festival ins Leben gerufen.Wie hat es sich entwickelt?

 

S.Zh.: Das Festival, das Machno gewidmet gewesen ist, hat in seiner Heimat, in dem Städtchen Huljajpole von 2006 bis 2009 stattgefunden. Sein Organisator war der Volksdeputat Oles’ Donij. Ich habe dieses Festival mit allen Mitteln unterstützt, da ich daran interessiert bin, den Namen Machnos zu popularisieren. Das war wohl das grösste Festival der zeitgenössischen Kultur in der Ostukraine. Es gab viele Widersprüche: Ungeachtet dessen, dass das Festival „anarchistisch“ gewesen ist, sind viele junge Nationalisten hingefahren. Ich nehme an, alle waren durch die ukrainische Sprache verbunden und die Idee des Aufstiegs der ukrainischen Kultur. In Wirklichkeit gab es den Anarchismus als solchen dort also gar nicht. Das Denkmal für Machno hat zum Beispiel der damalige Minister des MVD Jurij Lucenko eröffnet. Aber echte Probleme hatte das Festival mit der lokalen Machtstruktur und der Bevölkerung. Die Einheimischen haben die Fremden, ihre Kultur und Ästhetik nicht aufgenommen. Das ist ein sehr ukrainisches Merkmal, vor dem Fremden und vor Veränderungen Angst zu haben und nichts Neues aufzunehmen.

 

n.: Ist im letzten Jahrzehnt eine Festival-Kultur in der Ukraine entstanden?

 

S.Zh.: Wir haben im letzten Jahrzehnt einen Festival-Boom gehabt und ja, es hat sich eine ganze Festival-Kultur entwickelt. Im Sommer sind junge Leute von einem Festival zum nächsten gereist. Dabei hat man auch aktiv Schriftsteller dorthin eingeladen. Zum Teil hat es damit zu tun, dass unser Musik- und Literaturmarkt nicht allzu stark entwickelt ist, es gibt insgesamt wenig Auftritte und Konzerte und wenige Aktionen der zeitgenössischen ukrainischen Kultur. Die Festivals kompensieren dies bis zu einem bestimmten Grad. Wenn man von literarischen Festivals spricht, sollte man sich vor allem das Lemberger Herausgeberforum vergegenwärtigen, das seit den frühen 1990er Jahren existiert. Das Forum wird traditionell für das wichtigste literarische Ereignis des Landes gehalten. In den letzten Jahren hat das Festival Meridian Czernowitz sehr laut und ernsthaft auf sich aufmerksam gemacht – auch eine zukunftsträchtige Initiative. Und es gibt noch das Festival Kievskie lavry, das von der bemerkenswerten Zeitschrift Echo organisiert wird. Es ist vielleicht die wichtigste Plattform des ukrainisch-russischen literarischen Dialogs.

 

n.: Wie sieht die literarische Landschaft in der Ostukraine momentan aus?

 

S.Zh.: Im Vergleich mit der Westukraine ist sie wohl nicht so dicht. Andererseits transformiert sie sich zu etwas neuem. Ausserdem besteht im Osten ein Nebeneinander von russisch- und ukrainischsprachiger Literatur. Daraus entspringt eine aufregende neue Situation. Ich denke, dass die literarische Landschaft im Osten sich aktiv verändern wird, da ständig neue Namen und neue Plattformen auftauchen. Zudem befinden sich gerade im Osten der Ukraine, in Charkiv, die grössten ukrainischen Verlage.

n.: Welche Autoren aus der Ostukraine sollten ins Deutsche übersetzt werden?

 

S.Zh.: Lassen Sie mich jene nennen, die noch kaum oder gar nicht übersetzt worden sind: Das sind junge Autoren wie Saško Uškalov, Pablo Korobčuk, Bohdana Matijaš, Oksana Forostina, Oleh Kocarev, Anna Maligon, Anastasia Afanasieva und andere.

 

n.: In dieser Liste sind ukrainisch- und russischsprachige AutorInnen. Was ist für Sie ukrainische Literatur?

 

S.Zh.: Für mich ist das die Literatur, die in der Ukraine entstanden ist. Oder die von den Bürgern der Ukraine geschaffen wurde. Die mit der Ukraine verbunden ist. Ich glaube, die Ukrainer verzichten zu leicht und zu unbegründet auf eine grosse kulturelle Ebene, wenn sie sich nur auf das Sprachprinzip verlassen und alles, was z. B. auf Russisch, Polnisch oder Deutsch geschrieben wurde, wegfallen lassen. Ich denke, dass man jemanden wie Gogol’ sowohl als russischen als auch ukrainischen Autor begreifen müsste. Aber ich befürchte, dass viele mit mir da nicht einer Meinung sind.

 

n.: Welche Pläne haben Sie für die Zukunft?

 

S.Zh.: Im Moment schreibe ich ein neues Buch. Ich denke, dort wird es Prosa und Lyrik geben. Parallel dazu versuche ich mich als Übersetzer und möchte insbesondere ein Buch mit ausgewählten Gedichten von Paul Celan herausgeben. Ich finde Celan wegen seines Verhältnisses zur Sprache spannend – es ist sehr hart und sehr tief zugleich.

n.: Welche Bedeutung hat jüdische Literatur in der Ukraine?

 

S.Zh.: Celan ist wichtig vor allem als Dichter, da seine Herkunft mit der Ukraine verbunden ist. Er erinnert an den Mythos des alten Czernowitz, der ein Teil unserer Geschichte und Kultur ist. Aber vor allem ist er ein spannender Dichter.

 

n.: Ist er noch nicht ins Ukrainische übersetzt worden?

 

S.Zh.: Ach wo, es gibt viele Übersetzungen, aber sein gesamtes Werk ist nicht übersetzt. Ich möchte mit seinen späten Texten arbeiten. Ich hoffe, ich kann das Buch in diesem Jahr herausgeben.

 

n.: Treten Sie in Zukunft mit "Sobaki v Kosmose", deren musikalische Begleitung Ihrer Lesungen in Berlin sehr erfolgreich gewesen ist, auch in Zürich auf?

 

S.Zh.: Schwer zu sagen. Es ist nicht einfach, eine solche Tour durch die Schweiz zu organisieren. Wir treten jetzt viel in der Ukraine auf und haben vor, nach Polen zu fahren. Vielleicht auch nach Deutschland.

 

n.: Wann sehen wir Sie das nächste Mal im deutschsprachigen Raum?

 

S.Zh.: Seit Mai bin ich in Zug und beschäftige mich vor allem mit Celan.

 

Das Interview hat Tatjana Hofmann geführt und übersetzt.

Illustration von Nastasia Louveau

„Ich bin ein Mensch ohne Biografie.“ Im Gespräch mit Serhij Zhadan - novinki
Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

„Ich bin ein Mensch ohne Bio­grafie.“ Im Gespräch mit Serhij Zhadan

Lesung im Lite­ra­tur­haus in Zürich, Teil­nahme bei der Leip­ziger Buch­messe, auf Tournee durch die Ukraine mit seiner Band “Sobaki v kos­mose” (Hunde im Kosmos) und immer prä­senter in den deutsch­spra­chigen Medien mit seinem letzten Buch “Die Erfin­dung des Jazz im Don­bass”: Der ost­ukrai­ni­sche Autor Serhij Zhadan eta­bliert sich euro­pa­weit. novinki hat Zhadan in Zürich spontan auf ein Bier ein­ge­laden, um eine kleine Bestands­auf­nahme zu machen.

 

novinki: Was sollten Ihre Leser über Sie als Autor wissen?

 

Serhij Zhadan: Ich kann nichts Wich­tiges über mich berichten. Auch wenn es banal klingen mag, ist das Wich­tigste in den Büchern. Ganz objektiv – ich bin ein Mensch ohne Bio­grafie. Also ist es besser, ein­fach meine Texte zu lesen.

 

n.: Ihre Lesungen sind dyna­misch, Ihre Auf­tritte mit der Ska-Band “Sobaki v kos­mose” ziehen viele Zuhö­re­rInnen an. Brau­chen Sie die Bühne?

 

S.Zh.: Mich inter­es­siert der Moment des Kon­takts mit dem Leser, Zuhörer. Mir ist die Ant­wort­re­ak­tion wichtig und die Mög­lich­keit zum Dialog. Der Pro­zess des Auf­tritts selbst hin­gegen nicht.

 

n.: Sie waren früher Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler. Welche Autoren waren Ihnen wichtig?

 

S.Zh.: Ich bin mit den übli­chen Klas­si­kern der ukrai­ni­schen und rus­si­schen Lite­ratur auf­ge­wachsen. In meiner Kind­heit galt es als grosser Erfolg, ein Buch von Dumas oder von Cooper zu besorgen. Das ist wahr­schein­lich für den euro­päi­schen Bürger schwer vor­stellbar. Und für die zeit­ge­nös­si­schen jungen Ukrainer wohl auch. Aber wir haben zu unserer Zeit die Bücher noch gejagt. Wahr­schein­lich waren die ersten „erwach­senen“ Schrift­steller, die ich selb­ständig und frei­willig gelesen habe, Ševčenko und Gogol’. Die Bezie­hung zum Erst­ge­nannten hat nicht so ganz geklappt, aber Gogol’ hat mich wirk­lich beein­flusst. Und beein­flusst mich immer noch. Als Jugend­li­cher, also als „ich beschlossen habe, Dichter zu werden“, habe ich für mich die Poesie des begin­nenden 20. Jahr­hun­derts ent­deckt – die ukrai­ni­sche Erschos­sene Renais­sance (Chvyl’ovyj, Svidzins’kyj, Plužnyk), rus­si­sche Poesie (natür­lich Maja­kovskij und natür­lich Chleb­nikov). Später habe ich für mich den ukrai­ni­schen Futu­rismus entdeckt.

Manchmal schreiben ukrai­ni­sche Kri­tiker über den Ein­fluss der Beat­niks auf mein Schreiben. In Wirk­lich­keit haben sie mir nie beson­ders gefallen. Ich mag Bukowski, aber ich habe ihn spät gelesen, erst im „reifen“ Alter. Mir war – wie wahr­schein­lich auch den Gleich­alt­rigen, die in der Poesie der 1990er Jahre debü­tiert haben – das Bei­spiel älterer Kol­legen wichtig: Die Dich­ter­ge­ne­ra­tion der soge­nannten 80er. Sie haben uns demons­triert, wie anders die ukrai­ni­sche Poesie sein kann, wie wenig sie dem ähneln muss, was man uns in der Schule bei­gebracht hat.

 

n.: Welche Rolle spielt der ukrai­ni­sche Futu­rismus für Sie?

 

S.Zh.: Der Futu­rismus ist unzwei­fel­haft wichtig – als Ideo­logie und als poe­ti­sche Schule. Der ukrai­ni­sche Futu­rismus ist sehr inter­es­sant, vor allem die Figur seines Begrün­ders Mychajl Semenko. Er ist ein äus­serst feiner und tiefer Lyriker, expe­ri­men­tell und inno­vativ. Zudem ein ori­gi­neller Ideo­loge. Ins­ge­samt ist der ukrai­ni­sche Futu­rismus wahr­schein­lich jene Seite unserer Poesie, die am meisten unter­schätzt wird. Man mag ihn nicht, man hat Angst vor ihm, man ver­zichtet auf ihn. Und das, obwohl Semenko von den Dich­tern sogar zur Sowjet­zeit, als er kom­plett ver­boten gewesen ist, für eine Auto­rität gehalten wurde. Ich hatte das Glück, mich mit dem letzten Schüler von Semenko zu unter­halten. Er hat in uns jungen Dich­tern die Fort­set­zung dessen gesehen, was seine Kol­legen in den 1920er bis 1930er Jahren gemacht haben und brachte uns (teil­weise unver­diente) grosse Sym­pa­thie ent­gegen. Im Grunde hat er mir die Charkiver Lite­ratur jener Zeit eröffnet, einen span­nenden his­to­ri­schen Abschnitt.

 

n.: Was brennt Ihnen aktuell unter den Nägeln?

 

S.Zh.: Mich inter­es­siert vor allem die Rea­lität um mich herum, ihre Grenzen, ihre Mög­lich­keiten. Darin liegt sicher­lich ein Schatten des Rea­lismus, aber ich denke, man sollte eine solche Lite­ratur nicht im Ernst als rea­lis­ti­sche bezeichnen.Die Pro­bleme liegen in dem Staat, in der Gesell­schaft. Der Staat ist tota­litär. Die Gesell­schaft ist passiv. Mir gefällt es dabei nicht, dass die Bürger nicht das Bedürfnis haben, ihre Rechte ein­zu­for­dern. Ich ver­suche dar­über zu spre­chen, inso­fern dies mög­lich ist.

 

n.: Sind Sie eine Art lite­ra­ri­scher Eth­no­loge der (Ost-)Ukraine?

 

S.Zh.: Eher Sozio­loge. Oder ein­fach Blogger. Ich führe tat­säch­lich einen wöchent­li­chen Blog. Dort schreibe ich die irgendwie bedeut­samen Sachen auf, die mit mir oder um mich herum pas­sieren. So ent­steht eine Art Tage­buch. Ich habe zwar nicht vor, es irgendwo zu publi­zieren, aber die Leute lesen es und reagieren darauf.

 

n.: Sie haben in Zürich Ihr neues Buch gemeinsam mit Jurko Pro­chasko prä­sen­tiert. Pro­chasko steht eher für die ana­chro­nis­tisch anmu­tende Sehn­sucht der (West-)Ukraine nach mit­tel­eu­ro­päi­scher Zuge­hö­rig­keit. Sehen Sie sich als Mittel- oder Osteuropäer?

 

S.Zh.: Nun, ich bin natür­lich ein Mensch aus dem Osten. Die Idee Mit­tel­eu­ropas, die öster­rei­chisch-habs­bur­gi­sche Nost­algie und das „Sta­nis­lauer Phä­nomen“ liegen mir fern. Aber ich mag seine Adepten. Die Lesung im Lite­ra­tur­haus ist dyna­misch ver­laufen – Jurko spürt und weiss alles sehr gut, das konnte auch gar nicht anders sein. Ich habe eine gute Bezie­hung zu west­ukrai­ni­schen Autoren und Intel­lek­tu­ellen, unge­achtet der ver­schie­denen poli­ti­schen und welt­an­schau­li­chen Posi­tionen. Ich denke, uns alle eint die Sprache – in der Ukraine ist die Spra­chen­frage bis jetzt ein wich­tiger Bestand­teil der Selbst­iden­ti­fi­ka­tion. Mir scheint, dass in dem Kon­zept Mit­tel­eu­ropa mehr Ästhetik als Politik drin ist – ein bewusster Kon­ser­va­tismus, eine spe­ziell durch­dachte Taktik der Her­metik. Das kann nach Stil aus­sehen. Obwohl ich mit Ihnen voll­kommen ein­ver­standen bin, dass es ana­chro­nis­tisch ist.

 

n.: Ver­folgen Sie die Rezen­sionen Ihres neuen Buchs “Erfin­dung des Jazz im Don­bass” in der deutsch­spra­chigen Presse?

 

S.Zh.: Natür­lich inter­es­siert mich die Reak­tion der deut­schen Kri­tiker. Obwohl es mir scheint, dass es sich in der Mehr­zahl der Fälle nicht so sehr um eine Kritik des Buchs han­delt, son­dern um eine Reak­tion auf die darin beschrie­bene Rea­lität. Meist lenken die Kri­tiker ihre Auf­merk­sam­keit auf den Inhalt, auf eine gewisse „Wild­heit“ und Unecht­heit unserer Wirk­lich­keit. Wahr­schein­lich erscheint die ukrai­ni­sche Rea­lität aus der Sicht eines satten und erfolg­rei­chen Schwei­zers oder Deut­schen tat­säch­lich viel zu exo­tisch. Für uns ist das alles ein­fach nur all­täg­lich. Ich habe kein Inter­esse daran, Schre­ckens­sze­na­rien über mein Land aus­zu­denken. Aber ich möchte auch nicht die scharfen, unan­ge­nehmen Momente ver­meiden. Kurzum: Ich glaube, dass die rus­si­sche und die pol­ni­sche Lite­ra­tur­kritik besser spürt, was bei uns pas­siert, und wie das alles seinen Nie­der­schlag in der Lite­ratur findet. Das ist kein Vor­wurf gegen­über den Kri­ti­kern – einige Dinge sind ein­fach nicht auf die Ent­fer­nung hin zu ver­stehen. Im Übrigen war mir immer die Prä­senz von Ironie bei allem, was ich sage, wichtig. Pathos ist mir über­haupt nicht nah. Viel­leicht trägt diese iro­ni­sche Note beim Schreiben über im Grunde ernste Sachen zur Des­ori­en­tie­rung bei. Aber für mich ist es selbst­ver­ständ­lich, die Welt so zu sehen.

 

n.: Wie würden Sie selbst über “Die Erfin­dung des Jazz im Don­bass” urteilen, ich meine im Ver­gleich zu Ihren anderen Texten? 

 

S.Zh.: Aus meiner Sicht ist es mein gelun­genster Text im Hin­blick auf die künst­le­ri­schen Ver­fahren und den gewählten Ton. Ich wollte es genau so schreiben, wie ich es geschrieben habe. Das ist ein wich­tiges Gefühl, wenn die Idee ihrer Rea­li­sie­rung entspricht.

 

n.: Warum taucht “Vor­oši­l­ovhrad” – im Ori­ginal der Titel des Buches und der Haupt­schau­platz der Hand­lung – als Stadt gar nicht auf?

 

S.Zh.: Das ist eine Meta­pher. Eine Meta­pher der Erin­ne­rung, der Ver­gan­gen­heit, des Jen­seits. Eine Stadt, die es nicht gibt, ein Land, das es nicht gibt, eine Ver­gan­gen­heit, die es auch nicht zu geben scheint, welche dich aber nicht loslässt.

 

n.: Neben der sowje­ti­schen Ver­gan­gen­heit ist auch die Gegen­wart in Ihren Texten sehr prä­sent. Ver­binden Sie Ihre künst­le­ri­schen Akti­vi­täten mit poli­ti­schem Engagement?

 

S.Zh.: Politik mache ich nicht, eher würde ich sagen, ich enga­giere mich gesell­schaft­lich. Ich ver­suche, ver­schie­dene Initia­tiven zu unter­stützen, zuletzt die Bewe­gung für einen offenen Zugang von Krebs­pa­ti­enten zu Schmerz­mit­teln. Die Aktion hiess „Schmerz­stopp“. Ich habe mich aus­serdem der Initia­tive unserer Recht­schützer ange­schlossen, die die öffent­liche Auf­merk­sam­keit auf den Fall des nige­ria­ni­schen Stu­denten Olaolu Femi lenken. Er wird beschul­digt, vier Ukrainer über­fallen zu haben und sitzt seit über einem Jahr in Unter­su­chungs­haft in Luhans’k. Mit der künst­le­ri­schen Tätig­keit hängt das wahr­schein­lich gar nicht zusammen. Es ist ein­fach so, dass wenn man die Mög­lich­keit hat, eine rich­tige und not­wen­dige Idee zu unter­stützen – warum sollte man es nicht auch tun?

n.: Welche Rolle spielt dabei der Anarchismus?

 

S.Zh.: Für die Ukraine mit ihrer bedroh­li­chen Zen­tra­li­sie­rung, dem Abgleiten ins Auto­ri­täre und dem mäch­tigen Druck sei­tens des Staats ist das sehr aktuell. Wie wider­steht man einem Staat, dessen Bezie­hung zu sich selbst mehr als feind­lich ist, einem Staat, dessen ein­zige Funk­tion es ist, Steuern ein­zu­sam­meln und die Macht zu schützen? Daher ist mir der Anar­chismus mit seiner Idee der Nicht­an­nahme der staat­li­chen tota­li­tären Maschi­nerie wichtig. Gene­rell haben wir im Land eine sehr kom­pli­zierte Bezie­hung zur linken Idee – hier zeigt sich die trau­rige Erfah­rung der kom­mu­nis­ti­schen Epoche. Wahr­schein­lich ist es das, was sich auf jeden Fall ver­än­dern wird – so oder so, ich bin der festen Über­zeu­gung, dass es noch viel zu früh ist, die linke Idee abzuschreiben.

 

n.: Viele Linke werden später kon­ser­vativ oder sogar rechts. Haben Sie keine Angst, dass Ihnen dies in 20 Jahren widerfährt?

 

S.Zh.: Ach, nein, davor habe ich keine Angst. Im Gegen­teil, als ich 17 war, fand ich den Natio­na­lismus und rechte Ideen inter­es­sant. Viel­leicht musste ich da durch. Viel­leicht auch nicht.

 

n.: In “Anarchy in the UKR” träumt der Prot­ago­nist davon, dass Hul­ja­j­pole zum Tou­ris­ten­mekka für Anar­chismus-Anhänger wird. Sie haben dort tat­säch­lich vor einigen Jahren das Machno-Fes­tival ins Leben gerufen.Wie hat es sich entwickelt?

 

S.Zh.: Das Fes­tival, das Machno gewidmet gewesen ist, hat in seiner Heimat, in dem Städt­chen Hul­ja­j­pole von 2006 bis 2009 statt­ge­funden. Sein Orga­ni­sator war der Volks­de­putat Oles’ Donij. Ich habe dieses Fes­tival mit allen Mit­teln unter­stützt, da ich daran inter­es­siert bin, den Namen Machnos zu popu­la­ri­sieren. Das war wohl das grösste Fes­tival der zeit­ge­nös­si­schen Kultur in der Ost­ukraine. Es gab viele Wider­sprüche: Unge­achtet dessen, dass das Fes­tival „anar­chis­tisch“ gewesen ist, sind viele junge Natio­na­listen hin­ge­fahren. Ich nehme an, alle waren durch die ukrai­ni­sche Sprache ver­bunden und die Idee des Auf­stiegs der ukrai­ni­schen Kultur. In Wirk­lich­keit gab es den Anar­chismus als sol­chen dort also gar nicht. Das Denkmal für Machno hat zum Bei­spiel der dama­lige Minister des MVD Jurij Lucenko eröffnet. Aber echte Pro­bleme hatte das Fes­tival mit der lokalen Macht­struktur und der Bevöl­ke­rung. Die Ein­hei­mi­schen haben die Fremden, ihre Kultur und Ästhetik nicht auf­ge­nommen. Das ist ein sehr ukrai­ni­sches Merkmal, vor dem Fremden und vor Ver­än­de­rungen Angst zu haben und nichts Neues aufzunehmen.

 

n.: Ist im letzten Jahr­zehnt eine Fes­tival-Kultur in der Ukraine entstanden?

 

S.Zh.: Wir haben im letzten Jahr­zehnt einen Fes­tival-Boom gehabt und ja, es hat sich eine ganze Fes­tival-Kultur ent­wi­ckelt. Im Sommer sind junge Leute von einem Fes­tival zum nächsten gereist. Dabei hat man auch aktiv Schrift­steller dorthin ein­ge­laden. Zum Teil hat es damit zu tun, dass unser Musik- und Lite­ra­tur­markt nicht allzu stark ent­wi­ckelt ist, es gibt ins­ge­samt wenig Auf­tritte und Kon­zerte und wenige Aktionen der zeit­ge­nös­si­schen ukrai­ni­schen Kultur. Die Fes­ti­vals kom­pen­sieren dies bis zu einem bestimmten Grad. Wenn man von lite­ra­ri­schen Fes­ti­vals spricht, sollte man sich vor allem das Lem­berger Her­aus­ge­ber­forum ver­ge­gen­wär­tigen, das seit den frühen 1990er Jahren exis­tiert. Das Forum wird tra­di­tio­nell für das wich­tigste lite­ra­ri­sche Ereignis des Landes gehalten. In den letzten Jahren hat das Fes­tival Meri­dian Czer­no­witz sehr laut und ernst­haft auf sich auf­merksam gemacht – auch eine zukunfts­träch­tige Initia­tive. Und es gibt noch das Fes­tival Kievskie lavry, das von der bemer­kens­werten Zeit­schrift Echo orga­ni­siert wird. Es ist viel­leicht die wich­tigste Platt­form des ukrai­nisch-rus­si­schen lite­ra­ri­schen Dialogs.

 

n.: Wie sieht die lite­ra­ri­sche Land­schaft in der Ost­ukraine momentan aus?

 

S.Zh.: Im Ver­gleich mit der West­ukraine ist sie wohl nicht so dicht. Ande­rer­seits trans­for­miert sie sich zu etwas neuem. Aus­serdem besteht im Osten ein Neben­ein­ander von rus­sisch- und ukrai­nisch­spra­chiger Lite­ratur. Daraus ent­springt eine auf­re­gende neue Situa­tion. Ich denke, dass die lite­ra­ri­sche Land­schaft im Osten sich aktiv ver­än­dern wird, da ständig neue Namen und neue Platt­formen auf­tau­chen. Zudem befinden sich gerade im Osten der Ukraine, in Charkiv, die grössten ukrai­ni­schen Verlage.

n.: Welche Autoren aus der Ost­ukraine sollten ins Deut­sche über­setzt werden?

 

S.Zh.: Lassen Sie mich jene nennen, die noch kaum oder gar nicht über­setzt worden sind: Das sind junge Autoren wie Saško Uškalov, Pablo Koro­bčuk, Boh­dana Matijaš, Oksana Foros­tina, Oleh Kocarev, Anna Maligon, Ana­stasia Afa­na­sieva und andere.

 

n.: In dieser Liste sind ukrai­nisch- und rus­sisch­spra­chige AutorInnen. Was ist für Sie ukrai­ni­sche Literatur?

 

S.Zh.: Für mich ist das die Lite­ratur, die in der Ukraine ent­standen ist. Oder die von den Bür­gern der Ukraine geschaffen wurde. Die mit der Ukraine ver­bunden ist. Ich glaube, die Ukrainer ver­zichten zu leicht und zu unbe­gründet auf eine grosse kul­tu­relle Ebene, wenn sie sich nur auf das Sprach­prinzip ver­lassen und alles, was z. B. auf Rus­sisch, Pol­nisch oder Deutsch geschrieben wurde, weg­fallen lassen. Ich denke, dass man jemanden wie Gogol’ sowohl als rus­si­schen als auch ukrai­ni­schen Autor begreifen müsste. Aber ich befürchte, dass viele mit mir da nicht einer Mei­nung sind.

 

n.: Welche Pläne haben Sie für die Zukunft?

 

S.Zh.: Im Moment schreibe ich ein neues Buch. Ich denke, dort wird es Prosa und Lyrik geben. Par­allel dazu ver­suche ich mich als Über­setzer und möchte ins­be­son­dere ein Buch mit aus­ge­wählten Gedichten von Paul Celan her­aus­geben. Ich finde Celan wegen seines Ver­hält­nisses zur Sprache span­nend – es ist sehr hart und sehr tief zugleich.

n.: Welche Bedeu­tung hat jüdi­sche Lite­ratur in der Ukraine?

 

S.Zh.: Celan ist wichtig vor allem als Dichter, da seine Her­kunft mit der Ukraine ver­bunden ist. Er erin­nert an den Mythos des alten Czer­no­witz, der ein Teil unserer Geschichte und Kultur ist. Aber vor allem ist er ein span­nender Dichter.

 

n.: Ist er noch nicht ins Ukrai­ni­sche über­setzt worden?

 

S.Zh.: Ach wo, es gibt viele Über­set­zungen, aber sein gesamtes Werk ist nicht über­setzt. Ich möchte mit seinen späten Texten arbeiten. Ich hoffe, ich kann das Buch in diesem Jahr herausgeben.

 

n.: Treten Sie in Zukunft mit “Sobaki v Kos­mose”, deren musi­ka­li­sche Beglei­tung Ihrer Lesungen in Berlin sehr erfolg­reich gewesen ist, auch in Zürich auf?

 

S.Zh.: Schwer zu sagen. Es ist nicht ein­fach, eine solche Tour durch die Schweiz zu orga­ni­sieren. Wir treten jetzt viel in der Ukraine auf und haben vor, nach Polen zu fahren. Viel­leicht auch nach Deutschland.

 

n.: Wann sehen wir Sie das nächste Mal im deutsch­spra­chigen Raum?

 

S.Zh.: Seit Mai bin ich in Zug und beschäf­tige mich vor allem mit Celan.

 

Das Inter­view hat Tat­jana Hof­mann geführt und übersetzt.

Illus­tra­tion von Nastasia Louveau