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„Sekond Hend“ – Mythen und Geschichten über die Krim

Posted on 12. September 2008 by Tatjana Hofmann
Das Land der Goten, Zufluchtsort der Griechen, Erinnerungsort an mehrere Kriege und überhaupt das Allunionssanatorium der Sowjetunion befinden sich allesamt auf der Krim – wenn man Texten über sie glauben darf. Nicht nur literarische Werke füllen diesen Raum in der heutigen Ukraine kreativ aus, sondern auch wissenschaftliche.

Die Krim gilt als eine Projektionsfläche für poetische und ideologische Fantasien. Die Halbinsel im Schwarzen Meer rückte Mitte des 19. Jahrhunderts ins Zentrum des militärischen Interesses von England, Frankreich und der Türkei. Diese Interessenkonflikte dauern bis in die Gegenwart an: Eine überwiegend russischsprachige Bevölkerung eignet sich nicht ohne Ambivalenzen die ukrainische Kultur an – und umgekehrt, je nach Quellenlage und kulturellem Standort.

Die literarische Aneignung der Krim blickt ebenfalls auf eine lang andauernde, international ausgerichtete und entsprechend heterogene Tradition. Als Schauplatz bietet die abwechslungsreiche Landschaft Anknüpfungspunkte für Verortungen im mediterranen wie im orientalischen, aber auch in einem ur-europäischen Kontext. Während in Goethes „Iphigenie auf Tauris“ das antike Erbe der Krim heraufbeschworen wurde, diente die russische Krim-Lyrik im 18. und 19. Jahrhundert zur verherrlichenden Verarbeitung der hellenisierenden „Tauris“-Rhetorik Katharinas II., unter deren Herrschaft die Krim 1783 aus dem Osmanischen ins Russische Reich eingegliedert wurde.

Innerhalb der neueren Osteuropa-Forschung haben Larry Wolff (The Invention of Eastern Europe, 1994) und Neal Ascherson (Black Sea, 1994) die Halbinsel prominent gemacht. Wenn Wolff über Osteuropa sagt, dieses Territorium sei ein intellektuelles Objekt „under construction“, so kann man das für die Krim nach der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert im besonderen Maße behaupten. Reisebeschreibungen und literarische Texte haben die Halbinsel aus westeuropäischer Sicht zur Metonymie für das gesamte Osteuropa gemacht und aus russischer Sicht zum eigenen, nationalen Symbol.

Ein willkürlich-zufälliger Blick auf vier neuere literarische und wissenschaftliche Texte, die als exemplarisch gelten können, zeigt, dass die Halbinsel im Schwarzen Meer noch immer ein dankbarer Gegenstand für touristische Reisen auf die Krim und mentale Reisen in die Krim-Mythologie ist.

 

Sexy Anti-Bayern

Einen literarischen Anspruch hat das schmale, kaum lektorierte Büchlein mit dem viel versprechenden Titel „Sewastopol Sekond Hend. Unsachliche Beobachtungen an hochhackigen Stakselfrauen, Wodka und Tataren“, das 2004 bereits in dritter Auflage in dem bayrischen, auf männliche Autoren spezialisierten Lagrev Verlag herausgekommen ist. Darin appelliert der Autor Jörg Steinleitner, der sich selbst mit dem Erzähler und Protagonisten gleichsetzt, der Leser möge sich auf Abenteuer einstellen und sich dabei amüsieren.

Diese bestehen zunächst aus einer ausführlichen Aufzählung von Reisevorbereitungen wie Impfungen und dem Visumsantrag, die noch von Deutschland aus die „Exotik“ der bevorstehenden Reise umreißen. Ähnlich aufregend geht es weiter, wenn der „Beobachter“ vor Ort in Sevastopol’ sich erst nach mehreren Tagen traut, ohne Begleitung auf die Straße zu gehen. Die Abenteuer, mit dem der Münchener Rechtsanwalt, der keine osteuropäische Sprache spricht, jeden Tag kämpft, sind Gestank, Hunger und buchstäblicher Appetit auf Frauen.

Aus den Ratschlägen an den potentiellen Ukraine-Urlauber lässt sich ableiten, dass man nicht nur Salz, Pfeffer, Seife und Kakerlakenspray bei sich haben müsste, sondern auch Angst vor den Stadtbewohnern, die er durchweg „Eingeborene“ – ohne Anführungszeichen – nennt. Sie sprechen meistens Russisch, stellen Fragen, sind arm und haben ihre eigene Bürokratie, womit sie nur im letzten Punkt eine Gemeinsamkeit mit der Lebenswelt des Autors haben.

Begleitet von einer „ziemlich paranoiden Einstellung“ gegenüber dem Essen, verlegt er sich aus „Desinfektionsgründen“ (!) auf das Trinken. Der Verfolgungswahn gipfelt nebenbei in der Neuauflage einer Sacher-Masoch-Fantasie auf dem Lebensmittelmarkt: „Ich werde nackt, nur bekleidet mit einem Damen-Calvin-Klein-T-String aus Nylon barfuss durch die Fleischhalle gepeitscht.“

Mit Leichtigkeit, die leicht mit Banalität und Selbstverliebtheit verwechselt werden kann, präsentiert der Text eine Perpetuierung zweier traditioneller Krim-Klischees: die Orientalisierung, die sich in dem Begehren der Bewohnerinnen wiederholt, und der abwertenden Sichtweise eines vermeintlich zivilisierten Betrachters auf eine rückständige, „stinkende“ Gegend.

Größtes Abenteuer ist demnach der Anblick der im Gegensatz zu deutschen Feministinnen gepflegten und im Gegensatz zu ihren äußerlich abstoßenden und faulen russischen Männern gut riechenden Frauen in kurzen Röcken. Im 18. und 19. Jahrhundert waren es die tatarischen Frauen, die die Fantasien westeuropäischer und russischer Reisender auf Grund ihres religiös vorgeschriebenen Schleiers geweckt haben.

Auch wenn das zentrale Schwarz-Weiß-Verfahren den Text trivial macht, ist ihm eine gewisse unfreiwillige Ambivalenz eigen, die häufig bei der Wahrnehmung der Krim auftaucht: Die Landschaft wird als schöngedacht, aber die Begegnung mit ihr und den Menschen als fremd erlebt – in diesem Fall als ein exotischer und erotischer, aber durch und durch anti-bayerischer (Un-)Ort.

 

„Gotenland“

Auch wenn zu dem unreflektierten Reisebericht des Freizeitschriftstellers keine beabsichtigte intertextuelle Parallele vorliegt, hat die Vereinnahmung der Krim seitens deutscher „Kulturträger“ eine politische Tradition, die retrospektiv nicht nur wegen ihrer verhinderten Realisierung, sondern wegen ihrer absurden, die Maßstäbe verschiebenden Realitätskonstruktion wie eine imaginierte gelesen werden kann. Norbert Kunz rekonstruiert die Planung und die Umsetzung dieser mentalen und militärischen Aneignung der Krim in seiner umfangreichen und differenzierten Dissertation Die Krim unter deutscher Herrschaft (1941-1944). Eine Germanisierungsutopie und Besatzungsrealität. Bemerkenswert für die kriegshistorische Arbeit ist die Vielseitigkeit der verwendeten Quellen, unter denen auch einige mit fiktionalem Charakter zu finden sind.

Die Untersuchung führt plastisch vor Augen, worauf sich die Motivationen und Ansprüche des Deutschen Reichs gestützt  haben und lässt damit einmal mehr staunen, wie willkürlich Geschichte geplant und gemacht wird. Neben der Lage (Nähe zum Bündnispartner und Öllieferanten Rumänien, geostrategisches Zentrum der Schwarzmeerregion) und der Beschaffenheit (günstige Schiff- und Flugzeughäfen), die die Krim in Hitlers Augen zum ,Flugzeugmutterschiff‘ machte, hat letztlich eine zweckgerichtete historische Fantasie zu einem militärisch nützlichen Krim-Mythos im 3. Reich beigetragen. Alfred Rosenberg, der 1917 auf der Krim mit seiner Frau zur Kur war und begeistert von den Gotenhöhlen von Mangup Kale und anderen landschaftlichen Spuren der Vergangenheit zurückgekehrt ist, lieferte die Vorlage für die Ausdehnung von Hitlers Faszination für ein ‚Großgotisches Reich‘ im osteuropäischen Raum.

Kunz zeigt, dass die deutschen Aspirationen auf die Krim bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert vorhanden waren. Das Schlagwort von der „deutschen Riviera am Schwarzen Meer“ war im 1. Weltkrieg bereits verbreitet. Neben der Ansiedlung von Tiroler Wehrbauern gehörte die Verlegung einer Autobahn dorthin zu Hitlers Plänen. Am Beispiel von Autoren wie Alfred Eduard Frauenfeld und Georg Kutzke veranschaulicht Norbert Kunz, wie das virulente nationalsozialistische Krimgotenbild in literarisierten Geschichtsdarstellungen verdichtet und untermauert wurde. Einzelne Motive auswählend und in einen neuen Zusammenhang einordnend, bündelte Frauenfeld sie für das politische Ziel, eine weit in die Vergangenheit reichende und beinah kontinuierliche germanische Siedlungsgeschichte auf der Krim zu etablieren. Neben der „Romantik und dem Zauber des Geheimnis umwitterten Krimgoten“ betonte er die Ähnlichkeit der Krimgoten zu den Niederdeutschen und meinte, „Gotenblut“ in den Bergtataren zu erkennen. Ihre Nähe zu den reichsdeutschen „Stammesbrüdern“ äußere sich in ihrer Intelligenz, ihrer Sympathie für die Deutschen sowie ihrem Äußeren, ihren sauberen Häusern und ihrem Fleiß. Auch die Schrift „Alteuropa am Dnjepr“ von Kutzke hebt auf vermeintliche rassische Ähnlichkeiten zwischen Deutschen und Krimbewohnern ab, wobei er sich auf Herodot stützt, der im 5. Jh. v. Chr. die blonden Haare und blauen Augen einiger Männer auf der Krim erwähnt hatte.

Die Spannung, die die Arbeit von Norbert Kunz in ihrer chronologisch bis zum Ende der deutschen Herrschaft auf der Krim angeordneten Faktenfülle entfaltet, wirkt wie ein Blick auf die Geschichte des 2. Weltkrieges vom südöstlichen Randplatz aus, von wo der Gesamtzusammenhang des „Generalplans Ost“ in verfremdet-neuer Weise noch grotesker als gewohnt erscheint. Die Instrumentalisierung der Krim „als potentielle Experimentierstube deutscher Volkstumspolitik“ (Kunz) ist in all ihrer katastrophalen Auswirkung dargestellt.

 

Die russische Tauris

Bei der gotisch-deutschen Siedlungskontinuität greift die Legitimation der deutschen Kolonisationspläne in den russischen Diskurs der Krimaneignung hinein, wenn sie sich auf die Süddeutschen beruft, die Katharina II. im 19. Jahrhundert auf der Krim angesiedelt hat. Eine Einverleibungsstrategie Katharinas wiederum ist die topographische Umbenennung mit gelenkter Semantik, wie sie durch die geplante Umtaufe der Halbinsel in „Gotengau“ und einzelner Städte, wie zum Beispiel Sevastopol’s in „Teoderichhafen“, vorher existiert hatte.
Durch die Inklusion des antiken Erbes stellte Russland seine Europäizität unter Beweis: Wie die tatarische „Kirim“ nach der Eroberung unter Katharina II. zur „Tauris“ wurde, und damit von der südlichen Peripherie in das Zentrum der russischen kulturellen Selbstdefinition gerückt ist, analysiert Kerstin S. Jobst in ihrer Habilitationsschrift Die Perle des Imperiums. Der russische Krim-Diskurs im Zarenreich, die 2007 in dem Nachfolgeunternehmen des Konstanzer Universitätsverlags erschienen ist.

Die Autorin grenzt sich von der üblichen geschichtswissenschaftlichen Praxis ab und stützt sich nicht nur teilweise – wie Norbert Kunz – auf fiktionale Quellen. Reisebeschreibungen der Krim bilden neben der diskursiven Analyse von Zeitschriften wie dem Russkij vestnik und Sovremennik und literarischen Quellen ihren zentralen Untersuchungsgegenstand. Auch wenn der Bezug zur Diskursanalyse relativ fragmentarisch bleibt und die Begrifflichkeit der Postcolonial studies dominiert, veranschaulicht die Autorin ihre These schlüssig von der ersten bis zur letzten Seite: Die Konstruktion eines linearen russisch-slawischen Geschichtsbildes blende aus, dass „die Krim schon immer Durchzugsgebiet vieler Völkerschaften war und sich jedem exklusiven nationalen Besitzanspruch entzieht, denn u. a. bevölkerten Kimmerier, Skythen, Griechen, Ostgoten, Chazaren, Genueser und Venezianer sowie Turko-Tataren diese Halbinsel.“ (Jobst, 16f.) Die „Russischmachung“ der Krim, die die Verfasserin auch „osvoenie“ (Aneignung) nennt, trägt koloniale Züge, besonders durch die in den Reisebeschreibungen und literarischen Verarbeitungen auftauchenden Topoi. Bei dieser Gelegenheit weist sie selbstkritisch darauf hin, dass Geschichtswissenschaften auch Legitimationswissenschaften für jeweilige ideologische Standpunkte seien. Ergänzend könnte man dies ebenfalls für literarische Text behaupten, in denen die Krim unter  Anwendung des romantischen Orientalismus zu einem imperialen Ergänzungsraum der Fantasie  wurde.

Ergänzt werden Petersburg und Moskau – zwei Metropolen, von wo aus die Konzeption der Krim als dem anderenOrt vorgenommen wurde, was eine der wenigen Überschneidungen von Kerstin S. Jobst mit den Ergebnissen von Aleksandr P. Ljusyj ist. Der Wissenschaftler und Publizist hat seit seiner Dissertation 2003 mit dem Titel Der Krim-Text in der russischen Kultur und das Problem des mythologischen Kontexts (Krymskij tekst russkoj kul’tury i problema mifologičeskogo konteksta) an der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität (RGGU) in mehreren Publikationen dieses Thema weiter verarbeitet. Unter ihnen fällt das ebenfalls 2007 in Moskau im Verlag Russkij impul’s mit Mitteln des Programms zur Förderung der russischen Kultur erschienene Buch Das Erbe der Krim (Nasledie Kryma) als besonders kontrastreich zu Kerstin S. Jobsts Studie auf.

 

Ohne dass die kulturwissenschaftlich vorgehende Potsdamer Historikerin und der Moskauer Kulturologe ihre gegenseitige Arbeit kennen würden, haben sie eine ähnliche Ausgangsthese: Die Krim ist wegen ihres dichten Symbolgehalts ein Bestandteil der russischen Kulturgeschichte und nationaler Selbstdefinition. Doch obwohl sich beide anhand von fiktionalen Quellen wie Reiseberichten und literarischen Texten mit der Entstehung dieser Symbolträchtigkeit beschäftigen, kommen die Wissenschaftler zu frappierend unterschiedlichen Ergebnissen. Während die Projektion des Krim-Textes bei A. P. Ljusyj die Halbinsel diskursiv ausschließlich an die russischen Metropolen bindet, löst K. S. Jobst die Tauris ein Stück weit aus der Selbstverständlichkeit ihrer Vereinnahmung für das russische Nationalbewusstsein heraus. Bei ihr  kann die Krim nur dadurch eine „Perle des Imperiums“ sein, weil sie als Gegenteil und zum Teil Überhöhung der nördlichen russischen Metropolen verstanden wird, vor allem aber als eine künstlich in Szene gesetzte Vorzeigevitrine eines aggressiv-imperialen russischen Reiches. A. P. Ljusyj hingegen wiederholt ein weiteres Mal, dass diese Region künstlerisch inspirierend wirkt und scheint ihr selbst auch zu erliegen, da er seine bereits vorher publizierten Texte kapitelweise reproduziert.  Auf Grund der großen über bzw. auf der Krim entstandenen Menge an russischsprachigen Texten stellt er die Halbinsel literarhistorisch, aber auch im Sinne einer Nationalmetaphorik gleichrangig neben Beschreibungen über Petersburg und Moskau.

Als eine der ins kollektive Bewusstsein einschneidenden Markierungen betrachtet A. P. Ljusyj neben A. S. Puškins Gedichten und vielen kurz anzitierten Texten die Sevastopoler Erzählungen (Sevastopol’skie rasskazy) Lev Tolstojs und führt die Heroisierung der „Heldenstadt“ indirekt selbst fort. Auf Grund der Entästhetisierung des Krim-Krieges (1853-56) in den realistisch-schonungslosen Erzählungen, der hohen Opferzahl auf russischer Seite und des langen Widerstandes während der Belagerung wurde Sevastopol’ zu einem der wichtigsten Erinnerungsorte an diesen und den Zweiten Weltkrieg, an das Leiden der Menschen und nationales Heldentum. Bei K. S. Jobst wird der Eingang Sevastopols in den russischen Krim-Diskurs als eine Nationalismuspraktik geschildert, die gegenüber tatarischen und ukrainischen Ansprüchen noch heute nachwirkt.

Einen interessanten Anstoß wirft A. P. Ljusyj in der Menge seiner mal mit theoretischem, mal mit persönlichem Anspruch versehenen Assoziationen auf, wenn er noch vor Puškin einen Autor ausmacht, den er zum „Kolumbus“ der lyrischen Krimverarbeitung ernennt: Semėn Bobrov mit Gedichten wie Antike Nacht des Weltalls (Drevnjaja noč Vselennoj) und Tauris (Tavrida). Damit konterkariert A. P. Ljusyj seine eigene These von der ausschließlich russischen kulturellen Einschreibung der Krim, denn Bobrov hat sich an den Formen der englischen Beschreibungslyrik orientiert.

Um ein Resümee aus beiden Studien zu ziehen, hilft der Blick auf eine der ersten berühmten Reisebeschreibungen. Die Krim als „lieblicher Ort“ wurde bereits Ende des 18. Jahrhunderts von Lady Elizabeth Craven geprägt und zieht sich in diversen Variationen bis in die Gegenwart. Die Engländerin, deren Reise kurz vor der Katharinas in Begleitung ausländischer Gesandter – sozusagen als Generalprobe – stattfand, nahm die Inszenierung des Wohlstands auf der Krim von Grigorij Potemkin und die Bevorzugung griechischer Toponyme von Katharina der Großen als real hin, meinte sie doch sogar in den Russen selbst wegen ihrer intellektuellen Fähigkeiten „griechische Merkmale“ zu erkennen. Sie antizipierte die nachfolgende russische und europäische Krimvorstellung durch ihre empathische und dabei flexible Interpretation.

Überspitzt gesagt finden sich bei Lady Craven die Positionen sowohl von A. P. Ljusyj als auch von K. S. Jobst: Zunächst die pathetisch ausgedrückte Bewunderung für die Landschaft und die in ihr bzw. ihren Häfen implementierte (militärische) Stärke Russlands, gleichzeitig aber auch Kritik an einer rein russischen Nutzung des Landes, die wiederum eigenen kolonialen Vorstellungen entspringt. Die grüne Landschaft zwischen Perekop und dem Küstengebirge sei wie in England – was liege da näher, als „ehrliche englische Familien“ in diesem Land anzusiedeln, damit sie Manufakturen errichten und Handel treiben? (Craven 1780)

Cravens Vision wurde von Vasilij Askenov fast genau 200 Jahre später im Roman Ostrov Krym aufgegriffen, wo die Halbinsel ein westeuropäisch geprägtes Autonomiegebiet und der kulturelle Antipode zur Sowjetunion ist, weil sie wirtschaftlich stabil, international, südlich und lebenswert ist. Mit Ascherson wurde ebendiese Schönheit, die eine Flut von lobpreisenden Abbildungsversuchen ausgelöst hat, der Krim zum Verhängnis, da sie bei vielen Mächten ein „fast sexuelles Besitzverlangen“ ausgelöst hat. Bleibt zu hoffen, dass es künftig nur im textuellen Raum nach Erfüllung strebt.

 

Craven, Lady Elizabeth: A Journey through the Crimea to Constantinople. Wien 1880.

Jobst, Kerstin S.: Die Perle des Imperiums. Der russische Krim-Diskurs im Zarenreich. UVK Gesellschaft mbH. Konstanz 2007.

Kunz, Norbert: Die Krim unter deutscher Herrschaft (1941-1944). Eine Germanisierungsutopie und Besatzungsrealität. Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Darmstadt  2005.

Larry Wolff: Inventing Eastern Europe: The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment. Stanford  1994.

Ljusyj, Aleksandr P.: Nasledie Kryma. Russkij impul’s. Moskau 2007.

Steinleitner, Jörg: „Sewastopol Sekond Hend“. Unsachliche Beobachtungen an hochhackigen Stakselfrauen, Wodka und Tataren. Lagrev-Verlag ³. München und Bruchmühl  2004.

„Sekond Hend“ – Mythen und Geschichten über die Krim - novinki
Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

„Sekond Hend“ – Mythen und Geschichten über die Krim

Die Krim gilt als eine Pro­jek­ti­ons­fläche für poe­ti­sche und ideo­lo­gi­sche Fan­ta­sien. Die Halb­insel im Schwarzen Meer rückte Mitte des 19. Jahr­hun­derts ins Zen­trum des mili­tä­ri­schen Inter­esses von Eng­land, Frank­reich und der Türkei. Diese Inter­es­sen­kon­flikte dauern bis in die Gegen­wart an: Eine über­wie­gend rus­sisch­spra­chige Bevöl­ke­rung eignet sich nicht ohne Ambi­va­lenzen die ukrai­ni­sche Kultur an – und umge­kehrt, je nach Quel­len­lage und kul­tu­rellem Standort.

Die lite­ra­ri­sche Aneig­nung der Krim blickt eben­falls auf eine lang andau­ernde, inter­na­tional aus­ge­rich­tete und ent­spre­chend hete­ro­gene Tra­di­tion. Als Schau­platz bietet die abwechs­lungs­reiche Land­schaft Anknüp­fungs­punkte für Ver­or­tungen im medi­ter­ranen wie im ori­en­ta­li­schen, aber auch in einem ur-euro­päi­schen Kon­text. Wäh­rend in Goe­thes „Iphi­genie auf Tauris“ das antike Erbe der Krim her­auf­be­schworen wurde, diente die rus­si­sche Krim-Lyrik im 18. und 19. Jahr­hun­dert zur ver­herr­li­chenden Ver­ar­bei­tung der hel­le­ni­sie­renden „Tauris“-Rhetorik Katha­rinas II., unter deren Herr­schaft die Krim 1783 aus dem Osma­ni­schen ins Rus­si­sche Reich ein­ge­glie­dert wurde.

Inner­halb der neueren Ost­eu­ropa-For­schung haben Larry Wolff (The Inven­tion of Eas­tern Europe, 1994) und Neal Ascherson (Black Sea, 1994) die Halb­insel pro­mi­nent gemacht. Wenn Wolff über Ost­eu­ropa sagt, dieses Ter­ri­to­rium sei ein intel­lek­tu­elles Objekt „under con­s­truc­tion“, so kann man das für die Krim nach der Wende vom 18. zum 19. Jahr­hun­dert im beson­deren Maße behaupten. Rei­se­be­schrei­bungen und lite­ra­ri­sche Texte haben die Halb­insel aus west­eu­ro­päi­scher Sicht zur Met­onymie für das gesamte Ost­eu­ropa gemacht und aus rus­si­scher Sicht zum eigenen, natio­nalen Symbol.

Ein will­kür­lich-zufäl­liger Blick auf vier neuere lite­ra­ri­sche und wis­sen­schaft­liche Texte, die als exem­pla­risch gelten können, zeigt, dass die Halb­insel im Schwarzen Meer noch immer ein dank­barer Gegen­stand für tou­ris­ti­sche Reisen auf die Krim und men­tale Reisen in die Krim-Mytho­logie ist.

 

Sexy Anti-Bayern

Einen lite­ra­ri­schen Anspruch hat das schmale, kaum lek­to­rierte Büch­lein mit dem viel ver­spre­chenden Titel „Sewas­topol Sekond Hend. Unsach­liche Beob­ach­tungen an hoch­ha­ckigen Stak­s­el­frauen, Wodka und Tataren“, das 2004 bereits in dritter Auf­lage in dem bay­ri­schen, auf männ­liche Autoren spe­zia­li­sierten Lagrev Verlag her­aus­ge­kommen ist. Darin appel­liert der Autor Jörg Stein­leitner, der sich selbst mit dem Erzähler und Prot­ago­nisten gleich­setzt, der Leser möge sich auf Aben­teuer ein­stellen und sich dabei amüsieren.

Diese bestehen zunächst aus einer aus­führ­li­chen Auf­zäh­lung von Rei­se­vor­be­rei­tungen wie Imp­fungen und dem Visums­an­trag, die noch von Deutsch­land aus die „Exotik“ der bevor­ste­henden Reise umreißen. Ähn­lich auf­re­gend geht es weiter, wenn der „Beob­achter“ vor Ort in Sevas­topol’ sich erst nach meh­reren Tagen traut, ohne Beglei­tung auf die Straße zu gehen. Die Aben­teuer, mit dem der Mün­chener Rechts­an­walt, der keine ost­eu­ro­päi­sche Sprache spricht, jeden Tag kämpft, sind Gestank, Hunger und buch­stäb­li­cher Appetit auf Frauen.

Aus den Rat­schlägen an den poten­ti­ellen Ukraine-Urlauber lässt sich ableiten, dass man nicht nur Salz, Pfeffer, Seife und Kaker­la­ken­spray bei sich haben müsste, son­dern auch Angst vor den Stadt­be­woh­nern, die er durchweg „Ein­ge­bo­rene“ – ohne Anfüh­rungs­zei­chen – nennt. Sie spre­chen meis­tens Rus­sisch, stellen Fragen, sind arm und haben ihre eigene Büro­kratie, womit sie nur im letzten Punkt eine Gemein­sam­keit mit der Lebens­welt des Autors haben.

Begleitet von einer „ziem­lich para­no­iden Ein­stel­lung“ gegen­über dem Essen, ver­legt er sich aus „Des­in­fek­ti­ons­gründen“ (!) auf das Trinken. Der Ver­fol­gungs­wahn gip­felt nebenbei in der Neu­auf­lage einer Sacher-Masoch-Fan­tasie auf dem Lebens­mit­tel­markt: „Ich werde nackt, nur bekleidet mit einem Damen-Calvin-Klein-T-String aus Nylon bar­fuss durch die Fleisch­halle gepeitscht.“

Mit Leich­tig­keit, die leicht mit Bana­lität und Selbst­ver­liebt­heit ver­wech­selt werden kann, prä­sen­tiert der Text eine Per­p­etu­ie­rung zweier tra­di­tio­neller Krim-Kli­schees: die Ori­en­ta­li­sie­rung, die sich in dem Begehren der Bewoh­ne­rinnen wie­der­holt, und der abwer­tenden Sicht­weise eines ver­meint­lich zivi­li­sierten Betrach­ters auf eine rück­stän­dige, „stin­kende“ Gegend.

Größtes Aben­teuer ist dem­nach der Anblick der im Gegen­satz zu deut­schen Femi­nis­tinnen gepflegten und im Gegen­satz zu ihren äußer­lich absto­ßenden und faulen rus­si­schen Män­nern gut rie­chenden Frauen in kurzen Röcken. Im 18. und 19. Jahr­hun­dert waren es die tata­ri­schen Frauen, die die Fan­ta­sien west­eu­ro­päi­scher und rus­si­scher Rei­sender auf Grund ihres reli­giös vor­ge­schrie­benen Schleiers geweckt haben.

Auch wenn das zen­trale Schwarz-Weiß-Ver­fahren den Text tri­vial macht, ist ihm eine gewisse unfrei­wil­lige Ambi­va­lenz eigen, die häufig bei der Wahr­neh­mung der Krim auf­taucht: Die Land­schaft wird als schön­ge­dacht, aber die Begeg­nung mit ihr und den Men­schen als fremd erlebt – in diesem Fall als ein exo­ti­scher und ero­ti­scher, aber durch und durch anti-baye­ri­scher (Un-)Ort.

 

„Goten­land“

Auch wenn zu dem unre­flek­tierten Rei­se­be­richt des Frei­zeit­schrift­stel­lers keine beab­sich­tigte inter­tex­tu­elle Par­al­lele vor­liegt, hat die Ver­ein­nah­mung der Krim sei­tens deut­scher „Kul­tur­träger“ eine poli­ti­sche Tra­di­tion, die retro­spektiv nicht nur wegen ihrer ver­hin­derten Rea­li­sie­rung, son­dern wegen ihrer absurden, die Maß­stäbe ver­schie­benden Rea­li­täts­kon­struk­tion wie eine ima­gi­nierte gelesen werden kann. Nor­bert Kunz rekon­stru­iert die Pla­nung und die Umset­zung dieser men­talen und mili­tä­ri­schen Aneig­nung der Krim in seiner umfang­rei­chen und dif­fe­ren­zierten Dis­ser­ta­tion Die Krim unter deut­scher Herr­schaft (1941–1944). Eine Ger­ma­ni­sie­rungs­utopie und Besat­zungs­rea­lität. Bemer­kens­wert für die kriegs­his­to­ri­sche Arbeit ist die Viel­sei­tig­keit der ver­wen­deten Quellen, unter denen auch einige mit fik­tio­nalem Cha­rakter zu finden sind.

Die Unter­su­chung führt plas­tisch vor Augen, worauf sich die Moti­va­tionen und Ansprüche des Deut­schen Reichs gestützt  haben und lässt damit einmal mehr staunen, wie will­kür­lich Geschichte geplant und gemacht wird. Neben der Lage (Nähe zum Bünd­nis­partner und Öllie­fe­ranten Rumä­nien, geo­stra­te­gi­sches Zen­trum der Schwarz­meer­re­gion) und der Beschaf­fen­heit (güns­tige Schiff- und Flug­zeug­häfen), die die Krim in Hit­lers Augen zum ‚Flug­zeug­mut­ter­schiff‘ machte, hat letzt­lich eine zweck­ge­rich­tete his­to­ri­sche Fan­tasie zu einem mili­tä­risch nütz­li­chen Krim-Mythos im 3. Reich bei­getragen. Alfred Rosen­berg, der 1917 auf der Krim mit seiner Frau zur Kur war und begeis­tert von den Goten­höhlen von Mangup Kale und anderen land­schaft­li­chen Spuren der Ver­gan­gen­heit zurück­ge­kehrt ist, lie­ferte die Vor­lage für die Aus­deh­nung von Hit­lers Fas­zi­na­tion für ein ‚Groß­go­ti­sches Reich‘ im ost­eu­ro­päi­schen Raum.

Kunz zeigt, dass die deut­schen Aspi­ra­tionen auf die Krim bereits im aus­ge­henden 19. Jahr­hun­dert vor­handen waren. Das Schlag­wort von der „deut­schen Riviera am Schwarzen Meer“ war im 1. Welt­krieg bereits ver­breitet. Neben der Ansied­lung von Tiroler Wehr­bauern gehörte die Ver­le­gung einer Auto­bahn dorthin zu Hit­lers Plänen. Am Bei­spiel von Autoren wie Alfred Eduard Frau­en­feld und Georg Kutzke ver­an­schau­licht Nor­bert Kunz, wie das viru­lente natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Krim­go­ten­bild in lite­r­a­ri­sierten Geschichts­dar­stel­lungen ver­dichtet und unter­mauert wurde. Ein­zelne Motive aus­wäh­lend und in einen neuen Zusam­men­hang ein­ord­nend, bün­delte Frau­en­feld sie für das poli­ti­sche Ziel, eine weit in die Ver­gan­gen­heit rei­chende und beinah kon­ti­nu­ier­liche ger­ma­ni­sche Sied­lungs­ge­schichte auf der Krim zu eta­blieren. Neben der „Romantik und dem Zauber des Geheimnis umwit­terten Krim­goten“ betonte er die Ähn­lich­keit der Krim­goten zu den Nie­der­deut­schen und meinte, „Goten­blut“ in den Berg­ta­taren zu erkennen. Ihre Nähe zu den reichs­deut­schen „Stam­mes­brü­dern“ äußere sich in ihrer Intel­li­genz, ihrer Sym­pa­thie für die Deut­schen sowie ihrem Äußeren, ihren sau­beren Häu­sern und ihrem Fleiß. Auch die Schrift „Alt­eu­ropa am Dnjepr“ von Kutzke hebt auf ver­meint­liche ras­si­sche Ähn­lich­keiten zwi­schen Deut­schen und Krim­be­woh­nern ab, wobei er sich auf Herodot stützt, der im 5. Jh. v. Chr. die blonden Haare und blauen Augen einiger Männer auf der Krim erwähnt hatte.

Die Span­nung, die die Arbeit von Nor­bert Kunz in ihrer chro­no­lo­gisch bis zum Ende der deut­schen Herr­schaft auf der Krim ange­ord­neten Fak­ten­fülle ent­faltet, wirkt wie ein Blick auf die Geschichte des 2. Welt­krieges vom süd­öst­li­chen Rand­platz aus, von wo der Gesamt­zu­sam­men­hang des „Gene­ral­plans Ost“ in ver­fremdet-neuer Weise noch gro­tesker als gewohnt erscheint. Die Instru­men­ta­li­sie­rung der Krim „als poten­ti­elle Expe­ri­men­tier­stube deut­scher Volks­tums­po­litik“ (Kunz) ist in all ihrer kata­stro­phalen Aus­wir­kung dargestellt.

 

Die rus­si­sche Tauris

Bei der gotisch-deut­schen Sied­lungs­kon­ti­nuität greift die Legi­ti­ma­tion der deut­schen Kolo­ni­sa­ti­ons­pläne in den rus­si­schen Dis­kurs der Kri­m­an­eig­nung hinein, wenn sie sich auf die Süd­deut­schen beruft, die Katha­rina II. im 19. Jahr­hun­dert auf der Krim ange­sie­delt hat. Eine Ein­ver­lei­bungs­stra­tegie Katha­rinas wie­derum ist die topo­gra­phi­sche Umbe­nen­nung mit gelenkter Semantik, wie sie durch die geplante Umtaufe der Halb­insel in „Gotengau“ und ein­zelner Städte, wie zum Bei­spiel Sevastopol’s in „Teo­de­rich­hafen“, vorher exis­tiert hatte.
Durch die Inklu­sion des antiken Erbes stellte Russ­land seine Euro­päi­zität unter Beweis: Wie die tata­ri­sche „Kirim“ nach der Erobe­rung unter Katha­rina II. zur „Tauris“ wurde, und damit von der süd­li­chen Peri­pherie in das Zen­trum der rus­si­schen kul­tu­rellen Selbst­de­fi­ni­tion gerückt ist, ana­ly­siert Kerstin S. Jobst in ihrer Habi­li­ta­ti­ons­schrift Die Perle des Impe­riums. Der rus­si­sche Krim-Dis­kurs im Zaren­reich, die 2007 in dem Nach­fol­ge­un­ter­nehmen des Kon­stanzer Uni­ver­si­täts­ver­lags erschienen ist.

Die Autorin grenzt sich von der übli­chen geschichts­wis­sen­schaft­li­chen Praxis ab und stützt sich nicht nur teil­weise – wie Nor­bert Kunz – auf fik­tio­nale Quellen. Rei­se­be­schrei­bungen der Krim bilden neben der dis­kur­siven Ana­lyse von Zeit­schriften wie dem Russkij ves­tnik und Sov­re­mennik und lite­ra­ri­schen Quellen ihren zen­tralen Unter­su­chungs­ge­gen­stand. Auch wenn der Bezug zur Dis­kurs­ana­lyse relativ frag­men­ta­risch bleibt und die Begriff­lich­keit der Post­co­lo­nial stu­dies domi­niert, ver­an­schau­licht die Autorin ihre These schlüssig von der ersten bis zur letzten Seite: Die Kon­struk­tion eines linearen rus­sisch-sla­wi­schen Geschichts­bildes blende aus, dass „die Krim schon immer Durch­zugs­ge­biet vieler Völ­ker­schaften war und sich jedem exklu­siven natio­nalen Besitz­an­spruch ent­zieht, denn u. a. bevöl­kerten Kim­me­rier, Sky­then, Grie­chen, Ost­goten, Cha­zaren, Genueser und Vene­zianer sowie Turko-Tataren diese Halb­insel.“ (Jobst, 16f.) Die „Rus­sisch­ma­chung“ der Krim, die die Ver­fas­serin auch „osvoenie“ (Aneig­nung) nennt, trägt kolo­niale Züge, beson­ders durch die in den Rei­se­be­schrei­bungen und lite­ra­ri­schen Ver­ar­bei­tungen auf­tau­chenden Topoi. Bei dieser Gele­gen­heit weist sie selbst­kri­tisch darauf hin, dass Geschichts­wis­sen­schaften auch Legi­ti­ma­ti­ons­wis­sen­schaften für jewei­lige ideo­lo­gi­sche Stand­punkte seien. Ergän­zend könnte man dies eben­falls für lite­ra­ri­sche Text behaupten, in denen die Krim unter  Anwen­dung des roman­ti­schen Ori­en­ta­lismus zu einem impe­rialen Ergän­zungs­raum der Fan­tasie wurde.

Ergänzt werden Peters­burg und Moskau – zwei Metro­polen, von wo aus die Kon­zep­tion der Krim als dem ande­renOrt vor­ge­nommen wurde, was eine der wenigen Über­schnei­dungen von Kerstin S. Jobst mit den Ergeb­nissen von Alek­sandr P. Ljusyj ist. Der Wis­sen­schaftler und Publi­zist hat seit seiner Dis­ser­ta­tion 2003 mit dem Titel Der Krim-Text in der rus­si­schen Kultur und das Pro­blem des mytho­lo­gi­schen Kon­texts (Krymskij tekst russkoj kul’tury i pro­blema mifo­lo­gičes­kogo kon­teksta) an der Rus­si­schen Staat­li­chen Geis­tes­wis­sen­schaft­li­chen Uni­ver­sität (RGGU) in meh­reren Publi­ka­tionen dieses Thema weiter ver­ar­beitet. Unter ihnen fällt das eben­falls 2007 in Moskau im Verlag Russkij impul’s mit Mit­teln des Pro­gramms zur För­de­rung der rus­si­schen Kultur erschie­nene Buch Das Erbe der Krim (Nas­ledie Kryma) als beson­ders kon­trast­reich zu Kerstin S. Jobsts Studie auf.

 

Ohne dass die kul­tur­wis­sen­schaft­lich vor­ge­hende Pots­damer His­to­ri­kerin und der Mos­kauer Kul­turo­loge ihre gegen­sei­tige Arbeit kennen würden, haben sie eine ähn­liche Aus­gangs­these: Die Krim ist wegen ihres dichten Sym­bol­ge­halts ein Bestand­teil der rus­si­schen Kul­tur­ge­schichte und natio­naler Selbst­de­fi­ni­tion. Doch obwohl sich beide anhand von fik­tio­nalen Quellen wie Rei­se­be­richten und lite­ra­ri­schen Texten mit der Ent­ste­hung dieser Sym­bol­träch­tig­keit beschäf­tigen, kommen die Wis­sen­schaftler zu frap­pie­rend unter­schied­li­chen Ergeb­nissen. Wäh­rend die Pro­jek­tion des Krim-Textes bei A. P. Ljusyj die Halb­insel dis­kursiv aus­schließ­lich an die rus­si­schen Metro­polen bindet, löst K. S. Jobst die Tauris ein Stück weit aus der Selbst­ver­ständ­lich­keit ihrer Ver­ein­nah­mung für das rus­si­sche Natio­nal­be­wusst­sein heraus. Bei ihr  kann die Krim nur dadurch eine „Perle des Impe­riums“ sein, weil sie als Gegen­teil und zum Teil Über­hö­hung der nörd­li­chen rus­si­schen Metro­polen ver­standen wird, vor allem aber als eine künst­lich in Szene gesetzte Vor­zei­ge­vi­trine eines aggressiv-impe­rialen rus­si­schen Rei­ches. A. P. Ljusyj hin­gegen wie­der­holt ein wei­teres Mal, dass diese Region künst­le­risch inspi­rie­rend wirkt und scheint ihr selbst auch zu erliegen, da er seine bereits vorher publi­zierten Texte kapi­tel­weise repro­du­ziert.  Auf Grund der großen über bzw. auf der Krim ent­stan­denen Menge an rus­sisch­spra­chigen Texten stellt er die Halb­insel lite­r­ar­his­to­risch, aber auch im Sinne einer Natio­nal­me­ta­phorik gleich­rangig neben Beschrei­bungen über Peters­burg und Moskau.

Als eine der ins kol­lek­tive Bewusst­sein ein­schnei­denden Mar­kie­rungen betrachtet A. P. Ljusyj neben A. S. Puškins Gedichten und vielen kurz anzi­tierten Texten die Sevas­to­poler Erzäh­lungen (Sevastopol’skie rass­kazy) Lev Tol­s­tojs und führt die Heroi­sie­rung der „Hel­den­stadt“ indi­rekt selbst fort. Auf Grund der Ent­äs­the­ti­sie­rung des Krim-Krieges (1853–56) in den rea­lis­tisch-scho­nungs­losen Erzäh­lungen, der hohen Opfer­zahl auf rus­si­scher Seite und des langen Wider­standes wäh­rend der Bela­ge­rung wurde Sevas­topol’ zu einem der wich­tigsten Erin­ne­rungs­orte an diesen und den Zweiten Welt­krieg, an das Leiden der Men­schen und natio­nales Hel­dentum. Bei K. S. Jobst wird der Ein­gang Sevas­to­pols in den rus­si­schen Krim-Dis­kurs als eine Natio­na­lis­mus­praktik geschil­dert, die gegen­über tata­ri­schen und ukrai­ni­schen Ansprü­chen noch heute nachwirkt.

Einen inter­es­santen Anstoß wirft A. P. Ljusyj in der Menge seiner mal mit theo­re­ti­schem, mal mit per­sön­li­chem Anspruch ver­se­henen Asso­zia­tionen auf, wenn er noch vor Puškin einen Autor aus­macht, den er zum „Kolumbus“ der lyri­schen Krim­ver­ar­bei­tung ernennt: Semėn Bobrov mit Gedichten wie Antike Nacht des Welt­alls (Drevn­jaja noč Vse­lennoj) und Tauris (Tavrida). Damit kon­ter­ka­riert A. P. Ljusyj seine eigene These von der aus­schließ­lich rus­si­schen kul­tu­rellen Ein­schrei­bung der Krim, denn Bobrov hat sich an den Formen der eng­li­schen Beschrei­bungs­lyrik orientiert.

Um ein Resümee aus beiden Stu­dien zu ziehen, hilft der Blick auf eine der ersten berühmten Rei­se­be­schrei­bungen. Die Krim als „lieb­li­cher Ort“ wurde bereits Ende des 18. Jahr­hun­derts von Lady Eliza­beth Craven geprägt und zieht sich in diversen Varia­tionen bis in die Gegen­wart. Die Eng­län­derin, deren Reise kurz vor der Katha­rinas in Beglei­tung aus­län­di­scher Gesandter – sozu­sagen als Gene­ral­probe – statt­fand, nahm die Insze­nie­rung des Wohl­stands auf der Krim von Gri­gorij Potemkin und die Bevor­zu­gung grie­chi­scher Toponyme von Katha­rina der Großen als real hin, meinte sie doch sogar in den Russen selbst wegen ihrer intel­lek­tu­ellen Fähig­keiten „grie­chi­sche Merk­male“ zu erkennen. Sie anti­zi­pierte die nach­fol­gende rus­si­sche und euro­päi­sche Krim­vor­stel­lung durch ihre empa­thi­sche und dabei fle­xible Interpretation.

Über­spitzt gesagt finden sich bei Lady Craven die Posi­tionen sowohl von A. P. Ljusyj als auch von K. S. Jobst: Zunächst die pathe­tisch aus­ge­drückte Bewun­de­rung für die Land­schaft und die in ihr bzw. ihren Häfen imple­men­tierte (mili­tä­ri­sche) Stärke Russ­lands, gleich­zeitig aber auch Kritik an einer rein rus­si­schen Nut­zung des Landes, die wie­derum eigenen kolo­nialen Vor­stel­lungen ent­springt. Die grüne Land­schaft zwi­schen Perekop und dem Küs­ten­ge­birge sei wie in Eng­land – was liege da näher, als „ehr­liche eng­li­sche Fami­lien“ in diesem Land anzu­sie­deln, damit sie Manu­fak­turen errichten und Handel treiben? (Craven 1780)

Cra­vens Vision wurde von Vasilij Askenov fast genau 200 Jahre später im Roman Ostrov Krym auf­ge­griffen, wo die Halb­insel ein west­eu­ro­pä­isch geprägtes Auto­no­mie­ge­biet und der kul­tu­relle Anti­pode zur Sowjet­union ist, weil sie wirt­schaft­lich stabil, inter­na­tional, süd­lich und lebens­wert ist. Mit Ascherson wurde eben­diese Schön­heit, die eine Flut von lob­prei­senden Abbil­dungs­ver­su­chen aus­ge­löst hat, der Krim zum Ver­hängnis, da sie bei vielen Mächten ein „fast sexu­elles Besitz­ver­langen“ aus­ge­löst hat. Bleibt zu hoffen, dass es künftig nur im tex­tu­ellen Raum nach Erfül­lung strebt.

 

Craven, Lady Eliza­beth: A Journey through the Crimea to Con­stan­ti­nople. Wien 1880.

Jobst, Kerstin S.: Die Perle des Impe­riums. Der rus­si­sche Krim-Dis­kurs im Zaren­reich. UVK Gesell­schaft mbH. Kon­stanz 2007.

Kunz, Nor­bert: Die Krim unter deut­scher Herr­schaft (1941–1944). Eine Ger­ma­ni­sie­rungs­utopie und Besat­zungs­rea­lität. Wis­sen­schaft­liche Buch­ge­sell­schaft. Darm­stadt 2005.

Larry Wolff: Inven­ting Eas­tern Europe: The Map of Civi­liza­tion on the Mind of the Enligh­ten­ment. Stan­ford 1994.

Ljusyj, Alek­sandr P.: Nas­ledie Kryma. Russkij impul’s. Moskau 2007.

Stein­leitner, Jörg: „Sewas­topol Sekond Hend“. Unsach­liche Beob­ach­tungen an hoch­ha­ckigen Stak­s­el­frauen, Wodka und Tataren. Lagrev-Verlag ³. Mün­chen und Bruch­mühl 2004.