Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Im Osten nichts Neues? Eine Lite­ra­tur­gruppe aus Luhans’k beweist das Gegenteil

Illus­tra­tion: Nastasia Louveau

Wäh­rend AutorInnen aus der West­ukraine mit ihrer Euro­pa­sym­pa­thie in den letzten Jahren den deutsch­spra­chigen Buch­markt über­rascht haben, tau­chen im Ver­hältnis dazu Stimmen aus der Ost­ukraine sel­tener auf. Das ver­su­chen die Mit­glieder der Gruppe STAN zu ändern. Kon­stantin Skorkin (geb. 1978), Jaroslav Minkin (geb. 1984) und Elena Zas­lavs­kaja (geb. 1977) leben in Luhans’k, einem in der ehe­ma­ligen Sowjet­union wich­tigen Koh­le­abbau- und Indus­trie­ge­biet, unweit der rus­si­schen Grenze. Sie wirken der geo­gra­fi­schen Mar­gi­na­lität ent­gegen, indem sie junge Schreib­künst­le­rInnen ver­netzen, Antho­lo­gien her­aus­geben, sozi­al­kri­ti­sche Aktionen orga­ni­sieren und an (inter)nationalen Poetry Slams erfolg­reich teilnehmen.

 

Ein Inter­view mit der Lite­ratur- und Akti­ons­gruppe STAN

 

Das Ziel for­mu­liert der Schrift­steller und Publi­zist Kon­stantin Skorkin, der sich als Zustän­diger für die Ideo­logie der Gruppe vor­stellt, selbst­be­wusst: Luhans’k soll einen wür­digen Platz auf der kul­tu­rellen Karte der Ukraine und des gesamten Europas ein­nehmen. Dieses Anliegen weist darauf hin, dass eine Ten­denz zur regio­nalen Riva­lität mit künst­le­ri­schen Mit­teln noch immer besteht. So gesehen, han­delt es sich um eine Ant­wort der Ost­ukraine auf ihre mediale Ver­un­glimp­fung als ‚kul­turarm’. Abge­sehen davon zeigen die Akti­vi­täten der Grup­pen­mit­glieder, dass die ost­ukrai­ni­sche Lite­ra­tur­szene gat­tungs- und medi­en­über­grei­fend nicht nur auf eine räum­lich abge­grenzte ‚kleine Heimat’ fixiert ist und außerdem, dass sie mit urbanen Lebens­weisen sym­pa­thi­siert. STANs sozi­al­kri­ti­sches Pathos macht auf akute poli­ti­sche Miss­stände aufmerksam.

 

Jaroslav Minkin

Jaroslav Minkin

novinki: Bevor wir auf die Gruppe zu spre­chen kommen: Wie hängt die Mit­ar­beit in STAN mit Eurem eigenen Schreiben zusammen? Lena, ist Deine Lyrik sozial, femi­nis­tisch oder wie wür­dest Du sie bezeichnen?

 

Elena Zas­lavs­kaja: Ich mag es nicht, nach Defi­ni­tionen für meine Poesie zu suchen. Das können die Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler tun. Ich schreibe Kin­der­ge­dichte, sie sind weder sozial noch femi­nis­tisch. Ich schreibe auch Porno-Poeme, Lyrik, zivil­ge­sell­schaft­liche Gedichte aus täg­li­cher Wut heraus. Die Poesie ist für mich genau diese Frei­heit: viel­fältig zu sein! Nicht so wie andere mich sehen möchten oder sehen, son­dern so wie ich im gege­benen Moment sein möchte. Mein Enga­ge­ment in STAN ist gesell­schaft­lich und es ist lite­ra­ri­sches Unfugtreiben.

 

Konstantin Skorkin

Kon­stantin Skorkin

n.: Was schreibt Ihr?

 

Ja. M.: Gedichte, so nennt man es, glaube ich, aber im Grunde mag ich es, auf der Bühne zu lesen.

Kon­stantin Skorkin: Ich schreibe im Gegen­satz zu den anderen Prosa.

 

n.: Was könnt Ihr emp­fehlen, was sollten wir von Euch lesen?

 

K. S.: http://tisk.org.ua/?p=18477 Neu­lich habe ich den Text Čërnyj kva­drat (Schwarzes Qua­drat) aus dem Schreib­tisch her­vor­ge­holt. Das ist eine Erzäh­lung, die ich Anfang der 2000er Jahre ver­fasst und die ich immer wieder umge­schrieben habe. Letzt­lich habe ich aus ihr den Teil zu Vojna i mir (Krieg und Frieden) raus­ge­worfen, so dass ein kurzer Text über meine Jugend übrig geblieben ist. Hier gibt es auto­bio­gra­fi­sche Ele­mente, aber ins­ge­samt geht es um jenen Teil der Gene­ra­tion, zu wel­chem ich hof­fent­lich gehöre – gebil­dete junge Leute mit „Ideen“. Ich sorge mich sehr um ihr Schicksal. In der Ukraine sind zu oft ganze Gene­ra­tionen der Intel­li­genz ver­schwunden. Aber wir müssen über­leben und siegen.

 

n.: Wie sieht die kul­tu­relle Situa­tion in der öst­li­chen Ukraine der­zeit aus, vor allem in der Literaturszene?

 

Ja. M.: Aus meiner Sicht kann ich sagen, dass sich in der Ost­ukraine die Tra­di­tionen der euro­päi­schen Frei­heits­liebe und des rus­si­schen (sowje­ti­schen) Unter­grunds auf erstaun­liche Weise ver­flochten haben. Das zu ver­stehen, ist wichtig. Wenn ich über Luhans’k wie über eine Kul­tur­stadt spreche, erkläre ich diese Stadt nach außen hin ent­gegen ihrer Abge­schie­den­heit. Es gibt L’viv, Kyïv und Odesa, wo du selbst­ständig hin­fahren kannst und alles auf dem Sil­ber­ta­blett ser­viert bekommst. Aber in Luhans’k brauchst du jemanden, der dich hin­durch führt, du bist auf einen „Brü­cken­men­schen“ ange­wiesen. Jene Besu­cher, die Luhans’k mit unseren Augen gesehen haben, fahren mit der Vor­stel­lung weg, dass diese Stadt ein authen­ti­sches, eigenes kul­tu­relles Leben hat. Jene hin­gegen, die sich mit einem ober­fläch­li­chen Rund­um­blick begnügen, bemerken hier nur das Grau, wel­ches leider immer noch im Übermaß vor­handen ist. Um Luhans’k zu sehen, braucht man eine beson­dere Optik.

K. S.: Die Situa­tion der Lite­ratur ist traurig. In den 1990er Jahren haben die Ver­treter der West­ukraine den Dis­kurs mono­po­li­siert – und jeder, der am Lite­ra­tur­be­trieb teil­hatte, musste sich anpassen. Gali­zien ist in kul­tu­reller Hin­sicht ein wich­tiger Bestand­teil der Ukraine, doch längst nicht der einzig wich­tige. Aber in Folge der Domi­nanz von Gali­zien ist zum Bei­spiel in der Ukraine keine Groß­stadt­prosa ent­standen. Die Stimme der Groß­städte hört man nicht, weil in ihnen Rus­sisch gespro­chen wird und sie weit von der gali­zi­schen Denk­weise ent­fernt sind – diese ist her­me­tisch und auf die Ver­gan­gen­heit gerichtet. Wegen der Ver­ein­nah­mung des lite­ra­ri­schen Dis­kurses hat ein beacht­li­cher Teil der Autoren, die auf Rus­sisch schreiben, ange­fangen sich gen Russ­land zu ori­en­tieren, so dass wir sie als Autoren ver­loren haben.

 

Elena Zaslavskaja auf der Leipziger Buchmesse

Elena Zas­lavs­kaja auf der Leip­ziger Buchmesse

n.: Hier stellt sich die Frage, welche Stimmen wir des­wegen nicht hören. Welche Autoren und welche Werke ent­gehen uns?

 

K. S.: Zum Bei­spiel Dmitrij Savočkin aus Dnipropetrovs’k. Er hat den Roman Mar­kšejder aus dem Leben der Berg­bau­leute im Donbas ver­fasst. Das Buch ist qua­li­tativ quasi auf der Ebene von Chuck Palah­niuk. Es ist in Russ­land erschienen. In der Ukraine ist Savočkin unbe­merkt geblieben.

Ja. M.: Wir haben Vasyl’ Holoborod’ko – einen Dichter, dessen Name weit in der Ukraine und außer­halb bekannt ist. Sein erstes Buch ist in den USA her­aus­ge­kommen. Aber in Luhans’k kennt ihn nie­mand. Und Vasyl’ Starun. Es gibt viele davon. Nur ist es üblich, sie nicht zu bemerken. Die Politik ist so. In dieser Hin­sicht hat STAN einen rich­tigen Zug gemacht – hin zur aggres­siven Pro­pa­ganda von Kunst.

E. Z.: Früher haben wir Sam­mel­bände her­aus­ge­geben, Zeit­schriften mit Ver­öf­fent­li­chungen von alten und neuen Autoren über­wie­gend aus Luhans’k. Doch dann haben wir ver­standen, dass dieser Weg in eine Sack­gasse führt. So ent­de­cken wir neue Namen vor allem für uns, und das ist natür­lich gut, aber uns kennt keiner außer­halb von Luhans’k, auch in der Stadt selbst viel­leicht nur die Hei­mat­kundler und nicht mal das kann man mit Sicher­heit sagen. So haben wir ange­fangen, uns zu bemühen, über den Rahmen von Luhans’k hin­aus­zu­kommen. Und ich denke, dass es uns gelingt.

 

n.: Kann man sagen, dass es in der Ost­ukraine eigene lokale Kul­tur­zen­tren gibt?

 

K. S.: Charkiv und künftig Luhans’k.

Ja. M.: Es gibt Kul­tur­zen­tren im Unter­grund, aber diese kennen nur die­je­nigen, die in sie hin­ein­ge­raten und sie erleben. Im Bewusst­sein der Mehr­heits­ge­sell­schaft gibt es sie nicht. Zudem bemerke ich ein Phä­nomen der kul­tu­rellen Amnäsie. Die Leute kommen, schauen, begeis­tern sich, aber das gesell­schaft­liche Bewusst­sein ver­drängt die Erin­ne­rungen an kul­tu­relle Ereig­nisse. Es ver­gehen ein bis zwei Monate und alle spre­chen erneut davon, dass in Luhans’k nichts los ist. Ein­fach 1984. Orwell. Wie­viel ergibt zwei mal zwei?

E. Z.: Es ist ein­fach so, dass in Kyïv in einer Woche zehn kul­tu­relle Ver­an­stal­tungen statt­finden, aber in Luhans’k nur eine oder zwei.

Ja. M.: Das ist kein Indi­kator. In Kyïv gibt es viel Schaum­schlagen. Und den­noch domi­niert das Image Kyïvs als Ort des kul­tu­rellen Lebens.

K. S.: Das ist nicht Amnäsie, son­dern eine Schwäche des Milieus.

E. Z.: Ich stimme mit Kostja überein. Es fehlt der Dialog, die pro­fes­sio­nelle Lite­ra­tur­kritik. Es gibt Treff­punkte, aber tusovka ist nicht immer gut.

K. S.: Wir brau­chen die ent­spre­chende Umge­bung: stän­dige tusovka, den Dialog mit den Mas­sen­me­dien, Kunst­zen­tren. Aber das können nur wir selbst schaffen. Daher richtet sich die Kritik in Wirk­lich­keit an uns selbst.

Ja. M.: Wir haben doch die rich­tige Infra­struktur, aber sie ist im Unter­grund, wie auch unsere künst­le­ri­schen Zentren.

 

n.: Es braucht Zeit. Aber das Inter­esse an der Kultur und Lite­ratur aus der Ost­ukraine besteht.

 

K. S.: Das Inter­esse ist riesig.

Ja. M.: Wie an Außer­ir­di­schen. Nie­mand hat sie gesehen, aber die Gerüchte kursieren.

 

Jaroslav Minkin

Jaroslav Minkin

n.: Und Ihr reprä­sen­tiert sie letzt­lich. Was genau ist STAN?

 

Ja. M.: STAN ist eine Bewe­gung, eine künst­le­ri­sche Community.

K. S.: Ein Kreativ-Cluster. STAN ist keine Orga­ni­sa­tion mit einer fixierten Mit­glied­schaft. Wo es unsere Gleich­ge­sinnten gibt – in Charkiv, Moskau, Kyïv –, dort exis­tiert auch STAN. Solch eine schlaue Politik. Ljuba Jakimčuk in Kyïv, Serhij Žadan in Charkiv, Ženja Bara­nova in Jalta.

Ja. M.: Man kann nie­mals sagen, wie viele Per­sonen wir in STAN sind. Das ist eine Marke, die den einen gefällt und den anderen nicht. Einige zit­tern sogar vor Wut.

E. Z.: Es gibt einen kämp­fe­ri­schen Kern: Minkin, Skorkin und ich. Die anderen kamen und gingen, aber wir sind schon lange dabei.

 

n.: Koope­riert Ihr mit Serhij Žadan?

 

E. Z.: Wir sind befreundet, er nimmt an unseren Pro­jekten teil und wir an seinen.K. S.: Žadan ist unser Lands­mann, er kommt aus der Luhanščyna, wohnt in Charkiv, aber er hat in der Sphäre west­ukrai­ni­scher Autoren Aner­ken­nung gefunden. Er ist ein Mensch, dem es gelungen ist, ein Kata­ly­sator von Ver­än­de­rungen zu werden. Im Moment gleicht sich die Situa­tion aus. Er ist meiner Ansicht nach ein Brü­cken­mensch zwi­schen Ost und West geworden. Ich erin­nere mich an Auf­tritte von Serhij Žadan im Haus des Schau­spie­lers in Charkiv – man konnte kaum in den Saal gelangen, die Men­schen standen in den Gängen und die dort auf­tre­tenden Schweizer Dichter erlebten einen Kul­tur­schock: „Zu unseren Lesungen kommen fünf bis zehn Per­sonen.“Ja. M.: Žadan ist mit uns ideo­lo­gisch verbunden.

 

n.: Was für eine gemein­same Ideo­logie habt Ihr?

 

K. S.: Die Schaf­fung einer neuen Lite­ratur, die zugleich authen­tisch und kos­mo­po­li­tisch ist. So spreche ich über Žadan – er ist ein Bur­sche aus unserem Hin­terhof, nur dass dieser Hof in Luhans’k, in Charkiv, in Piter oder Berlin liegen kann. Das möchte auch STAN. Dar­über hinaus setzt sich Žadan für eine soziale Kunst ein. Er nimmt an sozialen Pro­jekten teil, an Aktionen mit wohl­tä­tigen Zwe­cken, drückt seine Mei­nung zu bri­santen aktu­ellen Pro­blemen aus. Dazu ist Žadan ein Kul­tur­träger, er sucht – sowie wie wir auch – und ver­eint Leute mit Talent. Er ist also unser Mann.

"Persten' Predsedatelja Zemnogo šara" beim ZEX Festival 2006, Charkiv

“Persten’ Pred­sed­atelja Zem­nogo šara” beim ZEX Fes­tival 2006, Charkiv

n.: Wie ist Euer Ver­hältnis zu Autoren aus der Westukraine?

 

K. S.: Jurij Andruchovyč ist bei uns zu Gast gewesen. Aber ange­sichts seiner der­zei­tigen poli­ti­schen Ansichten (er träumt davon, Donbas und die Krym wegen ihrer rus­so­philen Sym­pa­thien von der Ukraine abzu­trennen) möchte ich nicht über ihn sprechen.

 

n.: Wie hat es STAN geschafft, über Luhans’k hinaus zu gelangen?

 

E. Z.: Das war ein langer Pro­zess. Alles hat mit einem Auf­tritt in Charkiv begonnen, auf dem Fes­tival ZEX im Sep­tember 2006. Das war eines der ersten offenen Slam-Tour­niere in der Ukraine, und es ist uns gelungen, grell auf­zu­fallen. Mir hat man den impro­vi­sierten Ring des Vor­sit­zenden der Welt­kugel aus­ge­hän­digt. Bemer­kens­wert, dass vor 90 Jahren im Charkiver Theater Esenin und Mari­engof den Ring des „Vor­sit­zenden der Welt­kugel“ („pred­ze­mšar“) auf den Finger von Velimir Chleb­nikov auf­ge­setzt haben.

Ja. M.: Anfangs haben alle ein­fach für die Schub­lade geschrieben. Viel und lange. Aber man traf sich ständig und dis­ku­tierte – zwecks Talent­schär­fung. Danach haben wir ange­fangen, erste schüch­terne Schritte auf Fes­ti­vals und in Antho­lo­gien zu tun. Einen Wen­de­punkt brachte der Besuch des mitt­ler­weile ver­stor­benen Jurij Pokalčuk in Luhans’k mit sich. Wir haben ihm das echte Luhans’k im Unter­grund gezeigt. Diese Stadt ist eine Insel, hat er gesagt, als wir gemeinsam Cognak getrunken und Gedichte gelesen haben. Er meinte damit, dass Luhans’k sich in einem auto­nomen Zustand befindet, getrennt von dem gesamt­kul­tu­rellen Pro­zess, aber über eine eigen­stän­dige Tra­di­tion ver­fügt, die im Unter­grund ent­standen ist. Diese Kluft hat er ver­sucht zu über­winden und ist unser treuer Freund und Pro­moter geworden. Unsere Gedichte sind in der Zeit­schrift Kievs­kaja Rus’ erschienen, wo rus­sisch­spra­chige Autoren vorher nicht anzu­treffen gewesen sind. Das war der Durchbruch.

K. S.: Danach folgten unsere Erfolge bei den gesamtukrai­ni­schen Slams: 2007 kam Minkin beim Großen Slam in Charkiv ins Finale, 2008 hat Minkin (gemeinsam mit dem Weiß­russen Chad­a­novič) den Allukrai­ni­schen Slam in der Mohyla-Aka­demie in Kyïv gewonnen. Übri­gens gab es nach dem Kyïver Slam einen großen Skandal – ins Finale sind Autoren gekommen, die auf Rus­sisch oder Weiß­rus­sisch gelesen haben (aber nicht auf Ukrai­nisch). Für einige natio­nal­be­wusste Freunde war dies der Sieg des „her­kunfts­losen Kos­mo­po­li­tismus“. Dabei hat doch das Publikum die Gewinner gewählt!

Ja. M.: Früher war die Bar­riere zwi­schen der rus­sisch- und der ukrai­nisch­spra­chigen tusovka viel zu hoch, aber der Slam hat sie ver­bunden. Die Zuschauer haben für die Qua­lität der Texte gestimmt und nicht für die Politik.

E. Z.: Einen Schritt über unsere Schranken hinweg, wenn man sich so aus­drü­cken kann, haben wir dank unserer Bücher voll­zogen: Uroki vreditel’stva, diversii i špio­naža (Lek­tionen der Schä­di­gung, Sabo­tage und Spio­nage), Iz žertv v lik­vi­da­tory (Von Opfern zu Liqui­da­toren) und Anes­te­zija (Anäs­thesie). Sie ver­ei­nigen Autoren nicht nach dem Prinzip der Zuge­hö­rig­keit zu einer Stadt, son­dern ideo­lo­gisch: Die Dichter haben ver­sucht, mit ihren Texten und Essays die Auf­merk­sam­keit der Gesell­schaft auf jene Pro­bleme zu lenken, deren Lösung noch aus­steht. Diese Bücher sind das Ergebnis großer sozialer und kul­tu­reller Kampagnen.

K. S.: Zur Ver­an­schau­li­chung kann ich über das Buch Uroki vreditel’stva, diversii i špio­naža erzählen. Im Jahr 2010 haben wir die Idee gehabt, eine Antho­logie mit sozialer Poesie her­aus­zu­bringen, denn in dem Land geht sonst was vor sich vor, aber die ukrai­ni­sche Lite­ratur schweigt oder reagiert im Geiste eines Pam­phlet-Feuil­le­tons. Hin­gegen erklangen gerade die Stimmen der Dichter in düs­teren Zeiten von Dik­ta­turen, um die mensch­liche Würde zu schützen. Wir wollten ein kon­zep­tio­nell starkes Buch und fragten Autoren an, die wir für unsere Gleich­ge­sinnten hielten – Serhij Žadan und Andrej Rodi­onov (Moskau) – sowie unseren Autoren­kreis: Slava Minkin, Lena Zas­lavs­kaja, Alek­sandr Sigida, Ljubov’ Jakimčuk. In die Antho­logie haben wir auch die lite­ra­ri­sche Mys­ti­fi­ka­tion „Der Dichter auf dem Thron“ ein­ge­schlossen. In der Presse tauchte näm­lich die Mit­tei­lung auf, dass Janu­kovyč auch ein Dichter sei und wir haben beschlossen, ihm dabei zu helfen, erst einmal Gedichte zu schreiben. Daher ent­hält der Sam­mel­band auch Gedichte des Prä­si­denten. Zusätz­lich zu diesem Buch haben wir in Luhans’k einen Wett­be­werb für soziale Foto­grafie „Luhans’k ohne Schminke“ durch­ge­führt. Die besten Arbeiten sind Illus­tra­tionen unserer Antho­logie geworden.

Der Vor­teil dieses Buch ist, dass wir dabei gänz­lich unsere Pro­vin­zia­lität hinter uns gelassen haben. Über das Erscheinen des Buchs hat sogar die Mos­kauer Snob-Seite open­space geschrieben. Der Nach­teil liegt darin, dass wir zu viele Pointen in ein Pro­jekt hin­ein­ge­steckt haben – das Beste ist der Feind des Guten, soweit meine Meinung.

E. Z.: Jedes Buch ver­dient ein eigenes Gespräch. Und dann ist es besser, es einmal gelesen zu haben als davon hun­dertmal zu hören. Die Bücher sind online auf unserer Seite ver­fügbar, Anes­te­zija wird auch bald hochgeladen:

Uroki vreditel’stva, diversii i špio­naža – http://tisk.org.ua/?p=15135

Iz žertv v lik­vi­da­tory – http://tisk.org.ua/?p=16125

 

n.: Wie hängt Ihr mit anderen regio­nalen Grup­pie­rungen wie zum Bei­spiel LSD zusammen?

 

K. S.: Oh, LSD ist mein Pro­jekt. Das ist die Abkür­zung von Lite­ra­tura Sov­re­men­nogo Don­bassa (Die Lite­ratur des heu­tigen Donbas). STAN hat seinen lite­ra­ri­schen Aktio­nismus als Muni­tion von LSD über­nommen und LSD hat sich in der Mund­höhle STANs auf­ge­löst. Siehe auch: http://tisk.org.ua/?p=12976.

Ja. M.: Kostja hat als erster ange­fangen, inno­vativ zu expe­ri­men­tieren. Denn STAN war damals dazu nicht bereit. Es war das Jahr 2002. So ist LSD ent­standen. Nackte Men­schen, die in einer dunklen Biblio­thek Gedichte lesen.

E. Z.: Mit dem Schild „Berühren ist töd­lich“ auf der gewissen Stelle.

K. S.: Wir sind unter strö­mendem Regen zum Dzeržin­skij-Denkmal gegangen und haben Gedichte gelesen, die die Ehre des Revo­lu­tio­närs gegen den rus­si­schen Geheim­dienst FSB ver­tei­digen (sie haben seinen Lie­bes­brief­wechsel ver­öf­fent­licht). Auf einem Kon­zert zum Schutz obdach­loser Kinder hat LSD die Olig­ar­chen dazu auf­ge­rufen, die schmut­zigen, mit Sperma und Blut betröp­felten Dol­lars den hung­rigen Stra­ßen­kin­dern zu geben. LSD besteht aus mir, anderen Men­schen, die mir geholfen haben, meine krank­haften Ideen zu ver­wirk­li­chen, und Lena. Wir ver­wenden die Abkür­zung heute noch für beson­ders pro­vo­kante Aktionen.

E. Z.: Hier sind beschrif­tete Fotos unserer Aktionen. [nur für ein­ge­loggte face­book-Nut­zer/innen. Anm. d. Red.]

 

n.: Welche ver­gan­genen Aktionen bzw. Pro­jekte sind beson­ders cha­rak­te­ris­tisch für STAN?

 

K. S.: Her­vor­ra­gend, was das Niveau der Orga­ni­sa­tion und Krea­ti­vität angeht, waren die Lesungen unter Dzeržin­skij. Im Hin­blick auf den Exodus aus dem regio­nalen Ghetto waren es die Lesungen beim ZEX und in Bezug auf die Eta­blie­rung als Kul­tur­in­sti­tu­tion war es das Fes­tival Arto­drom in 2012.

 

n.: Was ist für STAN wich­tiger, Aktionen oder Publi­ka­tionen? Oder ist beides gleich wichtig?

 

E. Z.: Für mich sind Aktionen eine Mög­lich­keit, neue Leser zu finden. So wenden wir uns an jene, die keine Bücher lesen, aber die Show mögen.

K. S.: Ers­tens haben unsere Per­for­mances immer einen sozialen Sub­text. Das ist unser Know-how, Lite­ratur mit zivilem Akti­vismus zu ver­binden. Zwei­tens leben wir im visu­ellen Zeit­alter. Einem Buch sollte eine Vide­oreihe ange­fügt werden. Und was lässt die Texte besser zur Gel­tung kommen als eine öffent­liche Aktion, und wenn sie auf Pro­vo­ka­tion aus ist, dann umso besser.

 

n.: Gegen wen oder was ist die Pro­vo­ka­tion gerichtet? Oder ist épater le bour­geois Selbstzweck?

 

K. S.: Ers­tens, gegen die auto­ri­täre Macht, denn wir sind für eine offene Gesell­schaft. Zwei­tens, gegen starre Ste­reo­typen des Mas­sen­be­wusst­seins, wel­ches vom sowje­ti­schen Erbe ver­giftet wird, und drit­tens gegen die heuch­le­ri­sche Moral der Spieß­bürger – die ewige Ziel­scheibe von Künst­lern. Man ver­däch­tigt uns, dass wir gegen die Tra­di­tionen sind, und es ist richtig, dass man uns dessen verdächtigt.

 

n.: Aber es klingt wie eine Fort­set­zung der über hun­dert­jäh­rigen Tra­di­tion des Modernismus.

 

K. S.: Vor hun­dert Jahren gab es die Sowjet­macht noch nicht. Unsere Idee wird das Bewusst­sein ent­so­wje­ti­sieren. Das ist durchaus revolutionär.

 

n.: Mit ‚Tra­di­tionen’ meinst Du die sowje­ti­sche Literatur?

 

K. S.: Über­haupt die sowje­ti­sche Lebens­weise. Wir sind von sowje­ti­schen Men­schen umgeben (ich meine Beamte, Abge­ord­nete, Kul­tur­schaf­fende der älteren Gene­ra­tion) – Men­schen mit einer grau­samen, ent­stellten Psyche, die Denunza­tionen geschrieben haben und zu Par­tei­ver­samm­lungen gegangen sind. Heute sind sie Kapi­ta­listen geworden, aber Kapi­ta­listen aus eben sowje­ti­schen Büchern, wo man den dicken Bour­geois mit Zigarre in der Hand auf einem Geld­sack gemalt hat. Des­halb geraten wir in die­selbe tota­li­täre Hydra, sogar wenn wir den Kapi­ta­lismus kritisieren.

 

n.: In wel­cher Sprache seid Ihr künst­le­risch aktiv? Ist die Sprach­wahl wichtig?

 

E. Z.: Ich schreibe vor allem auf Rus­sisch, aber es gibt auch einige Ver­suche auf Ukrai­nisch. In unseren Büchern publi­zieren Autoren, die auf Ukrai­nisch schreiben. Die Frage der Sprache ist für uns nicht entscheidend.

K. S.: Ich schreibe auf Rus­sisch, und das ist für mich ent­schei­dend – nicht aus chau­vi­nis­ti­schen Gründen, son­dern weil die Sprache der Sprach­wirk­lich­keit ent­spre­chen sollte. Vojna i mir ist zur Hälfte auf Fran­zö­sisch geschrieben, weil die Situa­tion so aus­ge­sehen hat, die Adligen haben fran­çais gespro­chen. Wie kann man heute rea­lis­ti­sche Prosa über das Leben in der ost­ukrai­ni­schen Stadt auf Ukrai­nisch schreiben, wo 90 % der Bevöl­ke­rung Rus­sisch spricht? Wenn man sich die Per­for­mances anschaut, so sind sie auch auf Rus­sisch – in der „Sprache inter­na­tio­nalen Austauschs“.

 

n.: Wie doku­men­tiert Ihr die Aktionen?

 

K. S.: Früher war es uns weniger wichtig, so dass es von vielen Aktionen keine Spur mehr gibt. Foto­gra­fien und Videos stellen wir auf unsere Seite tisk.org.ua. und wir sam­meln Publi­ka­tionen über uns.

E. Z.: Die voll­stän­digste Auf­lis­tung der Aktionen ist in Wiki. Die rus­si­sche Seite bedarf noch einiger Ergänzungen.

 

n.: Vielen Dank.

 

Das Inter­view wurde von Tat­jana Hof­mann geführt und aus dem Rus­si­schen übersetzt.

Fotos: Gruppe STAN, Roman Miš­kovec & Andrej Avdošyn